Löw: "Vieles ist in Bewegung"

Ein Jahr nach der WM und kurz vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen die Niederlande am Freitag (ab 20.45 Uhr, live bei RTL) zieht Joachim Löw im DFB.de-Interview mit den Redakteuren Steffen Lüdeke und Gereon Tönnihsen eine erste Bilanz in Sachen Neuaufbau der Nationalmannschaft. Allzu lange mag sich der Bundestrainer damit allerdings nicht aufhalten: Was vor ihm und dem Team liegt, ist jetzt wichtiger. Und was es noch zu tun gibt.

DFB.de: Nachdem Sie die beiden zurückliegenden Spiele verletzungsbedingt verpasst haben: Wie geht's Ihnen?

Joachim Löw: Mir geht es sehr gut, meine Abwesenheit im Juni war in erster Linie eine Vorsichtsmaßnahme. Nun bin ich wieder topfit, brenne darauf, endlich wieder mit der Mannschaft zu arbeiten. Das ist es, was man als Trainer will: mit den Spielern auf dem Platz stehen, die Spieler und die Mannschaft verbessern.

DFB.de: Wie hat es sich angefühlt, die Spiele Ihres Teams nur vorm Fernseher zu verfolgen?

Löw: Ganz ehrlich: nicht gut. Ich habe es ja eben gesagt, wo man als Trainer sein will, wenn die eigene Mannschaft spielt: an der Seitenlinie. Aber natürlich haben es mir die Mannschaft und mein Trainerteam leicht gemacht. Nicht nur die Ergebnisse, sondern auch die Spielweise gegen Belarus und Estland waren überzeugend.

DFB.de: Wie sehr waren Sie in die Abläufe involviert?

Löw: Wir Trainer und Oliver Bierhoff sind ja ohnehin ständig im Austausch, das war im Juni rund um die Länderspiele genauso. Die Vorbereitungen auf ein Länderspiel laufen schon in den Wochen vorher. Als ich absagen musste, standen die Trainingspläne und die Inhalte fest, wir hatten auch gemeinsam die wichtigsten Erkenntnisse aus den Gegnerbeobachtungen analysiert, hatten unsere personellen Gedanken diskutiert. Marcus Sorg und Andreas Köpke haben eine Menge Erfahrung, wir haben ein extrem enges Vertrauensverhältnis und sind bestens eingespielt. Jeder weiß, wie der andere tickt. Auch zu Antonio Di Salvo, der sonst zum Trainerstab der U 21 gehört und bei den Spielen im Juni dabei war, habe ich großes Vertrauen.

DFB.de: Vor ziemlich genau einem Jahr haben Sie Ihre Analyse nach dem Vorrundenaus bei der WM 2018 vorgestellt. Damals sagten Sie: "Wir müssen unsere Spielweise adaptieren, um wieder flexibler und variabler zu sein. Wenn man ein Turnier gewinnen will, braucht man viel Enthusiasmus, das Feuer, das von Runde zu Runde mehr wird." Wo sehen Sie Ihre Mannschaft auf diesem Weg?

Löw: Bei der Nationalmannschaft herrscht wieder große Aufbruchstimmung, ich spüre Begeisterung und einen total positiven Spirit. Wir stehen zwar noch am Anfang, aber wir haben mit großer Überzeugung einen neuen Weg eingeschlagen. Und alle ziehen mit. Gerade die jungen Spieler wollen die Räume nutzen, und wir wollen ihnen diese geben. Wir müssen aber auch Geduld mit ihnen haben und ihnen Fehler zugestehen. Der Umgang mit Fehlern ist ein zentrales Thema bei uns. Wenn man, so wie wir, ein Spielsystem zwar nicht verwirft, aber entwickelt, dabei gewisse Anpassungen vornimmt, können auch mal Fehler passieren. Was uns noch fehlt im Vergleich zu eingespielten Mannschaften wie Frankreich, sind Stabilität und Widerstandsfähigkeit, um zwei Beispiele zu nennen. Nicht nur als Team, sondern auch individuell. Daran müssen und werden wir weiterarbeiten.

