WM 2002: "Titan" Kahn wankt erst im Finale

Die Fußball-Weltmeisterschaft feiert runden Geburtstag: Zum 20. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum zweiten Mal nach 1950 in Brasilien. Für DFB.de erinnert der Historiker und Autor Udo Muras in einer WM-Serie an alle Turniere der Geschichte. Heute: die WM 2002 in Japan und Südkorea.

Teil 17: Die WM 2002 in Japan und Südkorea

Die 17. Weltmeisterschaft bescherte der Fußballwelt schon vor dem Anpfiff eine doppelte Premiere: Erstmals wurde sie in Asien ausgetragen, und erstmals teilten sich zwei Staaten die Gastgeberrolle - Japan und Südkorea. Mit dem FIFA-Beschluss vom 31. Mai 1996 waren weder der Weltverband noch die keineswegs einander sehr freundschaftlich verbundenen Staaten rundum glücklich. So hatte beispielsweise jedes Land sein eigenes Organisationskomitee, was die FIFA also das Doppelte kostete im Vergleich zu früheren Turnieren. Schon deshalb stand für den Weltverband fest, das Experiment nicht wiederholen zu wollen. Außerdem stritten die Gastgeber um Nichtigkeiten wie die Erstnennung auf offiziellen Dokumenten, Tickets etc.

Kam Japan vor Südkorea oder Südkorea vor Japan? Erst FIFA-Präsident Sepp Blatter höchstselbst musste für Klarheit sorgen und die vereinbarte Version Südkorea/Japan durchsetzen.

All das schreckte die globale Fußball-Gemeinde nicht ab: 198 Nationalverbände meldeten sich zur Qualifikation an, darunter mit der karibischen Vulkan-Insel Montserrat ein Staat mit damals 3000 Einwohnern. Die höchste Niederlage kassierte jedoch die Mannschaft von Amerikanisch-Samoa, die Australien 0:31 unterlag und für einen Weltrekord sorgte, hinter dem das 0:22 Tongas gegen den selben Gegner nahezu verblasste. Zur WM schafften es die torhungrigen „Socceroos“ aber wieder nicht, diesmal scheiterten sie an Südamerikas Nummer fünf Uruguay.

Argentinien hatte sich dort am souveränsten durchgesetzt und fuhr als absoluter Favorit zur WM, jedenfalls gemessen an den Wettquoten diverser Anbieter. Dass es nicht wie gewöhnlich Brasilien war, lag an dessen mühsamer Qualifikation. Erst im letzten Spiel ergatterte der Vizeweltmeister seine Asien-Tickets, noch hinter Ecuador und punktgleich mit Paraguay. WM-Neuling Ecuador feierte den historischen Sieg über Brasilien etwas zu ausgelassen, es gab Tote und über 70 Verletzte. Nord- und Mittelamerika entsandten mit den USA und Costa Rica alte Bekannte.

Fünf Plätze für Afrika

Afrika erhielt erneut fünf Plätze: Tunesien und Südafrika marschierten ungeschlagen durch die Qualifikation, auch Kamerun und Nigeria wurden ihrer Favoritenrolle gerecht. Nur mit WM-Neuling Senegal hatte niemand gerechnet, er ließ Marokko und Algerien hinter sich. Asien erhielt wegen der Gastgeber nur zwei weitere garantierte Startplätze, die Saudi-Arabien und China einnahmen. Der Iran musste noch Entscheidungsspiele gegen Irland bestreiten und scheiterte, wodurch das europäische Kontingent auf 14 anwuchs.



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Die Fußball-Weltmeisterschaft feiert runden Geburtstag: Zum 20. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum zweiten Mal nach 1950 in Brasilien. Für DFB.de erinnert der Historiker und Autor Udo Muras in einer WM-Serie an alle Turniere der Geschichte. Heute: die WM 2002 in Japan und Südkorea.

Teil 17: Die WM 2002 in Japan und Südkorea

Die 17. Weltmeisterschaft bescherte der Fußballwelt schon vor dem Anpfiff eine doppelte Premiere: Erstmals wurde sie in Asien ausgetragen, und erstmals teilten sich zwei Staaten die Gastgeberrolle - Japan und Südkorea. Mit dem FIFA-Beschluss vom 31. Mai 1996 waren weder der Weltverband noch die keineswegs einander sehr freundschaftlich verbundenen Staaten rundum glücklich. So hatte beispielsweise jedes Land sein eigenes Organisationskomitee, was die FIFA also das Doppelte kostete im Vergleich zu früheren Turnieren. Schon deshalb stand für den Weltverband fest, das Experiment nicht wiederholen zu wollen. Außerdem stritten die Gastgeber um Nichtigkeiten wie die Erstnennung auf offiziellen Dokumenten, Tickets etc.

Kam Japan vor Südkorea oder Südkorea vor Japan? Erst FIFA-Präsident Sepp Blatter höchstselbst musste für Klarheit sorgen und die vereinbarte Version Südkorea/Japan durchsetzen.

All das schreckte die globale Fußball-Gemeinde nicht ab: 198 Nationalverbände meldeten sich zur Qualifikation an, darunter mit der karibischen Vulkan-Insel Montserrat ein Staat mit damals 3000 Einwohnern. Die höchste Niederlage kassierte jedoch die Mannschaft von Amerikanisch-Samoa, die Australien 0:31 unterlag und für einen Weltrekord sorgte, hinter dem das 0:22 Tongas gegen den selben Gegner nahezu verblasste. Zur WM schafften es die torhungrigen „Socceroos“ aber wieder nicht, diesmal scheiterten sie an Südamerikas Nummer fünf Uruguay.

Argentinien hatte sich dort am souveränsten durchgesetzt und fuhr als absoluter Favorit zur WM, jedenfalls gemessen an den Wettquoten diverser Anbieter. Dass es nicht wie gewöhnlich Brasilien war, lag an dessen mühsamer Qualifikation. Erst im letzten Spiel ergatterte der Vizeweltmeister seine Asien-Tickets, noch hinter Ecuador und punktgleich mit Paraguay. WM-Neuling Ecuador feierte den historischen Sieg über Brasilien etwas zu ausgelassen, es gab Tote und über 70 Verletzte. Nord- und Mittelamerika entsandten mit den USA und Costa Rica alte Bekannte.

Fünf Plätze für Afrika

Afrika erhielt erneut fünf Plätze: Tunesien und Südafrika marschierten ungeschlagen durch die Qualifikation, auch Kamerun und Nigeria wurden ihrer Favoritenrolle gerecht. Nur mit WM-Neuling Senegal hatte niemand gerechnet, er ließ Marokko und Algerien hinter sich. Asien erhielt wegen der Gastgeber nur zwei weitere garantierte Startplätze, die Saudi-Arabien und China einnahmen. Der Iran musste noch Entscheidungsspiele gegen Irland bestreiten und scheiterte, wodurch das europäische Kontingent auf 14 anwuchs.

