WM 1994: Titelkämpfe im Fußball-Entwicklungsland

Die Fußball-Weltmeisterschaft feiert runden Geburtstag: Zum 20. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum zweiten Mal nach 1950 in Brasilien. Für DFB.de erinnert der Historiker und Autor Udo Muras in einer WM-Serie an alle Turniere der Geschichte. Heute: die WM 1994 in den USA.

Teil 15: Die WM 1994 in den USA

Im 15. Anlauf wurde erstmals eine Weltmeisterschaft in ein Fußball-Entwicklungsland vergeben. In den USA war alles Volkssport, nur nicht Fußball, dort „Soccer“ genannt. Es gab 1994 nicht einmal eine erste Liga, und in den neun WM-Stadien wurden im Alltag Baseball-Spiele ausgetragen.

„Fußball ist ein Spiel, das wir unseren Kindern beibringen, bis sie alt genug für etwas Interessanteres sind“, spottete die Washington Post in einem WM-Knigge für die Landsleute. Mit einem besonders sachkundigen Publikum war daher nicht zu rechnen, auch wenn Franz Beckenbauer nach einem Restaurantbesuch in Chicago amüsiert vermeldete: „Der Ober hat gemeint, mich irgendwo einmal gesehen zu haben.“

Auch mit einer Stimmung wie etwa 1986 in Mexiko war nicht unbedingt zu rechnen. Umso überraschender, dass die WM 1994 als die am besten besuchte in die Annalen eingegangen ist. Sicher, in den USA gab es die größten Stadien aller Turniere, aber dass sie auch dermaßen voll sein würden, verblüffte die Experten in aller Welt. Immerhin war die Anreise für die Anhänger aus den klassischen Fußball-Ländern weit und teuer, aber die Amerikaner selbst eilten in hellen Scharen zu diesem ihnen so seltsam erscheinenden Sport.

3.568.567 Zuschauer in den 52 WM-Spielen

Ihre Begeisterungsfähigkeit adelte das Weltchampionat: Unter dem Strich standen offiziell 3.568.567 Zuschauer in den 52 WM-Spielen, das entsprach einem Schnitt von 68.626 und einer Steigerung von über 20.000 pro Spiel gegenüber Italien 1990. Dabei fehlten mit England und Frankreich Nationen, die in der Regel viele Schlachtenbummler mitbringen. England scheiterte an Norwegen und den Niederlanden, Frankreich verlor in Paris in letzter Minute gegen Bulgarien sein WM-Ticket. Aber gegen Bulgarien sollten später noch andere verlieren...

Europameister Dänemark, 1992 in Schweden ein Sensationssieger, konnte das Niveau nicht ganz halten und verpasste den WM-Flieger um ein Tor, das die wackeren Iren bei gleicher Differenz mehr erzielt hatten.

Afrika stellte erstmals drei Teilnehmer und erhielt den Lohn für Kameruns gutes Abschneiden 1990. Die „Unbezähmbaren Löwen“ waren auch wieder dabei, nun mit Nigeria und Marokko im Schlepptau. Dass die jahrzehntelange geringe Teilnehmerquote Afrikas nicht ganz unberechtigt gewesen sein mag, verdeutlichte sich aber in der Qualifikation: Gleich acht Länder zogen aus wirtschaftlichen Gründen zurück oder brachen mitten im Wettbewerb ab.

Solche Geschichten hörte man aus Südamerika nie: In zwei Gruppen kämpften neun Kandidaten erbittert um vier Plätze. Kolumbien, Argentinien und natürlich Brasilien schafften es erneut, Bolivien aber kam als torgefährlichste Mannschaft des Verbands (22 Treffer) erstmals seit 1950 wieder zu einer WM und gleich zu der Ehre, das Eröffnungsspiel zu bestreiten. Schon zum zehnten Mal wurde Mittelamerika durch Mexiko vertreten. In Asien mühten sich 28 Nationen um zwei Plätze, für einige war Dabeisein schon alles. Sri Lanka etwa ging mit 0:26 Treffern aus seiner Gruppe, Pakistan mit 2:36 und Macao (1:46) verbuchte sogar eine zweistellige Heimniederlage gegen Kuwait. Saudi-Arabien dagegen blieb in elf Partien ungeschlagen und qualifizierte sich souveräner als Südkorea (zum dritten Mal in Folge), das von Japan nur zwei Tore trennte.