DFB.de: Sie haben Ihren Anspruch seinerzeit auch als "fast schon arrogant" bezeichnet, weil Sie die Dominanz der Mannschaft auf die Spitze hätten treiben wollen. Wie schwierig ist es, von eigenen Denkmustern abzurücken? Und wie gelingt das?

Löw: Über die Fehlerkultur habe ich ja eben gesprochen. Der Umgang mit Fehlern fängt beim Trainer an. Ich muss mich immer wieder hinterfragen. Und glauben Sie mir: Ich stelle mich selbst als Erster infrage, bevor ich woanders suche, was besser hätte laufen können. Das haben wir nach der WM 2018 getan, meine eigenen Fehleinschätzungen habe ich ja auch benannt und Schlüsse daraus gezogen. Über allem steht die Frage: Wovon bin ich überzeugt? Ein Beispiel: Ich bin unverändert davon überzeugt, dass unsere Spielweise auf Ballbesitz ausgerichtet sein muss, dass wir das Spiel bestimmen, dass wir agieren müssen. Weil wir eine technisch starke Mannschaft sind, weil wir die Qualität und die Spielertypen dafür haben. Aber: Wir müssen schneller werden, vor allem im Kopf. Mit Blick auf die richtige Balance müssen wir wissen, wann wir auch mal runterschalten, das Spiel beruhigen müssen. Wir benötigen mehr Flexibilität, mehr Variabilität.

DFB.de: Gerade über den Ballbesitzfußball wurde nach der WM durchaus heftig diskutiert, es hatte gar den Anschein, als könne "Ballbesitzfußball" hierzulande das "Unwort des Jahres" werden.

Löw: Für mich steht fest: Wer sein Heil nur in der Defensive sucht, wer sich auf Verwalten und Verteidigen verlegt, der wird keinen dauerhaften Erfolg haben können. Es ist ja auch Unsinn, dass Frankreich nur auf diese Art Weltmeister geworden wäre. Schließlich benötigt man den Ball, um ein Tor zu erzielen. Ich würde es so formulieren: Ballbesitz darf kein Selbstzweck sein, Ballbesitzfußball muss immer mit einer Idee einhergehen, was aus dem Ballbesitz entwickelt werden soll. Für mich waren die Halbfinalspiele der vergangenen Champions-League-Saison bezeichnend. Jede der vier Mannschaften wollte in erster Linie Tore erzielen. Es war sagenhaft, wie Liverpool, Tottenham, Barça und Ajax sich präsentiert haben.

DFB.de: Wie hat sich das Spiel Ihrer Mannschaft nach Russland verändert?

Löw: Wie gesagt: Wir haben einige Dinge eingeleitet, sind aber noch nicht am Ende. Wir wollen beständiger werden, stabiler, brauchen die richtige Balance zwischen Offensive und Defensive. Und wir müssen nach wie vor an unserer Effizienz arbeiten.

DFB.de: Einige erfahrene Spieler sind nicht mehr dabei. Wer von den jüngeren Spielern hat in dem neuen Gefüge zusätzlich Verantwortung übernommen?

Löw: Die Spieler wissen, dass vieles in Bewegung ist. Im Team bildet sich eine neue Hierarchie. Ich nehme wahr, dass viele Spieler gerne mehr Verantwortung übernehmen. In der Abwehr haben es Niklas Süle und Nico Schulz zuletzt sehr gut gemacht, genauso wie Thilo Kehrer und Jonathan Tah. Joshua Kimmich ist einer, der schon in den U-Teams Verantwortung übernommen hat und dies auch beim FC Bayern tut. Spieler wie Julian Brandt, Leon Goretzka und Serge Gnabry haben enormes Potenzial. Sie bringen sich ein, auch neben dem Platz. Sie stellen mir Fragen, wollen Erläuterungen, wollen verstehen, weshalb wir eine bestimmte Trainingsform wählen. Die heutige Spielergeneration ist extrem wissbegierig und bringt sich ein. Das finde ich gut. Spieler wie Julian Draxler, Timo Werner oder Antonio Rüdiger sind auch noch jung, obwohl sie schon länger dabei sind. Wir werden die richtige Mischung finden. Denn neben der jugendlichen Unbekümmertheit und Frische benötigen wir nach wie vor auch die Erfahrung von Spielern wie Manuel Neuer, Toni Kroos, Ilkay Gündoğan oder Marco Reus, wenn wir die ganz großen Spiele gewinnen wollen.