50 Länder hatten es versucht, zwangsläufig sah man wieder Favoriten straucheln. Allen voran die Niederlande, die in ihrer Gruppe nur Dritter wurden - hinter Portugal und Irland. Mit Jugoslawien, Tschechien, Rumänien und Belgien blieben weitere WM-Stammgäste außen vor, und mit Pech hätte das auch den Deutschen passieren können. In ihrer Gruppe verlor die DFB-Auswahl zwar nur ein Spiel, aber wie! Nach dem historischen 1:0 im letzten Länderspiel, das das anschließend abgerissene und neugebaute Wembley-Stadion sah, nahmen die Engländer am 1. September 2001 in München ausgiebig Revanche. Sie siegten mit 5:1 und fügten Deutschland die höchste Qualifikationsniederlage aller Zeiten zu.

Schlimmer noch: Die Niederlage kostete den Gruppensieg und zwang das Team in Play-off-Spiele gegen die Ukraine. Im Nachhinein waren diese Partien im November 2001 ein Segen, auch wenn sie keiner der Beteiligten noch einmal erleben mochte. Zwar war die Auswahl von Teamchef Rudi Völler vor der Doppelveranstaltung in Kiew und vier Tage danach in Dortmund leichter Favorit, aber nicht gerade von Optimisten umzingelt. In einer Umfrage des Fachblattes Kicker glaubte nur eine knappe Mehrheit von 55,3 Prozent an den Erfolg.

Selbst Franz Beckenbauer, der Bayern-Präsident, strotzte nicht vor Zuversicht „Wir müssen auf Sieg spielen, damit es wenigstens zu einem Unentschieden reicht.“ Marko Rehmer von Hertha BSC, damals rechter Verteidiger, sagte rückblickend: „Wir hätten diese Spiele am liebsten vermieden. Die Anspannung war sehr groß. Aber die Relegation hat uns zusammengeschweißt, so dass wir eine vernünftige WM gespielt haben.“ Eine sympathische Untertreibung, Deutschland zog schließlich sogar ins Finale ein.

Relegation gegen Ukraine

Davon war die Mannschaft im Herbst 2001 noch ein Stück weit entfernt. Zu allem Übel fehlten in Sebastian Deisler und Mehmet Scholl zwei kreative Spieler verletzt, Stürmer Oliver Neuville war gesperrt. Der Abend in dem in Gelb und Blau getauchte Olympiastadion von Kiew begann schlecht: Nach 18 Minuten landete ein Abstauber von Subow im deutschen Netz. 0:1! Doch Deutschland schlug zurück. Es lief die 31. Minute. Gerade fragte Sat.1-Reporter Werner Hansch: „Wo ist eigentlich Ballack?“ - da war der Leverkusener schon zur Stelle. Als Bayern-Stürmer Alex Zickler eine Ecke verlängerte, traf er mit dem linken Fuß. „Das war das wichtigste Tor in meinem Leben. Es kann nur noch ein wichtigeres geben - wenn ich Deutschland am Mittwoch zur WM schieße“, sagte Ballack. In Kiew legte er den Finger auf den Mund, um die Kulisse zum Schweigen zu bringen. „Ich wollte sagen: ‚Seid ein bisschen ruhiger, die Deutschen sind auch noch da.´" Zur Ernüchterung der 85.000 in Kiew war das 1:1 der Endstand.

Nun reichte im mit 52.400 Zuschauern ausverkauften Dortmunder Westfalenstadion schon ein 0:0. Oliver Kahn prophezeite: „Wenn wir durchkommen, wird es dieser Mannschaft einen unglaublichen Schub geben.“

Sie kam durch - im Eilzugtempo! Nach 15 unglaublichen Minuten hieß es bereits 3:0. Nachdem erneut Ballack das erste Tor geköpft hatte, bereitete Marko Rehmer das 2:0 von Oliver Neuville mit einem Pfostenkopfball vor und erzielte das 3:0 per Kopf selbst. In nur 15 furiosen Minuten war die Aussöhnung mit dem Publikum gelungen. Ballack erhöhte in einem seiner besten Länderspiele überhaupt kurz nach der Pause noch auf 4:0 (51.) - es war das dritte Kopfballtor des Tages. Erst in der Nachspielzeit wurde der Ukraine das Ehrentor zum 4:1 durch Schewtschenko gestattet.

Am Jubel über die WM-Qualifikation änderte das nichts, und Rudi Völler freute sich, dass sein 500. Arbeitstag als Teamchef nicht sein letzter gewesen war. Und das lag nicht nur am Glückspfennig, den ein „Bild“-Reporter im Stadion von Kiew vergraben und nach Dortmund mitgebracht hatte. Jedenfalls hielt die stolze Serie, dass Deutschland nie eine WM-Qualifikation verpasst hat.

Damit nahm eine turbulente Phase der DFB-Geschichte ein vorläufig gutes Ende. Seit der vergangenen WM in Frankreich hatte es zwei Wechsel auf der Bundestrainer-Position gegeben, ein Novum in der DFB-Historie. Nach Berti Vogts 1998 war auch Erich Ribbeck in Folge eines enttäuschenden Turniers nach der EM 2000 zurückgetreten. Rudi Völler übernahm, aber eigentlich nur als Aushilfslösung für Christoph Daum. Leverkusens Trainer sollte ab Juli 2001 die Nationalmannschaft führen, doch brachte er sich durch nachgewiesenen Kokain-Konsum selbst zu Fall im Oktober 2000. Nun war Rudi Völler, eigentlich Sportdirektor-Azubi in Leverkusen, plötzlich der Mann geworden, der Deutschland zur WM führen musste. Noch immer glänzte die Mannschaft nicht in jedem Spiel, doch sie hatte allein dank der Popularität ihres Teamchefs viel Kredit in der Öffentlichkeit.

Neue Gesichter im DFB-Team

Neue Spielertypen wie Sebastian Deisler, Oliver Neuville, Bernd Schneider, Miroslav Klose und vor allem Michael Ballack gaben dem Prügelkind der Nation (nach dem EM-Aus) ein sympathisches Gesicht. Dass sie Weltmeister werden müsste, verlangte jedoch keiner von dieser Mannschaft. Zwar war der deutsche Fußball im Frühjahr 2002 dabei, die Talsohle zu verlassen, und die Fans freuten sich über zwei Europapokalendspiele mit Bundesliga-Beteiligung im Mai 2002, was es seitdem nicht mehr gegeben hat. Aber dass Völlers Auswahl weiter kommen sollte als Berti Vogts’ erfahrene Mannschaften von 1994 und 1998 (zweimal Aus im Viertelfinale), das glaubte wohl niemand.

Zumal das Verletzungspech unbarmherzig zuschlug und die Reihen stark dezimierte: Nach Abwehrchef Jens Nowotny erlitt zwei Tage vor dem Abflug nach Japan auch Berlins Mittelfeldstar Sebastian Deisler einen Kreuzbandriss. Zuvor hatte es schon Christian Wörns und Alexander Zickler erwischt. Bayern Münchens Mehmet Scholl sagte zudem mangels Fitness ab, und noch am letzten Tag vor dem Abflug tat es ihm der Dortmunder Jörg Heinrich gleich. Zeitgemäß auf seiner eigenen Homepage teilte er mit, dass er in seiner „derzeitigen körperlichen Verfassung keine Hilfe für unsere Nationalmannschaft sein kann“.