Die deutsche Mannschaft genoss das Privileg, als Titelverteidiger qualifiziert zu sein – ein Privileg, das mittlerweile nicht mehr gilt.

Erstmals führte Bundestrainer Berti Vogts die DFB-Auswahl zu einer WM, wobei ihm die Verheißung seines Vorgängers Franz Beckenbauer wie ein Mühlstein auf dem Rücken lastete: „Wir sind über Jahre nicht mehr zu besiegen. Es tut mir leid für den Rest der Welt, aber es ist so“, hatte er im Überschwang der Gefühle nach dem WM-Sieg von Rom gesagt – auch und gerade weil die Spieler aus der sich auflösenden DDR dazukommen würden. Doch vier Jahre später hatte Deutschland sehr wohl erfahren müssen, dass es besiegbar war. Bei der EM 1992 zum Beispiel, als es im Finale ein 0:2 gegen Außenseiter Dänemark gab und niemand sich über einen zweiten Platz in Europa zu freuen vermochte. Schließlich war man ja Weltmeister.

Als der sich im Mai 1994 traditionsgemäß in Malente zur Vorbereitung traf, zeigte sich auch, dass die Basis von Beckenbauers Orakel nicht so ganz stabil gewesen war. Aus der ehemaligen DDR standen nur zwei Spieler im Kader: der Stuttgarter Matthias Sammer und der Leverkusener Ulf Kirsten, beide einst bei Dynamo Dresden. Ansonsten vertraute Vogts lieber den Weltmeistern. Zwölf standen noch im Kader, davon neun aus der Final-Elf. Rudi Völler, der im Oktober 1992 schon sein Abschiedsspiel gegeben hatte, wurde noch Ende Mai zurückgeholt, ebenso Andreas Brehme. Die beiden Mittdreißiger schraubten den Altersschnitt auf 29 Jahre. Älter war bis dato nie ein deutscher WM-Kader gewesen. Diesmal war der 25-jährige Ersatztorwart Oliver Kahn der Benjamin. Was auch daran lag, dass sich der Münchner Christian Ziege eine Bänderverletzung zuzog. Der 22-jährige Mittelfeldspieler faxte den Kollegen vor Turnierstart unverdrossen ins Quartier: „Es kann nur einen Weltmeister geben, der kommt aus Deutschland!“

Die Erwartungen an die Mannschaft, die am 6. Juni 1994 in den Flieger stieg und zunächst in Kanada Quartier bezog, waren in der Tat hoch. Das Umfrage-Institut Gallup International befragte in 17 WM-Teilnehmerländern 20.770 Menschen und erhielt am häufigsten zur Antwort: „Deutschland wird Weltmeister“ (20,59 Perozent). Dahinter lagen die üblichen Verdächtigen Brasilien (19,18) und Italien (12,29) – also die späteren Finalisten. An eine deutsche Halbfinal-Teilnahme glaubten immerhin 61,8 Prozent, und weniger durfte es auch dem Selbstverständnis nicht sein. Berti Vogts wusste um den Druck und sagte vor dem Abflug: „Ich werde Held oder Vaterlandsverräter!“.

Das Los, das in Gegenwart der auf Länderspielreise weilenden Nationalmannschaft im Dezember 1993 in Las Vegas gezogen wurde, bereitete ihm keine großen Sorgen. „Deutschland ist der große Gewinner der Auslosung“, fand die Washington Post angesichts von Bolivien und Südkorea, auch Spanien zählte nicht zu Deutschlands Angstgegnern. Mehr kümmerte Vogts die Torwartfrage, die auch Ende Mai noch nicht geklärt war. Erst in Malente entschied er sich für Weltmeister Bodo Illgner und gegen den mit dem 1. FC Nürnberg gerade abgestiegenen Andreas Köpke. Zum Auftakt fiel zudem Guido Buchwald aus. Im Sturm gab es die meisten Probleme, und zwischenzeitlich überlegte Vogts dort mit Andreas Möller zu spielen, da er zwar fünf Mittelstürmer, aber keinen Flügelstürmer im Kader hatte.