DFB.de: In der EM-Qualifikation liegt die deutsche Mannschaft klar auf EM-Kurs. Wäre mit einem Sieg gegen die Niederlande schon alles klar?

Löw: Langsam. Wir haben gerade mal drei von acht Spielen absolviert. Klar ist nur unser Anspruch: Wir gehen in jedes Spiel mit voller Motivation, voller Konzentration und der Ambition, das Spielfeld als Sieger zu verlassen. Bisher ist uns das gelungen, und wenn uns das weiter gelingt, dann werden wir früher oder später das Ticket für die EURO lösen.

DFB.de: Innerhalb nicht mal eines Jahres treffen Sie zum vierten Mal auf die Niederlande. Müssen Sie sich auf dieses Spiel überhaupt noch großartig vorbereiten?

Löw: Natürlich, gerade weil es gegen einen hochkarätigen Gegner wie die Niederlande um Nuancen geht. Die Niederlande sind der stärkste Gegner in unserer Gruppe, sie sind eingespielt, haben eine starke Mannschaft mit überragenden Einzelspielern. In der Nations League haben sie eine super Saison hinter sich. Auf diesem Niveau kann es dann entscheidend sein, wirklich jeden Aspekt des Spiels zu kennen und unsere Spieler entsprechend vorzubereiten. Das erwarten die Spieler auch von uns.

DFB.de: Wir sprachen vorhin über die Entwicklung der Mannschaft. Sind die Spiele gegen die Niederlande die besten Indikatoren für diese Entwicklung? Erst gab es ein 0:3, dann ein 2:2, zuletzt ein 3:2.

Löw: Von den Ergebnissen her könnte man das so interpretieren, ja. Aber wenn man sich die Spielverläufe im Einzelnen ansieht, hätten am Ende jeweils auch andere Resultate stehen können. Der Sieg in Amsterdam im März beispielsweise war zwar letztlich verdient, aber nach einer ganz starken ersten Hälfte haben wir im zweiten Abschnitt nachgelassen und erst in der Schlussphase durch einen Konter den Siegtreffer erzielt. Wenn wir ehrlich sind: Dieses Spiel müssen wir nicht gewinnen, das war auch Glück. Diese zweite Hälfte hat auch gezeigt, wo wir ansetzen müssen und wo wir noch verletzbar sind. Wir müssen konsequenter unser Spiel über die gesamte Distanz durchziehen.

DFB.de: Motiviert es Sie, dass bei der nächsten EURO mindestens drei Spiele Heimspiele sein könnten?

Löw: Wir haben das im Hinterkopf, doch noch ist das nicht unser Thema. Ganz allgemein gilt: Ein großes Turnier zu spielen, ist immer etwas ganz Besonderes, und ja: Nichts ist schöner, als dies vor eigenem Publikum erleben zu dürfen. Für die Spieler ist es kein Nachteil, dass sie diese Perspektive gleich doppelt haben. Denn die EURO 2024 findet dann ja ausschließlich in Deutschland statt.

DFB.de: Im Sommer waren Sie beim Finale der U 21-EM zwischen Deutschland und Spanien vor Ort, das die DFB-Auswahl 1:2 verlor. Drängen sich Spieler auf, die zeitnah auch für die A-Nationalmannschaft infrage kommen?

