"Heimspiele": Großer Mann für kleine Träume

Vor dem mit Spannung erwarteten Achtelfinale der Mannschaft in Wembley kommen viele Erinnerungen an den die EURO 1996 wieder hoch. Für das Magazin "HEIMSPIELE" der DFB-Kulturstiftung hat der in Berlin lebende britische Autor Jacob Sweetman schon vor der EURO einen fußball- und popkulturellen Blick zurück auf das Jahr 1996 geworfen und eine Geschichte über einen besonderen Song zur EURO 1996, über Humor, britischen Nationalismus - und den Brexit geschrieben. Sein Text "Ein großer Mann für kleine Träume" ist Teil des EURO-Magazins "HEIMSPIELE",  in dem Autorinnen und Autoren, Fotografen und Illustratoren aus elf europäischen Ländern auf 144 werbefreien Seiten einen Blick auf die fußballkulturellen, gesellschaftlichen und politischen Themen des Turniers werfen.

Mit einer einzigen Berührung hebt er den Ball über den Kopf seines Gegenspielers. Er läuft an ihm vorbei und dann schaut Paul "Gazza" Gascoigne, ein dilettantisches Genie mit flachsblonden Haaren, wie der Ball ihm vor die Füße fällt. Kurz bevor der Ball den Rasen berührt, nimmt er ihn direkt aus der Luft und schießt hart, gerade, flach. Es ist ein Tor voller Selbstsicherheit, ein Meisterwerk der Improvisation und des Witzes. Am Ende schlägt England Schottland bei der EM 1996 mit 2:0.

Nach dem Schlusspfiff erklingen im Wembley die ''Three Lions'' von The Lightning Seeds, das Lied dieser Europameisterschaft. Es ist perfekt komponierter Gitarren-Pop, der - genau wie Gazza - schmerzhafte Nostalgie, gelegentlich aufblitzende Brillanz und damit verbundene rüpelhafte Prahlerei verkörpert.

Rasante Veränderungen

Zu dieser Zeit, also 1996, ist London das popkulturelle Nonplusultra. Die britische Kapitale avanciert zur Stadt von Kate Moss, Damien Hirst und Tony Blair, dem jugendlich wirkenden Politiker, der gerade dabei ist, die fast 30 Jahre andauernde Herrschaft der Konservativen zu beenden. Zur Europameisterschaft ist  London von Flaggen übersät wie vorher nur bei der Krönungsmesse der Queen 1953. Von Noel Gallagher über Geri Halliwell tragen Popstars die Nationalflagge vor sich her oder um ihre Schultern. Der lange verpönte "Union Jack" wird Kult.

Nicht nur das Land hatte sich damals rasant verändert, sondern auch der Fußball. Es schien so, als ginge es endlich aufwärts. Nach der Hillsborough-Katastrophe mit fast 100 Toten im Jahr 1989, die das Fass zum Überlaufen brachte, wurden die Arenen modernisiert, Sitzplätze ersetzten Stehränge. Die damit einhergehende Verteuerung der Tickets und die Gründung der Premier League führten zu einem deutlichen Rückgang von Gewalt in den Stadien. Es kamen mehr Frauen und Kinder - es ging der Rassismus. Zumindest der offensichtliche.

"Wollten in den Charts landen, um verboten zu werden"

Auf den Tribünen des alten Wembley stehen beim 2:0 gegen Schottland, als Gazza sein legendäres Tor erzielt, einige Musiker um Andrew Innes von Primal Scream sowie der Produzent Adrian Sherwood. Neben ihnen wankt Irvine Welsh, die literarische Erfolgsgeschichte des Jahrzehnts. Und obwohl sowohl Welsh als auch die Bandmitglieder von Primal Scream Schotten sind, erinnert sich Welsh später gern an diesen Tag, vor allem an seine Trinkkumpanen, dieses "schottisch-englische Konglomerat, eine verrückte, kleine Schar".