Möller sprach sich selbst Mut zu: „Ich gehöre zu den Spielern, die nicht viele Chancen brauchen.“ Außerdem sei er hier, um Weltmeister zu werden „und nicht um die Torjägerkanone zu holen.“ Der bewegliche Mittelfeldspieler passte nach Vogts’ Auffassung jedenfalls am besten zum unumstrittenen Jürgen Klinsmann, der damals in Monaco sein Geld verdiente und auf dem Höhepunkt seiner Karriere stand. Für dessen Sturmpartner von Rom, Rudi Völler, blieb nur ein Platz auf der Bank. Dennoch: Der Plan mit Möller war eine letztlich nicht praktizierte Notlösung und offenbarte eine Disbalance im Kader.

Acht Spieler aus der Heimat in der Startelf

Fixpunkte in der Elf waren Kapitän und Libero Lothar Matthäus, Vorstopper Jürgen Kohler, Stefan Effenberg und Matthias Sammer im Zentrum und Thomas Häßler hinter den Spitzen. Auf den Außenbahnen standen Thomas Berthold und Andreas Brehme etwas in der Kritik, aber Vogts vertraute seinen Weltmeistern, als diese am 17. Juni in Chicago die 15. Fußball-WM sportlich eröffnen sollten. Das typisch amerikanische halbstündige Showprogramm hatten Rock-Größen wie Tina Turner und Rod Stewart beifallumrauscht absolviert, und US-Präsident Bill Clinton sprach feierliche Worte, während 35.000 Luftballons in den National-Farben der USA gen Himmel stiegen.

Alles aber klappte doch nicht bei der Eröffnung. Auf der Pressetribüne herrschte große Verwirrung, als die Mannschaftsaufstellungen verteilt wurden. Gleich acht Deutsche standen da auf dem Papier, die gar nicht mit in Amerika waren. Ein Alois Reinhardt etwa war bereits Sport-Invalide, auch Uwe Bein und Bruno Labbadia hatten ihr letztes Länderspiel längst bestritten. Überraschende Realität war dagegen die Aufstellung von Karl-Heinz Riedle, die Möllers Sturm-Debüt verhinderte. Auch die Aufstellung der Bolivianer enthielt etliche falsche Namen - eine peinliche Organisationspanne noch vor dem ersten Anpfiff.

Auch die Prognosen von der Hitze-WM trafen sofort ein. Dem Fernsehen zuliebe fanden die meisten Spiele in der Mittagshitze statt. Beim Eröffnungsspiel um 14 Uhr Ortszeit im Soldier Field von Chicago herrschten somit 38 Grad, und 70 Zuschauer brachen mit Kreislaufproblemen zusammen. Matthias Sammer wollte das zuvor nicht gelten lassen: „Selbst wenn es bullenheiß ist, müssen wir gegen Bolivien voll drauf gehen.“ Hinterher waren sie alle froh über das knappe 1:0, das Jürgen Klinsmann nach einem krassen Abwehrfehler in der zweiten Hälfte sicherte. Immerhin kam Deutschland als erste Mannschaft der WM-Historie in den Genuss, für einen Sieg drei Punkte zu erhalten, denn 1994 wurde das in vielen Ländern bereits gültige Punktsystem auch bei Weltmeisterschaften eingeführt.