Als der Kader am 22. Mai mit dem Lufthansa-Flug 740 von Frankfurt nach Miyazaki aufbrach, schrieb die Deutsche Presse-Agentur: „Das Traumziel Finale traut der deutschen Mannschaft nach einer von Verletzungen, zweifelhaften Absagen und vielfältigen Problemen geprägten Vorbereitung keiner ernsthaft zu.“ Bezeichnend das Ergebnis einer Forsa-Umfrage: Demnach glaubten nur zwei Prozent der Deutschen an den Titel. Zeugwart Manfred Drexler immerhin kalkulierte pflichtgemäß mit dem Finale und nahm 440 Trikots mit. Pro forma wurde auch eine Titelprämie ausgehandelt, sie betrug 92.000 Euro pro Kopf. Geld gab es aber bereits für den Einzug ins Achtelfinale (25.560 Euro).

Den größten Optimismus verströmten noch die Politiker. Bundespräsident Johannes Rau wurde so zitiert: „Mit allen Fußballfans in Deutschland sage ich Ihnen: Bringen Sie es möglichst weit.“ Und Bundeskanzler Gerhard Schröder setzte voll auf Völler: „Immer Erster werden zu wollen - das kann man nicht realisieren. Aber die Nationalmannschaft kann weit kommen. Rudi Völler hat Kameradschaft reingebracht. Das ist ein echtes Team geworden, und das wird bei der WM auch sichtbar werden.“ Eine zutreffende Politiker-Prognose.

Auch Rudi Völler sollte mit einer allerdings vieldeutigen Vorhersage Recht bekommen: „Wir werden für die eine oder andere Überraschung sorgen!“

Nach elfstündigem Flug bezog der erstmals 23-köpfige Kader - zuvor waren maximal 22 Spieler erlaubt - mitsamt Betreuer-Tross im „Sheraton Phoenix Golf Resort“ zu Miyazki sein erstes Quartier. Das Personal stand Spalier und empfing die Gäste mit schwarz-rot-goldenen Fahnen. Bis zum Auftakt gegen den vermeintlich leichtesten Gruppengegner Saudi-Arabien verblieben noch acht Tage Zeit, aus dem Kader ein Team und eine erste Elf zu bilden.

Stammplätze hatten natürlich die Garanten der WM-Teilnahme. „Über allem strahlt natürlich unser Kapitän Oliver Kahn“, sagte Völler und nannte als weitere Führungskräfte im Mittelfeld Michael Ballack und Liverpool-Legionär Dietmar Hamann. In der Abwehr war nach Nowotnys Ausfall sein Leverkusener Mitspieler Carsten Ramelow zum Chef aufgerückt, Thomas Linke von den Bayern war im Zentrum gesetzt. Schon auf den Außen herrschte Unklarheit, da Marko Rehmer verletzt angereist und Heinrich abgesprungen war. Rehmer meldete sich zwar nach einem 10:0 gegen eine japanische Schüler-Auswahl „wieder fit“, doch Völler zweifelte und war froh, im Bremer Torsten Frings eine starke Alternative zu haben. Im Sturm war der junge Kaiserslauterer Miroslav Klose nach seiner zweiten Profisaison ebenso gesetzt wie Bayerns Sturm-Tank Carsten Jancker, der jedoch heftig in der Kritik stand. Er hatte in der Bundesliga kein einziges Saisontor erzielt, aber Völler hielt an ihm fest. Ein absolutes Novum in der WM-Geschichte Deutschlands.

Titelverteidiger Frankreich startet mit Niederlage

Ungewöhnlich begann auch diese Weltmeisterschaft. Am 31. Mai startete sie in Seoul nach 40-minütiger Eröffnungszeremonie gleich mit einer echten Sensation. Weltmeister Frankreich erlag dem Fluch, der auf Titelverteidigern in Eröffnungsspielen zu liegen scheint und versagte wie sechs Vorgänger zuvor. Nur Deutschland 1994 und Brasilien 1998 war es gelungen zu gewinnen. Frankreich aber verlor - gegen WM-Neuling Senegal, dessen Spieler Papa Diouf zum ersten WM-Helden 2002 wurde. Sein Tor löste in Dakar spontane Straßenfeiern aus. Es war ein Sieg, der besonders süß schmeckte, war Frankreich doch einst Kolonialmacht in Senegal gewesen. Die Franzosen trafen nur Latte und Pfosten, vermissten ihren angeschlagenen Superstar Zinedine Zidane und machten lange Gesichter. Sein Fehlen haftete sich übrigens ein Medizinmann aus dem Senegal an, der öffentlich behauptet hatte, sein Trommelzauber habe Zidanes Muskelfaseriss bewirkt.

Frankreichs Trainer Roger Lemerre beschwichtigte derweil die Lage: „Es ist nichts passiert. Wir gewinnen die nächsten beiden Spiele und kommen weiter.“ Irrtum. In einer Vorrunde, die mehr Favoriten denn je beerdigte, gehörte der Weltmeister zu den größten Enttäuschungen überhaupt. Als am Ende in Gruppe A Bilanz gezogen wurde, stand die Grande Nation auf dem letzten Platz, mit einem Punkt und ohne jedes Tor. Gegen Uruguay hatte es noch zu einem 0:0 gereicht, aber die wackeren Dänen hatten ihnen einen weitere Niederlage zugefügt (0:2). Auch der erste Einsatz Zidanes führte nicht zum Erfolg, und der Star von Real Madrid knurrte: „Wir haben unseren Job auf dem Platz nicht gemacht.“

Dabei hatte keine Mannschaft häufiger aufs Tor geschossen (42-mal), aber selbst drei amtierende Torschützenkönige im Kader brachten den Ball nicht im gegnerischen Gehäuse unter. Auch Uruguay blieb auf der Strecke, das zwar das aufregendste Vorrundenspiel überhaupt lieferte, aber beim 3:3 gegen Senegal (nach 0:3) seine Aufholjagd etwas zu früh beendete.

Maradona: "Ich fühle mich mitschuldig"

Auch andere Gruppen meldeten erstaunliche Abschlusstabellen. Kaum weniger blamabel als Frankreich war das Abschneiden von Topfavorit Argentinien. In der schwierigen Gruppe F mit Schweden und England blieb nur der dritte Platz, weil es im Prestigekampf gegen die Briten diesmal eine Niederlage setzte. David Beckham nahm vom Elfmeterpunkt Revanche für das Ausscheiden 1986 und 1998, an dem er selbst mit einem Platzverweis beteiligt gewesen war. „Ich habe vier Jahre auf die Revanche warten müssen“, stammelte der erste globale Popstar des Fußballs, dem seine Frau Victoria den eigenen Friseur nach Japan nachschickte, um den blondierten Hahnenkamm zu stylen. England und Schweden nutzten den argentinischen Schwächeanfall zur Unzeit - und einer, zu dessen Zeiten so etwas unvorstellbar gewesen wäre, nahm alle Schuld auf sich.