Produzent Sherwood hat lange keine Hits gelandet. "Ich hätte einen Hit nicht erkannt, selbst wenn er mich direkt angesprungen hätte", sagt er später selbst. Als Großbritanniens größter Dub-Produzent und Chef einer kleinen Plattenfirma bestreitet er seine Karriere mit Außenseitern. Für die Europameisterschaft 1996 haben er, Primal Scream und Literat Welsh schon vor dem Spiel England gegen Schottland eine "Guerilla-Platte" aufgenommen, lustig, dunkel und wild, die dem Fußball viel näher kommt, als jede andere Platte ihrer Zeit. Sie heißt "The Big Man and the Scream Team Meet the Barmy Army Uptown". Gitarrist Andrew Innes behauptet heute, und das nur halb im Scherz, dass sich seine Band nur auf das Lied eingelassen hat, um an Tickets für die Partie im Wembley zu kommen. Aber das Ziel ist noch punkiger, noch mehr gegen den sonst so glatten Strich der Popindustrie gebürstet. "Wir wollten in den Charts landen, um verboten zu werden", sagt Welsh. "Das war unsere Absicht."

Am Tag nach dem Spiel steigt "The Big Man" auf Platz 17 in die Charts ein, auf Platz eins landen die "Three Lions".

"So viel Spaß wie sonst nie in ihrem Leben"

Adrian Sherwood hatte Anfang der 1980er-Jahre begonnen, Spiele von West Ham United im Upton Park zu besuchen. Dort ging es immer noch rau zu, aber etwas zivilisierter als zuvor. Auch Welsh kannte den Upton Park schon lange, bevor er berühmt wurde. Er begann hinzugehen, als der Punkrock gerade aufkam. Es erinnerte ihn fast an die Easter Road, sein Zuhause bei den Hibernians in seiner Heimatstadt Edinburgh. "Dort herrschte die gleiche Atmosphäre... Die Leute haben sich nur gegenseitig verarscht und so viel Spaß gehabt wie sonst nie in ihrem Leben."

Zugleich änderte sich das Leben vor allem junger Menschen rasant. Ecstasy und Acid House, eine Droge und ein Musikstil, nicht zufällig auch beides Buchtitel von Welsh, boten den Kindern der Arbeiterklasse eine Alternative zu einem Wochenende voller blutiger Nasen. Fußball war nicht mehr konkurrenzlos. Sherwood bekam da gerade das Angebot, "World in Motion", die äußerst erfolgreiche Single von New Order, für die Weltmeisterschaft in Italien 1990 zu produzieren. Er lehnte ab. Er hatte andere Pläne.

Dabei waren New Order nicht die Einzigen, die ihr Auge auf Sherwood geworfen hatten. Primal Scream, Schöpfer der damals ultimativen Crossover-Platte "Screamadelica", hatten nur nach einer Ausrede gesucht, um mit ihm zusammenzuarbeiten. Die Europameisterschaft von 1996 bot endlich eine Gelegenheit.

Die Musiker drängten sich in Sherwoods Studio. Welshs Sprechpart war bereits in Edinburgh aufgenommen worden, um später über die Aufnahmen gelegt zu werden.

Welshs Welle unflätiger Inspiration

Welshs Aufgabe war es, etwas aus seinen Untiefen hervorzuwühlen. Etwas Lustiges, etwas, um die Leute aufzuziehen. Etwas darüber, wie Fußball wirklich ist. Es ist nicht ganz einfach, das auf Knopfdruck zu schaffen, aber während der Aufnahmen tauchte ein Freund von ihm im Trikot der Glasgow Rangers auf und wollte es anscheinend nicht anders - und so ergoss sich eine Welle unflätiger Inspiration aus Welshs Mund. Protestantische, Union-Jack-schwenkende Fans der Glasgow Rangers, waren in den Augen von Welsh genau das, was in Schottland schieflief.

Welsh haute also richtig einen raus. Er zog über Säufer her und er zog über die Engländer her. Aber am meisten richtete sich seine spielerische Wut gegen kahlköpfige, reaktionäre Rangers-Fans. Er überschüttete sie regelrecht mit Beleidigungen, die wie ein Schwarm Heuschrecken auf sie herabregneten. Dann erzählte er seine Version der lächerlichen und doch wahren Geschichte, wie er und ein Kumpel 1979 in Wembley bei einer anderen schottischen Niederlage gegen England dabei waren.

