Männer-Nationalmannschaft

Kimmich vor 100. Länderspiel: Teamplayer, Kapitän, Anführer

04.06.2025
Joshua Kimmich: "Seit ich Kapitän bin, spüre ich, dass dieses Amt etwas Besonderes ist" Foto: Getty Images

Drauf passen 100 Länderspiele relativ leicht. Die 100 auf die Hymnenjacke gedruckt, und auf dem Kopf diese einzigartige Kappe, die es von der UEFA für "100 Caps" gibt, wie der Engländer sagt. Schon steht das Jubiläum. Aber wie passen sie rein? Wo packt Joshua Kimmich sie alle hin? Direkt ins Herz? In die Seele? Wo sind sie gespeichert, diese Bilder, Emotionen und Erlebnisse aus dann 100 Spielen im Deutschland-Trikot, wenn der 30 Jahre alte Musterprofi am heutigen Mittwoch (ab 21 Uhr, live im ZDF und bei DAZN) in München im Halbfinale der UEFA Nations League gegen Portugal aufläuft?

Kann er sie nach Belieben wieder abrufen, wenn er irgendwann mal in Ruhe zu Hause im Schaukelstuhl sitzt? Wie kann man sich das vorstellen? Schwer vorstellbar ist es doch, dass ein Anführer und Antreiber, ein Emotionsmensch wie Kimmich überhaupt mal zur Ruhe kommt. Ohne an die nächsten 100 Spiele im Trikot der Nationalmannschaft und seines FC Bayern München zu denken. Aber schwer vorstellbar auch, dass neben so viel Willen, Ehrgeiz und Motivation überhaupt noch etwas passt.

"Champions entstehen aus etwas, das ganz tief in ihnen steckt - einem Wunsch, einem Traum, einer Vision", sagte einst der legendäre Box-Weltmeister Muhammad Ali. "Sie müssen das Können und den Willen haben. Aber der Wille muss stärker sein als das Können." Ali, der am 3. Juni 2016, sechs Tage nach Kimmichs Debüt in der Nationalmannschaft starb, sprach am liebsten und auch in diesem Falle von sich selbst. Aber dennoch hätte der Boxer den Champion Kimmich, dessen großes Können tatsächlich nur noch von seinem riesigen Willen übertroffen wird, kaum treffender charakterisieren können. "Joshua ist ein gutes Beispiel, welche Rolle die Emotionalität neben der Qualität spielt", sagt Bundestrainer Julian Nagelsmann über seinen Kapitän. "Er hat eine sehr große Bedeutung für das Team, weil er einfach sehr intelligent und ein guter Fußballer ist."

Gleich im All-Star-Team der EURO 2016

Kimmichs erstes Länderspiel vor neun Jahren war gleich in doppelter Hinsicht ein Benefizländerspiel. Zum einen kamen die Einnahmen des Duells mit der Slowakei in Augsburg den fußballnahen Stiftungen zugute. Zum anderen schenkte der damalige Bundestrainer Joachim Löw der Fußball-Nation einen neuen Nationalspieler. Auch eine Wohltat, wie sich schon kurz darauf herausstellte. Kimmich lief wenige Tage später wie selbstverständlich für Deutschland bei der Europameisterschaft auf.

Am Ende des Turniers, in dem das DFB-Team erst unglücklich im Halbfinale an Gastgeber Frankreich scheiterte, wurde der damals 21-Jährige in das All-Star-Team der UEFA berufen - Seite an Seite etwa mit Weltmeister Toni Kroos und Cristiano Ronaldo, dem Kapitän der Europameister-Mannschaft. Ausgewählt unter anderen von Trainer-Legende Sir Alex Ferguson.

Dem Ritterschlag folgten Kimmichs erstes Tor im Nationaltrikot, im September 2016 beim Sieg im WM-Qualifikationsspiel in Oslo über Norwegen, sowie der erste Titelgewinn. Zumindest bei den Männern, 2014 war Kimmich mit der U 19-Nationalmannschaft schließlich Europameister geworden. 2017 gewann er mit Deutschland in Russland den Confederations Cup. Als einziger spielte Kimmich jede Minute dieses Turniers, bis heute das letzte, das mit einem Titelgewinn für die deutsche Nationalmannschaft endete.

"Verantwortung geht über den Platz hinaus"

Im dritten Gruppenspiel gegen Kamerun trug Kimmich nach der Auswechslung des damaligen Kapitäns Julian Draxler zum ersten Mal die Kapitänsbinde, auch im Halbfinale gegen Mexiko übernahm er sie nach Draxlers Auswechslung. Nach der EM im eigenen Land 2024 - Kimmichs dritter Europameisterschaft, dazwischen lief er für Deutschland noch bei den Weltmeisterschaften in Russland und Katar auf - und dem Rücktritt von Ilkay Gündogan aus der Nationalmannschaft hat er sie nun fest übernommen.