Noch etwas tröstete die Deutschen auf der Rückfahrt ins Quartier Oak Brook in Chicago: Erstmals hatte ein Titelverteidiger das offizielle Eröffnungsspiel gewonnen. Dass es verdient war, wurde nicht bezweifelt, nur der Glanz fehlte. Lothar Matthäus gab zu: „Das war nicht die Superleistung wie beim ersten Spiel 1990 gegen Jugoslawien. Diesmal hängt unsere Wolke etwas tiefer.“ In Bolivien konnte man sich übrigens mit der Niederlage nur schwer abfinden. Weil das Tor angeblich Abseits gewesen sei, flogen in La Paz Steine auf die mexikanische Botschaft – der Schiedsrichter war Mexikaner. Dabei gab es noch einen anderen Sündenbock: Superstar Etcheverry flog nur drei Minuten nach seiner Einwechslung vom Platz und sagte: „Ich muss mich bei meinem ganzen Land entschuldigen.“ Für ihn war die WM schon vorbei, er wurde für die nächsten zwei Spiele gesperrt, und mehr machte Bolivien nicht.

Weiterkommen früh gesichert

Südkorea leistete mehr Widerstand und trotzte Spanien im Endspurt ein 2:2 ab. Das brachte Deutschland vor dem Spiel gegen die Iberer in eine günstige Position, ein Punkt würde das Weiterkommen schon sichern. Und den gab es dann auch, aber dieses 1:1 von Dallas, bei dem erneut Jürgen Klinsmann traf, führte zu ersten Rissen.

Bodo Illgner stand nach dem Gegentor, einer abgefälschten Flanke, in der Kritik, und Berti Vogts erntete für seinen Versuch, das Spiel zu loben, von Thomas Berthold heftige Widerworte: „Es bringt doch nichts, wenn sich der Bundestrainer hinstellt und behauptet, wir hätten gut gespielt. Die ganze Welt hat gesehen, dass es nicht so war.“ Uwe Seeler, Ehrenspielführer und über jeden Zweifel erhaben, schlug in dieselbe Kerbe: „Bei den ersten beiden Spielen konnte man Magenkrämpfe vom Zuschauen bekommen. In der Mannschaft steckt viel mehr, aber es geht nur miteinander.“

Einer fehlte schon nach dem dritten Spiel: Stefan Effenberg hatte beim mühsamen 3:2 über Südkorea seine Auswechslung mit einer obszönen Geste in Richtung der pfeifenden Fans quittiert. DFB-Präsident Egidius Braun setzte sich gegen den Spielerrat durch und forderte Effenbergs Rauswurf: „Da geht so ein Mensch hin, auch noch Nationalspieler, und erlaubt sich solche Obszönitäten. Lieber gar keine Nationalmannschaft als so eine.“ Folglich stellte Vogts dem Mittelfeldspieler das vorzeitige Rückflugticket aus.

Das änderte nichts daran, dass der Titelverteidiger seine Gruppe vor Spanien gewonnen hatte und ins Achtelfinale eingezogen war. Und von Sturmproblemen war gar keine Rede mehr: Jürgen Klinsmann hatte vier der fünf Tore erzielte, das fehlende dritte gegen Südkorea markierte Karl-Heinz Riedle. Aber den kommenden Weltmeister hatte man in diesem Team nicht gesehen in Amerika.

“Soll erfüllt – Zufriedenheit hält sich in Grenzen

„Soll erfüllt – die Zufriedenheit aber hält sich in Grenzen und Freude will gar nicht erst aufkommen. Deutschland nach der Vorrunde: kein überzeugendes Spiel, Kritik von allen Seiten“, moderierte der Kicker seine Vorrundenanalyse an und erkannte „10 große Fehler“. Unter anderem diagnostizierte das Fachblatt Führungsschwäche, Überforderung, Egoismus , Unordnung und „Überversorgung“ – weil die Spieler vor dem Einstieg in den Flieger von Dallas nach Chicago noch eine Ganzkörpermassage erhielten. Das sei ein typisches Beispiel für Verhätschelung. Die Kritik war zumindest kritikwürdig: Keine der 24 Mannschaften in der Vorrunde hatte mehr Punkte geholt als die deutsche. Klagen auf hohem Niveau.