"Die Bullen haben uns unseren gesamten Alkohol abgenommen und uns dann in einen abgesperrten Bereich gepfercht. Wir waren zu betrunken, um ins Stadion zu dürfen, aber hier war alles voller beschlagnahmter Getränke und wir saßen einfach rum." Er lacht viel. Auf der Platte erinnert er auch an das schottische Transparent "Alkoholismus versus Kommunismus", das bei der Weltmeisterschaft 1982 während des Spiels gegen die Sowjetunion hochgehalten wurde.

"Ein herrlich dummer Spaß"

"Das passte einfach", sagt Innes über die Kollaboration für das Lied. Er ist Fan von Celtic Glasgow, also dem ewigen katholischen Rivalen der protestantischen Glasgow Rangers. "Es fügte sich, es war Bestimmung." Das Lied geriet hässlich und kämpferisch, aber Welsh besteht darauf, dass es nicht böse gemeint war. Es ging darum, die anderen aufzuziehen, ums Verarschen, also das, was den Kern ihrer Existenzen als Fußballfans ausmacht.

"Dieses Zeug, das Bill Shankly gesagt hat, dass 'Fußball mehr als eine Frage von Leben und Tod ist', das ist nur für Idioten", sagt Welsh. "Es ist vielleicht für eine Stunde vor und eine Stunde nach dem Spiel eine Frage von Leben und Tod, der Rest ist einfach ein herrlich dummer Spaß... wenn du das mit 20 nicht kapierst, bist du ein Idiot."

"Diese Platte ist beleidigend"

Welshs Worte auf der Platte klingen gelallt, die Lautstärke sinkt, wenn er über die unvermeidlichen schottischen Verluste jammert, aber man kann ihn auch über die Lächerlichkeit des Ganzen lachen hören. Sherwood hat an seiner Wand immer noch ein Poster von der Schallplattenhülle mit dem berühmten Bild schottischer Fans hängen, die 1977 in Wembley das Spielfeld stürmten und die Pfosten zerbrachen. Darunter steht: "800 Jahre, die Unterdrückung geht weiter..."

Am Ende erfüllte sich die ursprüngliche Hoffnung. "The Big Man" war die erste Platte, die von der UEFA verboten wurde - so erzählen es die Musiker -  und auf deren Vorderseite ein eindeutiger Aufkleber prangte: "Diese Platte ist beleidigend." Die BBC lehnte es fortan ab, den Song zu spielen.

Ein anderes Großbritannien

Genau 25 Jahre und drei Tage sind seit Paul Gascoignes Tor vergangen, als England bei der UEFA EURO 2020 erneut gegen Schottland gespielt hat. Aber diese Partie stieg in einem ganz anderen London, in einem anderen Großbritannien und einem anderen Europa. Das alte Wembley ist abgerissen und ersetzt worden. Arsenal spielt nicht mehr in Highbury, die Spurs nicht in der White Hart Lane und West Ham nicht in Upton Park.

Der Optimismus von 1996 erwies sich als Hirngespinst. Blair kam und ging. Die Konservativen sind seit mehr als einem Jahrzehnt wieder an der Macht und das Land ist so gespalten wie nie. Und dann hat auch noch der Brexit alles verändert.

Es droht in Vergessenheit zu geraten, dass die IRA am Morgen des Spiels England gegen Schottland 1996 in Manchester eine Bombe gezündet und mehr als 200 Menschen verletzt hat. Das Karfreitagsabkommen, das zwei Jahre später geschlossen wurde und den Nordirland-Konflikt befrieden sollte, ist heute durch neue Grenzen gefährdet. Rassismus nimmt wieder zu und ist im Fußball so sichtbar wie seit Jahren nicht mehr.

"Union Jack ist keine großartige Flagge"

Innes klingt heute reumütig. "Ich kenne viele Leute, die glauben, dass der Brexit seine Wurzeln in diesem Sommer '96 hatte. Als es vertretbar wurde, wieder ein englischer Nationalist zu sein. Das gab es im Fußball auch schon früher, aber dann wurde es plötzlich irgendwie... trendy." Die Verachtung in seiner Stimme ist hörbar. "Leute in einem bestimmten Alter, wie ich, kennen den Union Jack noch von der Nationalen Front. Es ist keine großartige Flagge, in die man sich hüllen sollte."