„Ich fühle mich mitschuldig, weil ich nicht im Stadion war“, sagte Diego Maradona nach dem entscheidenden 1:1 gegen die Schweden. Bei dieser Partie erhielt Stürmer Claudio Caniggia übrigens auf der Bank sitzend die Rote Karte. Er hatte den arabischen Schiedsrichter beleidigt, und das muss Herr Ali Busjaim wohl verstanden haben. In Argentinien, damals ohnehin von einer schweren Wirtschaftskrise gebeutelt, brachen Straßenschlachten aus, die Polizei musste 60 Randalierer festnehmen. Die Spieler von Trainer Marcelo Bielsa immerhin schämten sich: „Es ist schwer, jetzt nach Hause zu kommen und das den Leuten zu erklären“, sagte Claudio Lopez, während Superstar Gabriel Batistuta seine Karriere spontan beendete.

Noch ein dritter Favorit kam nicht über die Vorrundenhürde. Portugal, das in der Qualifikation in Europa die meisten Tore geschossen hatte (33), blieb in Gruppe D hinter Südkorea und den USA zurück. Die Auftaktpleite gegen die USA (2:3) wurde zwar gegen Polen (4:0) beeindruckend egalisiert, doch im entscheidenden Spiel gegen den Gastgeber verloren zwei Spieler die Nerven. Pinto und Beto flogen vom Platz, und gegen neun Portugiesen gelang Südkoreas Park das 1:0, das den Gastgeber erstmals eine Vorrunde überstehen ließ. „Auch Portugal auf dem Heldenfriedhof“, titelte die Bild-Zeitung, und allmählich wurde allen klar, dass diese WM keinen programmgemäßen Verlauf nehmen würde. Wer jetzt noch im Turnier war, der konnte nicht nur theoretisch Weltmeister werden, sondern auch praktisch.

Paukenschlag zu Beginn

Deutschland war noch im Turnier, in das es mit einem Paukenschlag gestartet war. Gegen ein überfordertes Saudi-Arabien, dessen Spieler hinterher nicht mehr von der Achtelfinalprämie (je 100.000 Dollar und ein Mercedes) zu träumen wagten, gab es in Sapporo ein furioses 8:0. Es war der höchste deutsche WM-Sieg aller Zeiten im ersten deutschen WM-Spiel unter einem Hallendach. Zur Pause stand es bereits 4:0, und ein neuer Stern war aufgegangen am WM-Himmel. Miroslav Klose verzückte die Zuschauer mit seiner Sprungkraft, die ihm drei Kopfballtore ermöglichte und als Zugabe jeweils einen Salto Mortale. „Salto-Klose“ war der Star des Abends, der in Deutschland ein früher Nachmittag war. Die restlichen Treffer markierten Michael Ballack, Carsten Jancker, Oliver Bierhoff, Bernd Schneider und Thomas Linke.

Die Bild-Zeitung titelte „Endlich! Wir sind wieder wer“, und das Ausland zollte Respekt, jeder auf seine Art. „Die deutsche Panzertruppe hat keinen Rost angesetzt“, staunte etwa Italiens Corriere della Serra. Österreichs Kurier meldete militärisch knapp: „8ung, die Deutschen sind wieder da!“

Dass es so nicht weitergehen würde, war allen klar. Gegen die Iren erlitt die Mannschaft den ersten heilsamen Dämpfer. Bis in die 92. Minute führte sie zwar mit 1:0 durch einen weiteren Klose-Kopfball, doch 69 Sekunden vor Ende der Nachspielzeit schloss Robbie Keane mit seinem Treffer das Tor zum Achtelfinale vorläufig wieder. Die gerechte Strafe für eine durchwachsene Leistung: „Willkommen zurück auf dem Teppich“, textete Bild nun, und Völler betrieb Aufbauarbeit: „Wir sind weiterhin Tabellenführer, wir haben vier Punkte - und ich glaube, nach Adam Riese reicht in der nächsten Woche gegen Kamerun ein Unentschieden, um ins Achtelfinale zu kommen. Wir fallen jetzt bestimmt nicht in ein Loch.“

Der Kritik getrotzt

Das nicht, aber erste Fallgruben wurden schon ausgehoben. Kritik entzündete sich an der Aufstellung. Von Christian Ziege, meinte der 74er-Weltmeister Paul Breitner, „kam einfach viel zu wenig“. Franz Beckenbauer, im DFB-Quartier von Torwarttrainer und Spezi Sepp Maier im Golf geschlagen, monierte: „Wir haben keinen echten Chef!“ und erntete Widerspruch von Ballack: „Der Franz hat nur bedingt Recht. Du brauchst einen Chef doch nur, wenn die Ordnung nicht stimmt.“

Mit Oliver Bierhoff schlug der erste Reservist Krach, die Welt am Sonntag zitierte ihn so: „Ich würde mich spielen lassen. Und ich sehe mich als Punktsieger über Jancker.“ Völler sah es anders und änderte nichts im Endspiel um den Achtelfinaleinzug, den die Iren mit einem Sieg über Underdog Saudi-Arabien gewiss schaffen würden. Deutschland oder Kamerun, wer würde ihnen folgen? Die Afrikaner wurden pikanterweise von Winfried Schäfer trainiert, und der einstige Karlsruher Kulttrainer, gebürtig aus Mayen in der Vordereifel, mutierte zum Afrikaner: „Ich bin ein Löwe und will mit meiner Mannschaft Afrika vertreten“, beteuerte er vor der Partie in Shizuoka. Kollege Rudi Völler gestand ein: „Der Druck ist unmenschlich!“

Seine Mannschaft erlöste ihn und die vielen Fans in der Heimat, indem sie wieder die Tugenden aus den Ukraine-Spielen abrief. Sie behielt die Nerven und beeindruckte auch bei 93 Prozent Luftfeuchtigkeit durch ein hohes Laufpensum. Nach 40 Minuten wurden die Wege noch länger und die Beine noch schwerer, mussten sie doch nun für Carsten Ramelow mitlaufen. Der Leverkusener war als fünfter Deutscher der WM-Historie vom Platz gestellt worden, weil er dem schnellen Samuel Eto’o ein Bein gestellt hatte.

Kahn bringt Kamerun zur Verzweiflung

Völler traf die richtigen Maßnahmen und wechselte den Bremer Marco Bode für Jancker ein. Prompt stach der Joker und erzielte nach Kloses brillanter Vorlage das 1:0, dem der Lauterer noch sein fünftes WM-Tor - alle per Kopf - folgen ließ. Ein 2:0 in Unterzahl gegen den Afrikameister, der an Oliver Kahn regelrecht verzweifelt war. „Wenn euch der Olli nicht entführt wird, kommt ihr bis ins Halbfinale“, sagte Gratulant Schäfer und reiste enttäuscht ab. Deutschland aber machte weiter bei dieser seltsamen WM, wo es bei den großen Wettbüros nun schon auf dem sechsten Platz geführt wurde in der Liste der Titelkandidaten.