Die Vorrunde überstanden alle Favoriten, dennoch war sie nicht frei von Überraschungen. In Gruppe A nahmen die Europäer die ersten Plätze ein und nicht die hitzefesteren Teams des Gastgebers und der Kolumbianer. Rumänien gewann die Gruppe überraschend vor der Schweiz, die bei einer Weltpremiere Pate stand. Das Spiel gegen die USA in Detroit war das erste, das in einer Halle stattfand. Im Silverdome herrschten unter dem größten Traglufthallendach der Welt nicht sonderlich angenehme Bedingungen, 80 Prozent Luftfeuchtigkeit und 37 Grad Celsius wurden gemessen, und der Geruch von Schweiß mischte sich mit dem von Popcorn. Vakuum-Fußball im Land der unbegrenzten Möglichkeiten – nur für die Amerikaner ganz normal.

In dieser Gruppe fand übrigens kein Spiel ohne Bundesligabeteiligung statt, alle Teams hatten Deutschland-Legionäre in ihren Reihen. Kolumbien mit Bayern-Stürmer Adolfo Valencia musste schließlich die Heimreise antreten und schrieb die traurigste Geschichte der WM-Historie: Verteidiger Andres Escobar, dem beim 1:2 gegen die USA ein Eigentor unterlaufen war, wurde nach der Rückkehr auf einem Restaurant-Parkplatz in Medellin erschossen. Die Mörder wurden nicht gefasst. Spekuliert wurde, dass sie im Auftrag eines korrupten Wettsyndikates gehandelt hätten, dem Millionen entgangen seien.

Gastgeber USA rettete sich derweil über die letztmals angewandte Regelung, dass vier der besten Gruppendritten weiterkommen, ins Achtelfinale. Das war Trainer Bora Milutinovic somit zum dritten Mal in Folge gelungen – mit drei Ländern (zuvor Mexiko und Costa Rica). Ein Hattrick der ganz besonderen Art.

WM-Torrekord von Oleg Salenko

In Gruppe B wurde Brasilien seiner Favoritenrolle gerecht und kam zu deutlichen Siegen über Russland (2:0) und Kamerun (3:0), so dass das abschließende 1:1 gegen Schweden den Gruppensieg sicherte. Am selben Tag ereignete sich im Parallelspiel der Ausgeschiedenen ein WM-Torrekord: Oleg Salenko traf beim 6:1 der Russen gegen desolate Kameruner fünfmal – das gab es noch nie in der WM-Historie. Ebenso wenig, dass ein in der Vorrunde mit seinem Team ausgeschiedener Spieler Torschützenkönig werden sollte – Salenko kam gemeinsam mit dem Bulgaren Hristo Stoitchkov auf sechs Treffer. Selbst Kameruns Ehrentor war von Bedeutung: Roger Milla avancierte dadurch zum ältesten Torschützen der WM-Historie – mit 42 Jahren und 40 Tagen tanzte er noch einmal an der Eckfahne Lambada.

Mehr erinnerte nicht an das Kamerun von 1990, die Afrikaner holten nur einen Punkt gegen Schweden (2:2), das vor allem dank des Mönchengladbachers Martin Dahlin (drei Vorrunden-Tore) weiterkam.

Die Gruppe D stand von vornherein im Schatten eines Spielers: D wie Diego Maradona. Hinterher hätte man sie auch als Doping-Gruppe bezeichnen können. Ausgerechnet der alternde Super-Star Maradona, der beim 4:0 gegen Griechenland sein letztes WM-Tor schoss, sorgte für den ersten WM-Skandal. Der Argentinier wurde nach dem 2:0 über Nigeria des Dopings überführt, auch wenn von Absicht kaum die Rede sein kann. Ein vom Teamarzt verordnetes Nasenspray enthielt die verbotene Substanz Ephedrin und kostete Maradona nach 21 WM-Spielen den Status des Rekordspielers, den er mit 22 alleine erhalten hätte. Die FIFA sperrte ihn Stunden vor dem letzten Gruppenspiel gegen Bulgarien bis auf Weiteres und schloss ihn vom Turnier aus.