Löw: Es gab einige Spieler, deren Leistungen erfreulich waren. Entscheidend für diese Spieler wird nun aber sein, dass sie regelmäßig zum Einsatz kommen. Sie müssen spielen, auf höchstem Niveau. Wir haben unsere U-Mannschaften im Blick, nicht nur die U 21. Wir haben ja bereits eine extrem junge Mannschaft mit vielen Spielern aus unseren eigenen U-Teams. Aus unserem Aufgebot der Länderspiele gegen Belarus und Estland hätten neben Lukas Klostermann und Jonathan Tah weitere fünf Spieler an der U 21-EM teilnehmen können, jetzt steht Luca Waldschmidt im Kader. Das zeigt: Die Grenzen zwischen der U 21 und der A-Mannschaft sind fließend.

DFB.de: Wie hat Ihnen generell der Auftritt der Mannschaft von Stefan Kuntz gefallen?

Löw: Gut, besonders gefallen hat mir, dass die Mannschaft Widerstände überwunden hat. Ins Finale einzuziehen, war kein Selbstläufer. Nach den Siegen gegen Dänemark und Serbien war Österreich in der Vorrunde ein sehr unangenehmer Gegner. Im Halbfinale haben die Jungs trotz Rückstands zur Halbzeit noch gewonnen und sind ins Finale eingezogen. Das zeugt von guter Mentalität und großem Erfolgshunger. Das spricht natürlich auch für die Arbeit von Stefan Kuntz, er macht das wirklich hervorragend.

DFB.de: Ist dies etwas, das Ihnen Mut macht - nicht zuletzt auch mit Blick auf die Heim-EM 2024?

Löw: Absolut, für die Zukunft sind das sehr gute Voraussetzungen. Aber wir dürfen uns auch nicht blenden lassen: Gerade im Nachwuchsbereich müssen wir aufpassen, nicht den Anschluss zu verlieren. Es gibt Jahrgänge, die nach dieser U 21 kommen, in denen wir uns schwertun. Das hat auch mehrfach schon Oliver Bierhoff thematisiert, der sich dazu generelle Gedanken mit seiner Direktion macht und an Lösungen arbeitet.

[sl/gt]

Ein Jahr nach der WM und kurz vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen die Niederlande am Freitag (ab 20.45 Uhr, live bei RTL) zieht Joachim Löw im DFB.de-Interview mit den Redakteuren Steffen Lüdeke und Gereon Tönnihsen eine erste Bilanz in Sachen Neuaufbau der Nationalmannschaft. Allzu lange mag sich der Bundestrainer damit allerdings nicht aufhalten: Was vor ihm und dem Team liegt, ist jetzt wichtiger. Und was es noch zu tun gibt.

DFB.de: Nachdem Sie die beiden zurückliegenden Spiele verletzungsbedingt verpasst haben: Wie geht's Ihnen?

Joachim Löw: Mir geht es sehr gut, meine Abwesenheit im Juni war in erster Linie eine Vorsichtsmaßnahme. Nun bin ich wieder topfit, brenne darauf, endlich wieder mit der Mannschaft zu arbeiten. Das ist es, was man als Trainer will: mit den Spielern auf dem Platz stehen, die Spieler und die Mannschaft verbessern.

DFB.de: Wie hat es sich angefühlt, die Spiele Ihres Teams nur vorm Fernseher zu verfolgen?

Löw: Ganz ehrlich: nicht gut. Ich habe es ja eben gesagt, wo man als Trainer sein will, wenn die eigene Mannschaft spielt: an der Seitenlinie. Aber natürlich haben es mir die Mannschaft und mein Trainerteam leicht gemacht. Nicht nur die Ergebnisse, sondern auch die Spielweise gegen Belarus und Estland waren überzeugend.

DFB.de: Wie sehr waren Sie in die Abläufe involviert?