Literat Welsh stimmt zumindest teilweise zu. Die Schotten und Waliser hatten ihre eigene Identität und konnten sich in dieser ohne zu viele negative Untertöne behaupten. Die Engländer konnten das nicht, und das hat zu viel Leid geführt. Er sagt: "Es gab eine Art Kampf um Englands nationalistische Seele. Aber der wahre Schuldige sind 30 Jahre Neoliberalismus."

Gazza fiel nach seinem Tor in Wembley mit ausgestreckten Armen auf den Rücken, seine Teamkollegen sprühten ihre Getränke in seinen Mund. So stellten sie den "Zahnarztstuhl" nach, der berühmt geworden war, als die englischen Spieler auf so einem Stuhl vor einem Turnier in einem Nachtclub in Hongkong mit Hochprozentigem und in zerrissenen Hemden genau das getan hatten. Was folgte, war die reichlich geheuchelte Wut des Boulevards. Der Daily Mirror druckte am Tag nach dem Schottland-Spiel und Gazzas Tor eine Entschuldigung, aber Gazza war das ziemlich egal.

Er wusste, dass es nicht um Leben oder Tod ging. Es war ein Witz. Wie es auch "The Big Man" mit einem Augenzwinkern sagt.

"The Big Man"

"The mystery of Scottish sport
Is why we hate the English so.
I love the English very much
As long as they don't beat us
In the European Nations Cup".

"Das Rätsel schottischen Sports
Ist, warum wir die Engländer so hassen.
Ich liebe die Engländer sehr
Solange sie uns nicht
Bei der Europameisterschaft schlagen".

 

Das EURO-Magazin "HEIMSPIELE. Reiseführer durch die europäische Fußballkultur 2021" wurde redaktionell umgesetzt vom Journalisten-Netzwerk n-ost. Kooperationspartner ist die Bundeszentrale für politische Bildung. Die englischsprachige Ausgabe erscheint unter dem Titel: "Home Games. Passing through European football culture in 2021". Beide Ausgaben können über den Shop der Bundeszentrale für politische Bildung bestellt werden (so lange der Vorrat reicht). Die bpb erhebt eine Bereitstellungspauschale in Höhe von 1,50 Euro. Den Bestelllink, ausführliche Leseproben und weitere Informationen gibt es auch auf der offiziellen Webseite der Publikation.

[dfb]

Vor dem mit Spannung erwarteten Achtelfinale der Mannschaft in Wembley kommen viele Erinnerungen an den die EURO 1996 wieder hoch. Für das Magazin "HEIMSPIELE" der DFB-Kulturstiftung hat der in Berlin lebende britische Autor Jacob Sweetman schon vor der EURO einen fußball- und popkulturellen Blick zurück auf das Jahr 1996 geworfen und eine Geschichte über einen besonderen Song zur EURO 1996, über Humor, britischen Nationalismus - und den Brexit geschrieben. Sein Text "Ein großer Mann für kleine Träume" ist Teil des EURO-Magazins "HEIMSPIELE",  in dem Autorinnen und Autoren, Fotografen und Illustratoren aus elf europäischen Ländern auf 144 werbefreien Seiten einen Blick auf die fußballkulturellen, gesellschaftlichen und politischen Themen des Turniers werfen.

Mit einer einzigen Berührung hebt er den Ball über den Kopf seines Gegenspielers. Er läuft an ihm vorbei und dann schaut Paul "Gazza" Gascoigne, ein dilettantisches Genie mit flachsblonden Haaren, wie der Ball ihm vor die Füße fällt. Kurz bevor der Ball den Rasen berührt, nimmt er ihn direkt aus der Luft und schießt hart, gerade, flach. Es ist ein Tor voller Selbstsicherheit, ein Meisterwerk der Improvisation und des Witzes. Am Ende schlägt England Schottland bei der EM 1996 mit 2:0.

Nach dem Schlusspfiff erklingen im Wembley die ''Three Lions'' von The Lightning Seeds, das Lied dieser Europameisterschaft. Es ist perfekt komponierter Gitarren-Pop, der - genau wie Gazza - schmerzhafte Nostalgie, gelegentlich aufblitzende Brillanz und damit verbundene rüpelhafte Prahlerei verkörpert.