Natürlich gab es Mannschaften, die besser gespielt hatten, doch das musste sich Deutschland bei WM-Endrunden auf dem Weg ins Finale ja oft anhören. Aber es schwang auch Bewunderung mit in den Kritiken. „Deutschland ist wie so oft auferstanden“, schrieb Spaniens AS, das auch mit seiner Auswahl überaus zufrieden sein konnte. Die Spanier gewannen in der Vorrunde alle Spiele.

In dieser Gruppe B schlüpfte übrigens Paraguay durch ein 3:1 über Slowenien noch durch die Öffnung, weil Südafrika über den Spielstand der Parallelbegegnung nicht informiert war und glaubte, sich ein 2:3 gegen Spanien leisten zu können. „Wir haben nicht geglaubt, dass uns Paraguay noch einholen kann“, jammerte Trainer Jomo Sono, der später wohl nie mehr auf die Segnungen der Kommunikationstechnik verzichtet haben dürfte. So reisten die Afrikaner ab, weil 5:5 Tore schlechter als 6:6 sind - und sie kamen um das Vergnügen, auf Deutschland zu treffen.

Brasilien marschiert durch die Vorrunde

Es gab übrigens auch Favoriten, die überzeugten. Brasilien marschierte mit 11:3 Toren ins Achtelfinale und spielte beeindruckenden Offensivfußball. Rivaldo allerdings beeindruckte durch seine Schauspielkünste und wurde eines der ersten Opfer der neuen FIFA-Regel, wonach Schwalben und sonstiges Simulantentum Geld kosten sollten. Rivaldo wurde für seine Einlage gegen die Türken, als er an der Eckfahne zusammenbrach und einen Platzverweis provozierte, mit 7800 Euro Strafe belegt.

Die Türken überstanden erstmals überhaupt die Vorrunde, Costa Rica schied punktgleich aus. Die Enttäuschung dieser Gruppe war China, von dem man zwar keine Wunderdinge erwartet hatte, aber doch wenigstens ein Tor. Zumal mit Weltenbummler Bora Milutinovic ein Trainer auf der Bank saß, der bei seiner fünften WM in Folge mit fünf verschiedenen Ländern erstmals in der Vorrunde scheiterte.

Dafür schnitten die Gastgeber besser ab. Sie retteten das nicht sonderlich gut besuchte Turnier - es gab bedingt durch Fehler beim Ticketverkauf wieder teilweise Chaos und leere Ränge - und ihre Ehre. Japan setzte sich gegen Belgien (Zweiter), Russland und Tunesien souverän durch, und der französische Trainer Philipp Trousier sprach, nachdem es geschafft worden war, von „einem historischen Tag für Japan“. Vier Jahre hatte er das Team darauf hingedrillt, nun weinten viele der 50.000 Fans in Osaka vor Freude nach dem 2:0 über Tunesien. Sein russischer Kollege Oleg Romanzew, von dem sich Staatschef Putin nicht weniger als den Titel gefordert hatte, trat sofort zurück, und in Moskau brannten Autos.

"Trap" schimpft über die Schiedsrichter

Bliebe noch die Gruppe mit Italien, das vom früheren Bayern-Trainer Giovanni Trapattoni betreut wurde. Der war seit 1998 Kult durch eine Wut-Rede in Holper-Deutsch. In Ibaraki kam es zu einer Neuauflage, nur in seiner Muttersprache - und nun war seine Zielscheibe der Schiedsrichter Graham Poll aus England. Der hatte gegen Kroatien (1:2) zwei Tore der Italiener aberkannt, weshalb sich Trapattoni nach Abpfiff ereiferte: „Wir sind um den verdienten Lohn gebracht worden!“ Später bot er noch seinen Rücktritt an, aber man konnte ihn wieder beruhigen.

Jedenfalls holperte Italien durch diese Vorrunde irgendwie ins Ziel, del Piero köpfte fünf Minuten vor Schluss den erlösenden Ausgleich gegen Gruppensieger Mexiko. Der WM-Dritte von 1998, Kroatien, dagegen verspielte mit fünf Bundesliga-Legionären seine gute Ausgangslage durch ein 0:1 gegen Ecuador im angeblich schlechtesten WM-Spiel 2002.

Bei dieser Begegnung erschien die allgegenwärtige Polizei übrigens sogar auf der Pressetribüne, da ihr ein Radioreporter Ecuadors suspekt vorkam. Er hatte seine Haare in den Landesfarben gefärbt und habe sich auch sonst „auffällig“ verhalten. Dazu passte auch die Anekdote, dass Rudi Völler und seinem Assistenten Michael Skibbe der Einlass ins Teamquartier in Jeju verweigert wurde, weil sie keine Akkreditierung dabei hatten. Die Welt war nervöser denn je in jenen Tagen, die noch im Zeichen des Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA standen.

"Gewinne, oh Korea!"

Skurrile Geschichten am Rande der Spiele kennzeichnen jede WM. In Asien gab es davon mehr denn je. Typisch, wenn der Fußball plötzlich Menschen in ihren Bann zieht, die mit ihm nicht groß geworden sind. Hysterisch fingen die Japanerinnen an zu kreischen, wenn "Muskelpakete" wie Carsten Jancker plötzlich beim Jubeln das Trikot auszogen. Und uniformiert gingen sie zu den Spielen ihrer Mannschaft, tauchten das Stadion in ein kräftiges Blau oder Rot. Die Koreaner wiederholten ihren vielseitig verwendbaren Schlachtruf monoton über das ganze Spiel hinweg: „Tae han min guk“ (Republik Korea), gelegentlich abgelöst durch „Oh Pilsung Korea (Gewinne, oh Korea).

Manche Form von Fanatismus ging entschieden zu weit. Vor dem letzten Gruppenspiel verbrannte sich ein Landsmann und hinterließ einen Abschiedsbrief: „Ich wähle den Tod, damit Südkorea weiterkommt. Ich spiele als 12. Mann mit!“ In Südkorea gingen tausende Guus-Hiddink-Puppen zu Ehren des Nationaltrainers bei der WM über die Ladentheken. Überhaupt das Geschäft mit der WM: Wer in Tokios Sportsbars ein Spiel schauen wollte, musste plötzlich umgerechnet bis zu 35 Euro Eintritt bezahlen.

Achtelfinale: Deutschland lernt Südkorea kennen

Ab dem Achtelfinale lernte auch die deutsche Mannschaft Südkorea kennen. Die Vorrunde verbrachte sie in Japan, das Spiel gegen Paraguay fand nun auf Jeju in der Stadt Seogwipo statt. Ein Stadion hatte es dort nie gegeben, es wurde extra für die WM gebaut. Selbst ein WM-Publikum versuchten die Gastgeber zu konstruieren, als sich ein kläglicher Besuch abzeichnete, wurden Schulklassen ins Stadion gebracht. Trotzdem kamen nur 25.176 Zuschauer ins „Cheju World Cup Stadium“ und verliehen der bedeutsamen Partie einen eher tristen Rahmen.