Mexiko vor Irland, Italien und Norwegen - ausgeglichen wie nie

Vergeblich forderte Nigeria auch den Ausschluss Argentiniens, was in der Tat überzogen gewesen wäre. Die Argentinier waren auch so nicht mehr konkurrenzfähig und verloren quasi unter Schock gegen Bulgarien mit 0:2. Trainer Alfio Basile klagte: „Maradona ist eine unserer Hauptfiguren. Wir vermissen ihn sowohl auf dem Spielfeld als auch außerhalb. Die Dinge haben sich in 30 Sekunden geändert.“ Nur als Dritter kam der Ex-Weltmeister ins Achtelfinale, noch hinter den punktgleichen Nigerianern und Bulgaren, die 1994 im 16. Anlauf erstmals ein WM-Spiel gewannen – gegen Griechenland (4:0), das bei seiner WM-Premiere nur ein Punktelieferant war und nicht mal ein Tor schoss.

Die Gruppe E ging in die WM-Geschichte ein. Das E mag am besten für Egalité stehen, denn absolute Gleichheit zeichnete dieses Quartett aus. Jedenfalls nach Zahlen. Als Mexiko, Irland, Italien und Norwegen in dieser Reihenfolge ins Ziel einliefen, trennte sie rein gar nichts außer der Anzahl der erzielten Tore. Alle hatten sie vier Punkte und ein ausgeglichenes Torverhältnis, weshalb Mexikos 3:3 Tore zum Gruppensieg reichten und Norwegens 1:1 nur zur Heimfahrt. Bei Italien und Irland (je 2:2) half nur der direkte Vergleich, der für die Iren sprach.

In Italien hatte man sich ja schon an allerhand gewöhnt: 1970 war man mit 1:0 Toren durch die Vorrunde gegangen, 1982 mit drei Unentschieden. Stets reichte es fürs Finale – und so sollte es wieder werden, auch wenn wenig dafür sprach. Immerhin beeindruckte der Kampfgeist der Elf von Trainer Arrigo Sacchi, die Norwegen in siebzigminütiger Unterzahl bezwang. Superstar Roberto Baggio sah sich die Vorrundenspiele meist von der Bank aus an, auf der übrigens erstmals alle Reservisten sitzen durften, weil auch alle einsatzberechtigt waren. Bis 1990 hatte dies nur für 16 Spieler gegolten.

Totes Rennen in Gruppe F

In Gruppe F ereignete sich das nächste tote Rennen, nur Marokko hinkte punktlos hinterher. Aber die Niederlande, Saudi-Arabien und Belgien gewannen jeweils zwei Spiele und hatten eine Tordifferenz von plus eins. Der direkte Vergleich entschied, dass die Holländer Gruppensieger würden, obwohl sie dem Rivalen Belgien 0:1 unterlegen waren. Dick Advocaat, späterer Bundesliga-Trainer in Gladbach, schob die nicht befriedigenden Leistungen von Oranje auf die für fast alle Europäer unerträgliche Hitze: „Ich will ja keine Entschuldigung anführen, aber angesichts dieser mörderischen Temperaturen kann man nicht über 90 Minuten guten Fußball spielen.“

Am wenigsten machte das noch den Saudis etwas aus, die außer Marokko auch Belgien schlugen. So kam erstmals eine arabische Mannschaft ins Achtelfinale, in dem noch alle Kontinente vertreten waren – von Ozeanien abgesehen, das ohnehin nicht am Start gewesen war.

Bestes WM-Spiel im Achtelfinale: 3:2 gegen Belgien

Ob es nun am Wetter lag oder doch eher am reinigenden Gewitter im deutschen Lager nach dem Effenberg-Zwangsabschied – der Weltmeister bot jedenfalls am 2. Juli in Dallas bei milden 17 Grad und ungewohnt starkem Wind seine mit Abstand beste WM-Leistung. Gegen die Belgier (3:2) hatte Vogts umgestellt: Thomas Helmer, Martin Wagner und Rudi Völler standen erstmals in der Startelf, aus der neben Effenberg auch Brehme und Riedle verschwunden waren. Möller sah schon länger zu. Brehme kam nach der Pause für den angeschlagenen Matthäus noch ins Spiel, aber da war schon fast alles gelaufen.