Rasante Veränderungen

Zu dieser Zeit, also 1996, ist London das popkulturelle Nonplusultra. Die britische Kapitale avanciert zur Stadt von Kate Moss, Damien Hirst und Tony Blair, dem jugendlich wirkenden Politiker, der gerade dabei ist, die fast 30 Jahre andauernde Herrschaft der Konservativen zu beenden. Zur Europameisterschaft ist  London von Flaggen übersät wie vorher nur bei der Krönungsmesse der Queen 1953. Von Noel Gallagher über Geri Halliwell tragen Popstars die Nationalflagge vor sich her oder um ihre Schultern. Der lange verpönte "Union Jack" wird Kult.

Nicht nur das Land hatte sich damals rasant verändert, sondern auch der Fußball. Es schien so, als ginge es endlich aufwärts. Nach der Hillsborough-Katastrophe mit fast 100 Toten im Jahr 1989, die das Fass zum Überlaufen brachte, wurden die Arenen modernisiert, Sitzplätze ersetzten Stehränge. Die damit einhergehende Verteuerung der Tickets und die Gründung der Premier League führten zu einem deutlichen Rückgang von Gewalt in den Stadien. Es kamen mehr Frauen und Kinder - es ging der Rassismus. Zumindest der offensichtliche.

"Wollten in den Charts landen, um verboten zu werden"

Auf den Tribünen des alten Wembley stehen beim 2:0 gegen Schottland, als Gazza sein legendäres Tor erzielt, einige Musiker um Andrew Innes von Primal Scream sowie der Produzent Adrian Sherwood. Neben ihnen wankt Irvine Welsh, die literarische Erfolgsgeschichte des Jahrzehnts. Und obwohl sowohl Welsh als auch die Bandmitglieder von Primal Scream Schotten sind, erinnert sich Welsh später gern an diesen Tag, vor allem an seine Trinkkumpanen, dieses "schottisch-englische Konglomerat, eine verrückte, kleine Schar".

Produzent Sherwood hat lange keine Hits gelandet. "Ich hätte einen Hit nicht erkannt, selbst wenn er mich direkt angesprungen hätte", sagt er später selbst. Als Großbritanniens größter Dub-Produzent und Chef einer kleinen Plattenfirma bestreitet er seine Karriere mit Außenseitern. Für die Europameisterschaft 1996 haben er, Primal Scream und Literat Welsh schon vor dem Spiel England gegen Schottland eine "Guerilla-Platte" aufgenommen, lustig, dunkel und wild, die dem Fußball viel näher kommt, als jede andere Platte ihrer Zeit. Sie heißt "The Big Man and the Scream Team Meet the Barmy Army Uptown". Gitarrist Andrew Innes behauptet heute, und das nur halb im Scherz, dass sich seine Band nur auf das Lied eingelassen hat, um an Tickets für die Partie im Wembley zu kommen. Aber das Ziel ist noch punkiger, noch mehr gegen den sonst so glatten Strich der Popindustrie gebürstet. "Wir wollten in den Charts landen, um verboten zu werden", sagt Welsh. "Das war unsere Absicht."

Am Tag nach dem Spiel steigt "The Big Man" auf Platz 17 in die Charts ein, auf Platz eins landen die "Three Lions".

"So viel Spaß wie sonst nie in ihrem Leben"

Adrian Sherwood hatte Anfang der 1980er-Jahre begonnen, Spiele von West Ham United im Upton Park zu besuchen. Dort ging es immer noch rau zu, aber etwas zivilisierter als zuvor. Auch Welsh kannte den Upton Park schon lange, bevor er berühmt wurde. Er begann hinzugehen, als der Punkrock gerade aufkam. Es erinnerte ihn fast an die Easter Road, sein Zuhause bei den Hibernians in seiner Heimatstadt Edinburgh. "Dort herrschte die gleiche Atmosphäre... Die Leute haben sich nur gegenseitig verarscht und so viel Spaß gehabt wie sonst nie in ihrem Leben."

Zugleich änderte sich das Leben vor allem junger Menschen rasant. Ecstasy und Acid House, eine Droge und ein Musikstil, nicht zufällig auch beides Buchtitel von Welsh, boten den Kindern der Arbeiterklasse eine Alternative zu einem Wochenende voller blutiger Nasen. Fußball war nicht mehr konkurrenzlos. Sherwood bekam da gerade das Angebot, "World in Motion", die äußerst erfolgreiche Single von New Order, für die Weltmeisterschaft in Italien 1990 zu produzieren. Er lehnte ab. Er hatte andere Pläne.