Miroslav Klose hatte zwei Tage vor der Partie übrigens eine schlaflose Nacht, weil Anrufer mit spanischer Stimme, vorgeblich Reporter, auf sein Zimmer durchgestellt worden waren. Der DFB intervenierte daraufhin an der Rezeption und verhinderte weitere Störmanöver gegen den besten Torschützen der WM zu jenem Zeitpunkt. Ihr Ziel hatten die Störenfriede aber offenbar erreicht, denn Klose machte sein schwächstes Spiel und blieb erstmals torlos.

In einer mäßigen Partie, die in Deutschland zum Frühstück serviert wurde (Übertragungsbeginn: 8.30 Uhr), stach ein anderer Stürmer zu: Oliver Neuville, einer der vier Neuen in der Startelf von Rudi Völler, in der ferner Marko Rehmer, Jens Jeremies und Marco Bode ihren Einstand gaben. Die Umstellungen taten dem Spielfluss nicht gut, und Völler fand gar, man habe „in der ersten Halbzeit gar keinen Fußball gespielt“. In der Kabine wies er zur Sicherheit daraufhin, dass man kein Freundschaftsspiel austrage.

Es wurde besser, dennoch drohte eine Verlängerung. Es lief bereits die 88. Minute, als Neuville eine Flanke Bernd Schneiders verwandelte. Die "Leverkusen-Connection" bahnte den Weg ins Viertelfinale, das sich die Elf redlich verdient hatte. Paraguay setzte nur auf Mauertaktik und die Freistoßkünste seines exzentrischen Torwarts Jose Luis Chilavert, der es nach der Pause tatsächlich einmal versuchte. „Wenn er mir ein Tor reingehauen hätte, hätte ich auf der Stelle aufgehört, Fußball zu spielen“, witzelte Kahn und schaute dabei doch ganz ernst.

Was er danach sagte, meinte er auch ernst: „Wir können jetzt auch bis ins Finale durchlaufen. Wir müssen natürlich noch mehr Fußball spielen und noch mehr kombinieren. Man muss sich immer ein bisschen verbessern, weil die Gegner jetzt auch immer besser werden.“

Der nächste Gegner hieß USA, der Mexiko durch Tore von McBride (früher VfL Wolfsburg) und Donovan (früher Leverkusen) ausschaltete. Höher gewannen nur die Engländer, die Dänemark schon zur Pause besiegt hatten. Das 3:0 war auch der Endstand. Am 16. Juni fiel das erste Golden Goal der WM 2002 durch einen gewissen Henri Camara, der damit Senegal sensationell ins Viertelfinale und Schweden nach Hause schoss. Afrikas letzter Vertreter schaffte es nun als zweites Land des Schwarzen Kontinents, in ein Viertelfinale einzuziehen - und wie Vorreiter Kamerun 1990 feierten sie ihre Tore mit einem Tänzchen an der Eckfahne.

Spanien besiegt Irland im Elfmeterschießen

Spanien blieb auch im Rennen, doch musste im packenden Spiel gegen Irland (1:1) schon ein Elfmeterschießen die Entscheidung bringen. Die Iren verschossen gleich drei Bälle, und Spanien feierte seinen jungen Torwart Iker Casillas, der mit Real Madrid das Champions-League-Finale gegen Bayer Leverkusen gewonnen hatte und erst kurz vor der WM zur Nummer eins aufgerückt war. Brasilien erlitt einen fußballerischen Rückschlag und kam gegen Belgien dennoch weiter. Ronaldo und Rivaldo schossen die Tore zum 2:0, ein Treffer des Belgiers Marc Wilmots wurde aberkannt. Wasser auf die Mühlen der Schiedsrichter-Kritiker, die bei dieser WM lauter denn je waren.

Zwei Überraschungen beendeten das Achtelfinale. Dafür sorgten die Gastgeber. Japans Aus gegen die Türkei (0:1) kam ebenso unerwartet wie Südkoreas 2:1 über Italien. Wieder war Trapattoni außer sich, und man konnte ihn verstehen. Ein Platzverweis für Totti in der Verlängerung und der aberkannte Ausgleich von Tommasi brachten Italien zum Weinen. Dabei hatten nur zwei Minuten zum Sieg gefehlt, ehe Südkorea noch ausglich.

Den Siegtreffer per Golden Goal erzielte ausgerechnet der in Italien bei Perugia spielende koreanische Nationalheld Jung Hwan Ahn, der daraufhin von seinem Klub entlassen wurde. „Wer Italien eliminiert, kommt nicht zurück“, sagte sein Präsident Luciano Gaucci und bot ihn zum Verkauf an. Wenig hatte Italien auch davon, dass Schiedsrichter Moreno Ende 2002 von der Schiedsrichterliste der FIFA gestrichen wurde.

Nur vier Europäer im Viertelfinale

Im Viertelfinale dieser verrückten WM standen nur noch vier Europäer. Italien, Frankreich und Portugal schauten zu, wie Länder wie Senegal Südkorea und die Türkei um den Weltpokal spielten. Die Säulen der Fußballwelt gerieten so ins Wanken. Doch Deutschland war immer noch dabei. Nach dem nächsten WM-Spiel kamen wieder die Fragen nach dem Warum auf, denn es war das schlechteste der DFB-Auswahl anno 2002. Gewonnen wurde es trotzdem. Michael Ballack köpfte in Ulsan nach 39 Minuten das Tor des Tages gegen die Amerikaner, und Oliver Kahn verhinderte etwa ein halbes Dutzend amerikanischer Tore in Weltklassemanier.

Diesmal wackelte die erst einmal bezwungene Abwehr, in der mit Sebastian Kehl und Christoph Metzelder zwei junge Spieler von Meister Borussia Dortmund standen, wie eine Birke im Orkan. Einmal schien sie geschlagen, da rettete Torsten Frings mit der Hand auf der Linie, was nicht geahndet wurde. Und im Tor stand der Unbezwingbare, der seit diesem Tag mit dem Beinamen „Titan“ leben muss - eine Kreation der Bild-Zeitung. Der Kicker kleidete sein Kompliment in eine Frage mit kritischem Unterton: „Kann ein Mann Weltmeister werden?“ TV-Kommentator Marcel Reif kritisierte gar: „Das Spielerische bei der deutschen Mannschaft fällt unters Armenrecht.“

Aber sie waren schon wieder dort, wo alle hinwollen, aber nur die wenigsten hinkommen: im Halbfinale. „Die ganze Welt fragt sich, wie wir da hingekommen sind - und staunt über unseren Fußball (leider in negativer Hinsicht)“, schrieb die Bild-Zeitung. Ihr Kolumnist Franz Beckenbauer sagte es bayerisch-derb im Fernsehstudio: „Bis auf Oliver Kahn kannst du alle in einen Sack stecken und draufhauen - du triffst immer den Richtigen.“ Tony Sanneh von den unterlegenen US-Boys variierte Gary Linekers Credo: „Das war ein typisch deutsches Spiel. Die können noch so schlecht spielen, sie gewinnen immer.“ Es war paradox, denn es fand sich wirklich niemand im deutschen Lager, der zufrieden war nach dem Erfolg.