"Als Kind träumt man davon, für Deutschland zu spielen", so Kimmich gerade im Interview mit dem kicker. "Man denkt nicht darüber nach, Kapitän zu sein - und darauf arbeitet man auch nicht hin. Davor dachte ich auch, das Amt würde nichts verändern. Mir war immer schon wichtig, dass wir als Mannschaft nicht nur erfolgreich, sondern auch wirklich eine Mannschaft sind. Seit ich Kapitän bin, spüre ich aber, dass dieses Amt etwas Besonderes ist. Die Verantwortung geht über den Platz hinaus. Es macht mich sehr stolz, und ich empfinde es als große Ehre, Kapitän der Nationalmannschaft zu sein.“

"100 Länderspiele sind eine Wahnsinnszahl"

Noch fünf Spiele als Spielführer fehlen Kimmich, um zum legendären Fritz Walter, Kapitän der ersten deutschen Weltmeister-Mannschaft von 1954, aufzuschließen. Den Welt- und Europameister Berti Vogts sowie Europameister Oliver Bierhoff hat er bereits überholt. In der Rangliste der deutschen Rekordspieler liegt er aktuell auf Rang 14. "Das bedeutet mir viel", sagt Kimmich. "Es ist eine große Ehre, so viele Spiele für Deutschland gemacht zu haben. Es zeigt, dass man die vergangenen neun bis zehn Jahre auf einem ganz guten Niveau gespielt hat. Ich war auch nicht so häufig verletzt. Ich hoffe, dass noch das ein oder andere Spiel hinzukommt. Das ist etwas, auf das man sehr, sehr stolz ist. Es ist etwas sehr Besonderes, etwas ganz Spezielles. Es sollte aber für jeden Spieler besonders sein, für Deutschland zu spielen - egal, ob es das zehnte, 100. oder 150. Spiel ist."

Dieser Tage schwärmten auch Kimmichs Teamkollegen von ihrem Kapitän, der ein echter Teamplayer ist. Angreifer Niclas Füllkrug sagte in Herzogenaurach: "100 Länderspiele sind eine Wahnsinnszahl. Das ist ein Traum für jeden Fußballer. Dafür muss man viele Jahre auf allerhöchstem Niveau spielen, solch eine Zahl schafft man nicht, wenn man im Klub mal für eine längere Phase auf der Bank sitzt. Joshua hat über Jahre hinweg performt. Er ist ein toller Typ und Mensch und auch ein richtig guter Fußballer. Ich freue mich bei jedem Abschlussspiel, wenn er in meinem Team ist. Er hat sich die 100 Länderspiele verdient." 

Nationaltorhüter Marc-André ter Stegen ergänzte: "Jo ist phänomenal, ein toller Kapitän. Er war schon in der Vergangenheit immer eine Führungsfigur. Er ist ein absoluter Leader. Ich bin sehr happy für ihn, dass er sein 100. Länderspiel macht. Hoffentlich kommen noch viele hinzu."

Häßler und Beckenbauer in Reichweite

Kommt Kimmich in beiden Partien in der Nations League in dieser Woche - am Sonntag entweder ab 21 Uhr im Finale erneut in München gegen den Sieger des zweiten Semifinales zwischen Spanien und Frankreich oder bereits ab 15 Uhr im Spiel um Platz 3 in Stuttgart gegen den anderen Halbfinalverlierer -  zum Einsatz, zieht er mit Welt- und Europameister Thomas Häßler gleich. Dann folgt schon der Größte, Franz Beckenbauer, mit 103 Länderspielen. Rekordnationalspieler ist Lothar Matthäus mit 150 Einsätzen. Deutscher Rekordspieler in der Nations League ist Kimmich mit bislang 20 Einsätzen immerhin bereits.

Auch am Mittwoch wird Kimmich, der mit dem FC Bayern München mittlerweile die Champions League, neunmal die Deutsche Meisterschaft und dreimal den DFB-Pokal gewonnen hat, die Spielführerbinde tragen - als Kapitän im Halbfinale der UEFA Nations League gegen den fünfmaligen Weltfußballer Cristiano Ronaldo und Portugal. In seinem Heimstadion in München, vor ausverkauftem Haus, vor 70.000 Menschen, vor den eigenen Fans. Der Rahmen passt also perfekt, der Joshua Kimmichs 100. Länderspiel einfassen wird. Er wird ganz sicher einen Ehrenplatz bekommen. Irgendwo ganz tief drinnen. Dort, wo Champions entstehen.

Kategorien: Männer-Nationalmannschaft, Nations League

Autor: al