Dabei waren New Order nicht die Einzigen, die ihr Auge auf Sherwood geworfen hatten. Primal Scream, Schöpfer der damals ultimativen Crossover-Platte "Screamadelica", hatten nur nach einer Ausrede gesucht, um mit ihm zusammenzuarbeiten. Die Europameisterschaft von 1996 bot endlich eine Gelegenheit.

Die Musiker drängten sich in Sherwoods Studio. Welshs Sprechpart war bereits in Edinburgh aufgenommen worden, um später über die Aufnahmen gelegt zu werden.

Welshs Welle unflätiger Inspiration

Welshs Aufgabe war es, etwas aus seinen Untiefen hervorzuwühlen. Etwas Lustiges, etwas, um die Leute aufzuziehen. Etwas darüber, wie Fußball wirklich ist. Es ist nicht ganz einfach, das auf Knopfdruck zu schaffen, aber während der Aufnahmen tauchte ein Freund von ihm im Trikot der Glasgow Rangers auf und wollte es anscheinend nicht anders - und so ergoss sich eine Welle unflätiger Inspiration aus Welshs Mund. Protestantische, Union-Jack-schwenkende Fans der Glasgow Rangers, waren in den Augen von Welsh genau das, was in Schottland schieflief.

Welsh haute also richtig einen raus. Er zog über Säufer her und er zog über die Engländer her. Aber am meisten richtete sich seine spielerische Wut gegen kahlköpfige, reaktionäre Rangers-Fans. Er überschüttete sie regelrecht mit Beleidigungen, die wie ein Schwarm Heuschrecken auf sie herabregneten. Dann erzählte er seine Version der lächerlichen und doch wahren Geschichte, wie er und ein Kumpel 1979 in Wembley bei einer anderen schottischen Niederlage gegen England dabei waren.

"Die Bullen haben uns unseren gesamten Alkohol abgenommen und uns dann in einen abgesperrten Bereich gepfercht. Wir waren zu betrunken, um ins Stadion zu dürfen, aber hier war alles voller beschlagnahmter Getränke und wir saßen einfach rum." Er lacht viel. Auf der Platte erinnert er auch an das schottische Transparent "Alkoholismus versus Kommunismus", das bei der Weltmeisterschaft 1982 während des Spiels gegen die Sowjetunion hochgehalten wurde.

"Ein herrlich dummer Spaß"

"Das passte einfach", sagt Innes über die Kollaboration für das Lied. Er ist Fan von Celtic Glasgow, also dem ewigen katholischen Rivalen der protestantischen Glasgow Rangers. "Es fügte sich, es war Bestimmung." Das Lied geriet hässlich und kämpferisch, aber Welsh besteht darauf, dass es nicht böse gemeint war. Es ging darum, die anderen aufzuziehen, ums Verarschen, also das, was den Kern ihrer Existenzen als Fußballfans ausmacht.

"Dieses Zeug, das Bill Shankly gesagt hat, dass 'Fußball mehr als eine Frage von Leben und Tod ist', das ist nur für Idioten", sagt Welsh. "Es ist vielleicht für eine Stunde vor und eine Stunde nach dem Spiel eine Frage von Leben und Tod, der Rest ist einfach ein herrlich dummer Spaß... wenn du das mit 20 nicht kapierst, bist du ein Idiot."

"Diese Platte ist beleidigend"

Welshs Worte auf der Platte klingen gelallt, die Lautstärke sinkt, wenn er über die unvermeidlichen schottischen Verluste jammert, aber man kann ihn auch über die Lächerlichkeit des Ganzen lachen hören. Sherwood hat an seiner Wand immer noch ein Poster von der Schallplattenhülle mit dem berühmten Bild schottischer Fans hängen, die 1977 in Wembley das Spielfeld stürmten und die Pfosten zerbrachen. Darunter steht: "800 Jahre, die Unterdrückung geht weiter..."

Am Ende erfüllte sich die ursprüngliche Hoffnung. "The Big Man" war die erste Platte, die von der UEFA verboten wurde - so erzählen es die Musiker -  und auf deren Vorderseite ein eindeutiger Aufkleber prangte: "Diese Platte ist beleidigend." Die BBC lehnte es fortan ab, den Song zu spielen.