Löw: Wir Trainer und Oliver Bierhoff sind ja ohnehin ständig im Austausch, das war im Juni rund um die Länderspiele genauso. Die Vorbereitungen auf ein Länderspiel laufen schon in den Wochen vorher. Als ich absagen musste, standen die Trainingspläne und die Inhalte fest, wir hatten auch gemeinsam die wichtigsten Erkenntnisse aus den Gegnerbeobachtungen analysiert, hatten unsere personellen Gedanken diskutiert. Marcus Sorg und Andreas Köpke haben eine Menge Erfahrung, wir haben ein extrem enges Vertrauensverhältnis und sind bestens eingespielt. Jeder weiß, wie der andere tickt. Auch zu Antonio Di Salvo, der sonst zum Trainerstab der U 21 gehört und bei den Spielen im Juni dabei war, habe ich großes Vertrauen.

DFB.de: Vor ziemlich genau einem Jahr haben Sie Ihre Analyse nach dem Vorrundenaus bei der WM 2018 vorgestellt. Damals sagten Sie: "Wir müssen unsere Spielweise adaptieren, um wieder flexibler und variabler zu sein. Wenn man ein Turnier gewinnen will, braucht man viel Enthusiasmus, das Feuer, das von Runde zu Runde mehr wird." Wo sehen Sie Ihre Mannschaft auf diesem Weg?

Löw: Bei der Nationalmannschaft herrscht wieder große Aufbruchstimmung, ich spüre Begeisterung und einen total positiven Spirit. Wir stehen zwar noch am Anfang, aber wir haben mit großer Überzeugung einen neuen Weg eingeschlagen. Und alle ziehen mit. Gerade die jungen Spieler wollen die Räume nutzen, und wir wollen ihnen diese geben. Wir müssen aber auch Geduld mit ihnen haben und ihnen Fehler zugestehen. Der Umgang mit Fehlern ist ein zentrales Thema bei uns. Wenn man, so wie wir, ein Spielsystem zwar nicht verwirft, aber entwickelt, dabei gewisse Anpassungen vornimmt, können auch mal Fehler passieren. Was uns noch fehlt im Vergleich zu eingespielten Mannschaften wie Frankreich, sind Stabilität und Widerstandsfähigkeit, um zwei Beispiele zu nennen. Nicht nur als Team, sondern auch individuell. Daran müssen und werden wir weiterarbeiten.

DFB.de: Sie haben Ihren Anspruch seinerzeit auch als "fast schon arrogant" bezeichnet, weil Sie die Dominanz der Mannschaft auf die Spitze hätten treiben wollen. Wie schwierig ist es, von eigenen Denkmustern abzurücken? Und wie gelingt das?

Löw: Über die Fehlerkultur habe ich ja eben gesprochen. Der Umgang mit Fehlern fängt beim Trainer an. Ich muss mich immer wieder hinterfragen. Und glauben Sie mir: Ich stelle mich selbst als Erster infrage, bevor ich woanders suche, was besser hätte laufen können. Das haben wir nach der WM 2018 getan, meine eigenen Fehleinschätzungen habe ich ja auch benannt und Schlüsse daraus gezogen. Über allem steht die Frage: Wovon bin ich überzeugt? Ein Beispiel: Ich bin unverändert davon überzeugt, dass unsere Spielweise auf Ballbesitz ausgerichtet sein muss, dass wir das Spiel bestimmen, dass wir agieren müssen. Weil wir eine technisch starke Mannschaft sind, weil wir die Qualität und die Spielertypen dafür haben. Aber: Wir müssen schneller werden, vor allem im Kopf. Mit Blick auf die richtige Balance müssen wir wissen, wann wir auch mal runterschalten, das Spiel beruhigen müssen. Wir benötigen mehr Flexibilität, mehr Variabilität.

DFB.de: Gerade über den Ballbesitzfußball wurde nach der WM durchaus heftig diskutiert, es hatte gar den Anschein, als könne "Ballbesitzfußball" hierzulande das "Unwort des Jahres" werden.