Rudi Völler war erfrischend ehrlich: „Das Halbfinale ist allerdings unsere Endstation, wenn wir uns nicht erheblich steigern.“ Zumal das vielleicht auch nichts helfen würde, denn der nächste Gegner schien mit den Schiedsrichtern im Bunde. Wieder gab es Proteste nach dem Sieg der Gastgeber, die diesmal Spanien ausschalteten. Ein Tor hatten sie zwar nicht erzielt, aber da die beiden spanischen Tore vom ägyptischen Schiedsrichter aberkannt worden waren (wegen Abseits und einer Flanke im Aus), rettete sich Korea ins Elfmeterschießen, das prompt gewonnen wurde. „Spanien fiel dem Raub des Jahrhunderts zum Opfer. Diese WM ekelt uns an“, schrieb Marca, und die Bild-Zeitung fragte besorgt: „Werden wir jetzt auch verpfiffen?“

Ronaldinho überlistet Seaman

Spaniens lange Reihe an WM-Tragödien setzte sich also fort, und auch England sollte wieder nicht Weltmeister werden. Im vorweggenommenen Endspiel unterlag es Brasilien mit 1:2, Ronaldinho überlistete dabei den 38-jährigen Torwart David Seaman mit einem ins Tor geflankten Freistoß, den nur ein Brasilianer genauso beabsichtigt haben kann. „Ich habe eine Hereingabe erwartet, aber Ronaldinho ist der Schuss abgerutscht“, bettelte Seaman um Verständnis für seinen Fehler, der England die Heimreise einbrachte. Ronaldinhos Freude wurde getrübt, er flog noch vom Platz und fehlte im Halbfinale gegen die Türkei.

Ja, die Türkei. Sie setzte sich im Außenseiterduell gegen Senegal durch. Ilhan Mansiz, gebürtig aus Kempten im Allgäu, schoss in der 94. Minute das bislang letzte Golden Goal der WM-Historie, die Regel wurde danach wieder abgeschafft. Erstmals war die Türkei unter den letzten Vier der Welt, ein Land verfiel in Hysterie. Aber auch in Dakar wurde gefeiert, Senegal hatte Großes für Afrika Fußball geleistet.

Drei Kontinente im Halbfinale vertreten - ein Novum

Im Halbfinale waren noch drei Kontinente vertreten, das hatte es noch nie gegeben. Und noch nie war ein Vertreter Asiens so weit gekommen wie jetzt Südkorea. Der Gegner hieß Deutschland. Erst der Halbfinaleinzug machte dieses Turnier finanziell zu einem Gewinn für den DFB, jeder Teilnehmer erhielt allein dafür 2,75 Millionen Euro.

Aber ums Geld ging es den Spielern nicht, da sie so kurz davor standen, Weltmeister zu werden. In Seoul spielte die Völler-Mannschaft gegen ein ganzes Stadion, und diese Atmosphäre pushte sie zu einer starken Leistung. Die allseits geforderte Steigerung, das war schon in den ersten Minuten erkennbar, trat wirklich ein. Was umso erstaunlicher ist, als die Leverkusener Spieler um Ballack bereits bis zu 70 Pflichtspielen seit Saisonstart in den Knochen hatten.

Aber sie gingen voran an diesem Tag. Carsten Ramelow war nach seiner Rotsperre ins Zentrum zurückgekehrt und hielt die Abwehr zusammen, Bernd Schneider war auch an diesem Tag der Kreativste und Oliver Neuville bereitete das Tor des Tages vor, das Michael Ballack schießen sollte. Dieses Tor war die Geschichte dieses Spieles. Eine mit einem tragischen Vorspiel. In der 71. Minute des hin- und herwogenden Kampfes beging Ballack am eigenen Strafraum in höchster Not ein Foul. Von hinten in die Beine - Schiedsrichter Urs Meyer blieb keine andere Wahl, als ihn zu verwarnen. Es war seine zweite Gelbe Karte im Turnier, und damit war Ballack gesperrt - für das Finale, sofern man es erreichen würde.

Ballack: Erst Finalsperre kassiert, dann Siegtor markiert

Während für andere nun eine Welt zusammenbrechen würde, zeigte Ballack eine fantastische Reaktion. Er tat alles dafür, dass wenigstens seine Kameraden am 30. Juni in Yokohama auf dem Feld stehen durften. Ganze drei Minuten nach dem tragischen Moment schoss er im zweiten Anlauf eine Flanke Neuvilles zum 1:0 ein. Es ist das Tor des Tages, der Treffer ins siebte deutsche WM-Finale.

„Was kein vernünftiger Mensch für möglich gehalten hat, ist geschehen“, schrie ARD-Kommentator Heribert Fassbender in sein Mikrofon. Das hörten schon nicht mehr alle der 22,58 Millionen TV-Zuschauer (Marktanteil: 85,2 Prozent), spontane Jubelfeiern brachen an einem hellichten Dienstagnachmittag in ganz Deutschland aus. Autokorsos auf der Reeperbahn, am Kurfürstendamm, auf der Leopoldstraße, im ganzen Land. Nur einer jubelte nicht.

In der Kabine, erst nach getaner Arbeit, haderte Ballack mit seinem Schicksal. Von einem Weinkrampf war in großen Lettern die Rede, doch Oliver Kahn hatte auch etwas anderes zu berichten: „Ballack hat schon geflachst und gesagt: Gott sei Dank bin ich nicht dabei, sonst würden wir wieder nur Zweiter.“ Denn im Frühjahr war er mit Leverkusen in Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League stets Zweiter geworden.

Kahn, der wieder nicht zu bezwungen war, sah Ballacks Einsatz als Symbol für den Teamgeist. „Man muss vor ihm den Hut ziehen, denn er hat ein Foul gemacht, dass er für die Mannschaft und für das Weiterkommen machen musste. Ein typisches Beispiel für die Charaktere in der Mannschaft.“

Ronaldo schießt Brasilien ins Finale

Die Koreaner trugen den Ausgang mit Fassung. Für beide Teams gab es Beifall. Dennoch stand das Land still für ein paar Minuten der Trauer, einer Trauer ohne Exzesse, wie sie es etwa in China nach dem Vorrunden-Aus gegeben hatte. Trainer Guus Hiddink fand als Erster Worte: „Wir hatten zuviel Respekt.“ Die Auslandspresse nahm die Gelegenheit wahr, die Erfolge der Südkoreaner, die vier Monate vor WM-Beginn mit der Vorbereitung begonnen hatten, zu relativieren: „Eine saubere Schiedsrichterleistung und schon scheidet Südkorea aus“, meinte die spanische AS.