Ein anderes Großbritannien

Genau 25 Jahre und drei Tage sind seit Paul Gascoignes Tor vergangen, als England bei der UEFA EURO 2020 erneut gegen Schottland gespielt hat. Aber diese Partie stieg in einem ganz anderen London, in einem anderen Großbritannien und einem anderen Europa. Das alte Wembley ist abgerissen und ersetzt worden. Arsenal spielt nicht mehr in Highbury, die Spurs nicht in der White Hart Lane und West Ham nicht in Upton Park.

Der Optimismus von 1996 erwies sich als Hirngespinst. Blair kam und ging. Die Konservativen sind seit mehr als einem Jahrzehnt wieder an der Macht und das Land ist so gespalten wie nie. Und dann hat auch noch der Brexit alles verändert.

Es droht in Vergessenheit zu geraten, dass die IRA am Morgen des Spiels England gegen Schottland 1996 in Manchester eine Bombe gezündet und mehr als 200 Menschen verletzt hat. Das Karfreitagsabkommen, das zwei Jahre später geschlossen wurde und den Nordirland-Konflikt befrieden sollte, ist heute durch neue Grenzen gefährdet. Rassismus nimmt wieder zu und ist im Fußball so sichtbar wie seit Jahren nicht mehr.

"Union Jack ist keine großartige Flagge"

Innes klingt heute reumütig. "Ich kenne viele Leute, die glauben, dass der Brexit seine Wurzeln in diesem Sommer '96 hatte. Als es vertretbar wurde, wieder ein englischer Nationalist zu sein. Das gab es im Fußball auch schon früher, aber dann wurde es plötzlich irgendwie... trendy." Die Verachtung in seiner Stimme ist hörbar. "Leute in einem bestimmten Alter, wie ich, kennen den Union Jack noch von der Nationalen Front. Es ist keine großartige Flagge, in die man sich hüllen sollte."

Literat Welsh stimmt zumindest teilweise zu. Die Schotten und Waliser hatten ihre eigene Identität und konnten sich in dieser ohne zu viele negative Untertöne behaupten. Die Engländer konnten das nicht, und das hat zu viel Leid geführt. Er sagt: "Es gab eine Art Kampf um Englands nationalistische Seele. Aber der wahre Schuldige sind 30 Jahre Neoliberalismus."

Gazza fiel nach seinem Tor in Wembley mit ausgestreckten Armen auf den Rücken, seine Teamkollegen sprühten ihre Getränke in seinen Mund. So stellten sie den "Zahnarztstuhl" nach, der berühmt geworden war, als die englischen Spieler auf so einem Stuhl vor einem Turnier in einem Nachtclub in Hongkong mit Hochprozentigem und in zerrissenen Hemden genau das getan hatten. Was folgte, war die reichlich geheuchelte Wut des Boulevards. Der Daily Mirror druckte am Tag nach dem Schottland-Spiel und Gazzas Tor eine Entschuldigung, aber Gazza war das ziemlich egal.

Er wusste, dass es nicht um Leben oder Tod ging. Es war ein Witz. Wie es auch "The Big Man" mit einem Augenzwinkern sagt.

"The Big Man"

"The mystery of Scottish sport
Is why we hate the English so.
I love the English very much
As long as they don't beat us
In the European Nations Cup".

"Das Rätsel schottischen Sports
Ist, warum wir die Engländer so hassen.
Ich liebe die Engländer sehr
Solange sie uns nicht
Bei der Europameisterschaft schlagen".

 

Das EURO-Magazin "HEIMSPIELE. Reiseführer durch die europäische Fußballkultur 2021" wurde redaktionell umgesetzt vom Journalisten-Netzwerk n-ost. Kooperationspartner ist die Bundeszentrale für politische Bildung. Die englischsprachige Ausgabe erscheint unter dem Titel: "Home Games. Passing through European football culture in 2021". Beide Ausgaben können über den Shop der Bundeszentrale für politische Bildung bestellt werden (so lange der Vorrat reicht). Die bpb erhebt eine Bereitstellungspauschale in Höhe von 1,50 Euro. Den Bestelllink, ausführliche Leseproben und weitere Informationen gibt es auch auf der offiziellen Webseite der Publikation.

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