Löw: Für mich steht fest: Wer sein Heil nur in der Defensive sucht, wer sich auf Verwalten und Verteidigen verlegt, der wird keinen dauerhaften Erfolg haben können. Es ist ja auch Unsinn, dass Frankreich nur auf diese Art Weltmeister geworden wäre. Schließlich benötigt man den Ball, um ein Tor zu erzielen. Ich würde es so formulieren: Ballbesitz darf kein Selbstzweck sein, Ballbesitzfußball muss immer mit einer Idee einhergehen, was aus dem Ballbesitz entwickelt werden soll. Für mich waren die Halbfinalspiele der vergangenen Champions-League-Saison bezeichnend. Jede der vier Mannschaften wollte in erster Linie Tore erzielen. Es war sagenhaft, wie Liverpool, Tottenham, Barça und Ajax sich präsentiert haben.

DFB.de: Wie hat sich das Spiel Ihrer Mannschaft nach Russland verändert?

Löw: Wie gesagt: Wir haben einige Dinge eingeleitet, sind aber noch nicht am Ende. Wir wollen beständiger werden, stabiler, brauchen die richtige Balance zwischen Offensive und Defensive. Und wir müssen nach wie vor an unserer Effizienz arbeiten.

DFB.de: Einige erfahrene Spieler sind nicht mehr dabei. Wer von den jüngeren Spielern hat in dem neuen Gefüge zusätzlich Verantwortung übernommen?

Löw: Die Spieler wissen, dass vieles in Bewegung ist. Im Team bildet sich eine neue Hierarchie. Ich nehme wahr, dass viele Spieler gerne mehr Verantwortung übernehmen. In der Abwehr haben es Niklas Süle und Nico Schulz zuletzt sehr gut gemacht, genauso wie Thilo Kehrer und Jonathan Tah. Joshua Kimmich ist einer, der schon in den U-Teams Verantwortung übernommen hat und dies auch beim FC Bayern tut. Spieler wie Julian Brandt, Leon Goretzka und Serge Gnabry haben enormes Potenzial. Sie bringen sich ein, auch neben dem Platz. Sie stellen mir Fragen, wollen Erläuterungen, wollen verstehen, weshalb wir eine bestimmte Trainingsform wählen. Die heutige Spielergeneration ist extrem wissbegierig und bringt sich ein. Das finde ich gut. Spieler wie Julian Draxler, Timo Werner oder Antonio Rüdiger sind auch noch jung, obwohl sie schon länger dabei sind. Wir werden die richtige Mischung finden. Denn neben der jugendlichen Unbekümmertheit und Frische benötigen wir nach wie vor auch die Erfahrung von Spielern wie Manuel Neuer, Toni Kroos, Ilkay Gündoğan oder Marco Reus, wenn wir die ganz großen Spiele gewinnen wollen.

DFB.de: In der EM-Qualifikation liegt die deutsche Mannschaft klar auf EM-Kurs. Wäre mit einem Sieg gegen die Niederlande schon alles klar?

Löw: Langsam. Wir haben gerade mal drei von acht Spielen absolviert. Klar ist nur unser Anspruch: Wir gehen in jedes Spiel mit voller Motivation, voller Konzentration und der Ambition, das Spielfeld als Sieger zu verlassen. Bisher ist uns das gelungen, und wenn uns das weiter gelingt, dann werden wir früher oder später das Ticket für die EURO lösen.

DFB.de: Innerhalb nicht mal eines Jahres treffen Sie zum vierten Mal auf die Niederlande. Müssen Sie sich auf dieses Spiel überhaupt noch großartig vorbereiten?

Löw: Natürlich, gerade weil es gegen einen hochkarätigen Gegner wie die Niederlande um Nuancen geht. Die Niederlande sind der stärkste Gegner in unserer Gruppe, sie sind eingespielt, haben eine starke Mannschaft mit überragenden Einzelspielern. In der Nations League haben sie eine super Saison hinter sich. Auf diesem Niveau kann es dann entscheidend sein, wirklich jeden Aspekt des Spiels zu kennen und unsere Spieler entsprechend vorzubereiten. Das erwarten die Spieler auch von uns.