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Am nächsten Tag trafen in Saitama Brasilien und die Türkei erneut aufeinander. Im Gruppenspiel hatte es viel böses Blut, jeweils einen Elfmeter und einen Platzverweis gegen die Türken gegeben. Doch die befürchtete Treterei fand nicht statt. Die 61.058 Zuschauer sahen eine spielerisch ansprechende Partie, die wie am Vortag durch einen einzigen Moment entschieden wurde. In der 49. Minute umkurvte Torjäger Ronaldo drei Türken und spitzelte den Ball mit einem Aufsetzer ins lange Eck.

Es blieb bei diesem 1:0, und diesmal mäkelte niemand am Sieger herum. „Der Bauchtanz verliert gegen die Samba“, dichtete ein türkischer Reporter. Türken-Trainer Senol Günes fand lobende Worte für sein Team: „Brasilien hatte zwei schwere Spiele - beide gegen uns.“

Traumfinale perfekt

Nun also war das Traumfinale perfekt. Erstmals überhaupt trafen die WM-Dauerbrenner Deutschland und Brasilien bei einer Weltmeisterschaft aufeinander. Die hohe Politik schwebte ein: Der Bundeskanzler, der Bundespräsident und auch Kanzlerkandidat Edmund Stoiber drückten vor Ort die Daumen. Plötzlich war die deutsche Mannschaft ihren Anhängern, von denen bis dahin nur 2000 nach Asien gekommen waren, viel Geld wert. Auf dem Schwarzmarkt wurden bis zu 750 Euro für ein Finalticket gezahlt, und mancher buchte noch einen Drei-Tages-Trip für 2000 Euro im Reisebüro.

Wer es schaffte, sah noch am Vorabend das kleine Finale, das der Türkei den größten Erfolg ihrer Fußballgeschichte brachte. Gastgeber Südkorea wurde mit 3:2 bezwungen, und Hakan Sükur schoss das schnellste WM-Tor aller Zeiten, elf Sekunden nach Anpfiff. Arm in Arm verließen beide Mannschaften das Feld, ehe sie ihre Trainer durch die Luft schleuderten. Versöhnliche Gesten.

Das Finale zog die Welt in ihren Bann. „Die Weltmeisterschaft der Überraschungen bekommt doch noch ein logisches Endspiel“, schrieb eine holländische Zeitung. Zwei große Fußball-Nationen kämpften um den Pokal, damit war nach dem Turnierverlauf kaum noch zu rechnen gewesen. Im DFB-Quartier ging es am Vortag in Yokohama zu wie im Bienenstock. 47 Kamerateams, 60 Radioreporter und 300 Printjournalisten aus aller Welt belagerten das Foyer im „Sheraton Bay and Tower“-Hotel vor der Pressekonferenz. Rudi Völler forderte schlicht von allen Akteuren in seiner Elf, „das Spiel des Lebens“ zu machen.

Neuville an den Pfosten, Deutschland ohne Glück

Mit 14:1 Toren war diese Mannschaft ins Finale gekommen, mit drei guten und drei schlechteren Spielen und mit ihren Tugenden, die die ganze Welt fürchtete. Wieso eigentlich sollte sie chancenloser Außenseiter sein?

Als das ZDF seine Finalsendung begann, tippten oder besser wünschten sich 82 Prozent der Teilnehmer an einer Umfrage den WM-Titel.

Aber Ballack fehlte, Bayerns Jens Jeremies ersetzte ihn. Die ersten 20 Minuten gehörten der deutschen Elf, die couragiert nach vorne spielte. Dennoch musste sie froh sein, mit einem 0:0 in die Kabinen zu gehen, weil Kleberson die Latte und Ronaldo Oliver Kahn traf - beides in der 45. Minute. Vorboten brasilianischer Torgefahr, während die deutsche Mannschaft keine Chance herausgespielt hatte.

Miroslav Klose war seit der Vorrunde leer ausgegangen und nahm sich sein Tief leider zum schlechtesten Zeitpunkt. Als es wieder losging, kamen auch die Chancen. Zunächst köpfte Jeremies vorbei, dann wagte Neuville einen Freistoß aus rund 30 Metern. Der Ball prallte an den Pfosten (49.) und mit ihm auch das Glück von den Deutschen ab.

Kahn ganz menschlich

Dann kam auch noch Pech dazu. Der Fußballgott hatte sich die denkbar tragischste Konstellation, diese Finale zu entscheiden, bis zur 67. Minute aufbewahrt. Da passierte es: Einen Schuss von Rivaldo konnte Oliver Kahn, schon vor dem Finale zum besten WM-Torwart gewählt, nicht festhalten. Der Unfehlbare beging nur diesen einen Fehler in Asien und wurde so hart bestraft. Ronaldo holte sich den Abpraller und schoss das 1:0.

Nun bekamen die Zauberer vom Zuckerhut Oberwasser und nutzten gleich ihre nächste Chance: Wieder traf Ronaldo, diesmal unhaltbar, von der Strafraumgrenze. Es war der Schlussakt eines sehenswerten Finales, das einen würdigen Sieger bekam. Dass sich die deutsche Mannschaft nicht wirklich als Verlierer fühlen sollte nach einer solchen Turnierleistung, mag zwar stimmen, doch für Oliver Kahn war es kein Trost. Minutenlang stand, lehnte und kauerte er apathisch am Torpfosten.

Der Titan war wieder ein Mensch. Einer, dem die Sympathien zuflogen wie nie zuvor in seiner von Verbissenheit und Ehrgeiz geprägten Karriere. Eine japanische Studentin schrieb in ihr Internet-Tagebuch: „Kahn hatte damals verloren. Aber er verharrte im Tor, standfest und tapfer - das war pure japanische Samurai-Ästhetik.“

Selbst die Entschuldigung, dass er ab der 52.Minuten nach einem Tritt Ronaldos mit Bänderriss im Finger gespielt hatte, wollte er nicht gelten lassen. „So extrem schlimm ist es nicht“, sagte er. „Wir haben ein WM-Finale verloren, und ich habe den einzigen Fehler des Turniers gemacht. Da gibt es keinen Trost.“

Ehrungen trotz Finalniederlage

Dabei hagelte es Ehrungen für ihn. Kahn wurde von den Journalisten aller Welt ins All Star Team gewählt, dann zum besten Torwart und schließlich zum besten Spieler des Turniers. Er erhielt 147 Stimmen, rund 25 Prozent. Das hatte noch kein Torwart geschafft, seit die Wahl 1982 eingeführt worden ist. Er hätte aber vermutlich alles gegen den WM-Pokal eingetauscht.

Aber der Empfang am nächsten Tag am Frankfurter Römer hätte auch nicht anders ausfallen können. „Was wäre eigentlich hier los gewesen, wenn wir Weltmeister geworden wären?“ fragte ein gerührter Rudi Völler. Es war das aus deutscher Sicht unerwartet schöne Ende einer WM, die in vielerlei Hinsicht einmalig war. Dass der Torschnitt leicht zurückging (2,52), entsprach dem Niveau des internationalen Fußballs jener Tage, der schlechte Zuschauerschnitt (42.268) den Erwartungen an eine WM in zwei Länder ohne Fußballtradition.

Das würde 2006 sicher nicht passieren, denn dann würde Deutschland die Welt begrüßen.