DFB.de: Wir sprachen vorhin über die Entwicklung der Mannschaft. Sind die Spiele gegen die Niederlande die besten Indikatoren für diese Entwicklung? Erst gab es ein 0:3, dann ein 2:2, zuletzt ein 3:2.

Löw: Von den Ergebnissen her könnte man das so interpretieren, ja. Aber wenn man sich die Spielverläufe im Einzelnen ansieht, hätten am Ende jeweils auch andere Resultate stehen können. Der Sieg in Amsterdam im März beispielsweise war zwar letztlich verdient, aber nach einer ganz starken ersten Hälfte haben wir im zweiten Abschnitt nachgelassen und erst in der Schlussphase durch einen Konter den Siegtreffer erzielt. Wenn wir ehrlich sind: Dieses Spiel müssen wir nicht gewinnen, das war auch Glück. Diese zweite Hälfte hat auch gezeigt, wo wir ansetzen müssen und wo wir noch verletzbar sind. Wir müssen konsequenter unser Spiel über die gesamte Distanz durchziehen.

DFB.de: Motiviert es Sie, dass bei der nächsten EURO mindestens drei Spiele Heimspiele sein könnten?

Löw: Wir haben das im Hinterkopf, doch noch ist das nicht unser Thema. Ganz allgemein gilt: Ein großes Turnier zu spielen, ist immer etwas ganz Besonderes, und ja: Nichts ist schöner, als dies vor eigenem Publikum erleben zu dürfen. Für die Spieler ist es kein Nachteil, dass sie diese Perspektive gleich doppelt haben. Denn die EURO 2024 findet dann ja ausschließlich in Deutschland statt.

DFB.de: Im Sommer waren Sie beim Finale der U 21-EM zwischen Deutschland und Spanien vor Ort, das die DFB-Auswahl 1:2 verlor. Drängen sich Spieler auf, die zeitnah auch für die A-Nationalmannschaft infrage kommen?

Löw: Es gab einige Spieler, deren Leistungen erfreulich waren. Entscheidend für diese Spieler wird nun aber sein, dass sie regelmäßig zum Einsatz kommen. Sie müssen spielen, auf höchstem Niveau. Wir haben unsere U-Mannschaften im Blick, nicht nur die U 21. Wir haben ja bereits eine extrem junge Mannschaft mit vielen Spielern aus unseren eigenen U-Teams. Aus unserem Aufgebot der Länderspiele gegen Belarus und Estland hätten neben Lukas Klostermann und Jonathan Tah weitere fünf Spieler an der U 21-EM teilnehmen können, jetzt steht Luca Waldschmidt im Kader. Das zeigt: Die Grenzen zwischen der U 21 und der A-Mannschaft sind fließend.

DFB.de: Wie hat Ihnen generell der Auftritt der Mannschaft von Stefan Kuntz gefallen?

Löw: Gut, besonders gefallen hat mir, dass die Mannschaft Widerstände überwunden hat. Ins Finale einzuziehen, war kein Selbstläufer. Nach den Siegen gegen Dänemark und Serbien war Österreich in der Vorrunde ein sehr unangenehmer Gegner. Im Halbfinale haben die Jungs trotz Rückstands zur Halbzeit noch gewonnen und sind ins Finale eingezogen. Das zeugt von guter Mentalität und großem Erfolgshunger. Das spricht natürlich auch für die Arbeit von Stefan Kuntz, er macht das wirklich hervorragend.

DFB.de: Ist dies etwas, das Ihnen Mut macht - nicht zuletzt auch mit Blick auf die Heim-EM 2024?

Löw: Absolut, für die Zukunft sind das sehr gute Voraussetzungen. Aber wir dürfen uns auch nicht blenden lassen: Gerade im Nachwuchsbereich müssen wir aufpassen, nicht den Anschluss zu verlieren. Es gibt Jahrgänge, die nach dieser U 21 kommen, in denen wir uns schwertun. Das hat auch mehrfach schon Oliver Bierhoff thematisiert, der sich dazu generelle Gedanken mit seiner Direktion macht und an Lösungen arbeitet.

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