Wie entfesselt hatte die Elf kombiniert, und wieder fielen ausnahmslos Stürmer-Tore. Völler traf zum 1:0 und zum 3:1, Klinsmann schoss das 2:1. ARD-Reporter Gerd Rubenbauer witzelte nach Klinsmanns fünftem WM-Tor: „Das Soldier Field werden sie bald Klinsi-Field nennen.“ Nun, so weit kam es nicht, aber Klinsmanns Leistung in Amerika und insbesondere an diesem, Tag war aller Ehren wert. Der Kicker gab ihm eine 1,5, nur Häßler und Völler erhielten eine noch bessere Note (1). Klinsmann gab zu Protokoll: „Uns überflutete auf einmal eine Welle der Kritik. Dazu kam die Sache mit Effenberg. Es herrschte ein kleines Chaos. Doch auf extremen Druck haben wir wieder einmal extrem gut reagiert.“

Der Mythos der Turniermannschaft lebte fort, wieder schien sich eine deutsche Elf steigern zu können, wenn es darauf ankommen würde. Belgiens Torschütze zum Endstand, Philippe Albert, sagte, was wohl die ganze Welt dachte nach dieser Demonstration der Stärke: „So können die Deutschen wieder Weltmeister werden.“

Clinton: „USA ist stolz auf ihre Mannschaft“

Auch Franz Beckenbauer, als TV-Experte allgegenwärtig im deutschen Lager, prophezeite: „New York wird mit zwei Spielen nur eine Zwischenstation sein. Die Endstation heißt Los Angeles – das Finale.“ Nach den Deutschen zogen sechs weitere Europäer ins Viertelfinale ein. Nur Brasilien vertrat den Rest der Welt und eliminierte den Gastgeber USA erbarmungslos und doch glücklich mit 1:0. Dass es ausgerechnet am amerikanischen Nationalfeiertag, dem 4. Juli, geschehen musste, machte das frühe Aus des Gastgebers noch etwas schmerzlicher.

Selbst eine Überzahl über eine komplette Halbzeit (Rot für Leandro) konnten die US-Boys nicht nutzen. Bebeto ließ in der 73. Minute den amerikanischen Traum platzen. Was blieb nach einjähriger Vorbereitung auf das Großereignis, war Stolz. „Die USA ist stolz auf ihre Mannschaft“, sagte Bill Clinton, und Verbandspräsident Alan Rothenberg bewies seherische Fähigkeiten, als er in der US-Kabine sagte: „Ihr habt gegen den neuen Weltmeister verloren.“

Darauf redeten sich die Schweizer nicht heraus, als sie von Spanien mit 0:3 bezwungen worden waren. Eher haderten die Herren Sforza, Chapuisat und Co. mit dem Schiedsrichter wegen eines vermeintlichen Abseitstores - und mit der eigenen Unfähigkeit im Angriff. Immerhin blieb den Eidgenossen der Trost, zuvor erstmals nach 40 Jahren wieder ein WM-Spiel gewonnen zu haben – beim 4:1 in der Vorrunde über Rumänien. Spanien feierte derweil seinen Torwart Zubizaretta und den Doppel-Torschützen Carminero und träumte vom ersten Halbfinaleinzug seiner Historie.

Dahlin trifft weiter für Schweden

Die Schweden beendeten in Dallas humorlos das orientalische Märchen und schickten die Saudis nach Hause. Martin Dahlin war wieder unter den Torschützen. Die Araber freuten sich über das Lob ihres Königs Fahd, der sie persönlich zu empfangen versprach. Stürmer Owairan sagte gerührt: „Wir haben unser Land durch unsere Spiele geehrt. König Fahd ist sehr stolz auf uns.“ Ihr Trainer Jorge Solari verwies vor der Presse darauf, dass „wir eben erst mit dem Profifußball begonnen haben“ und kündigte weitere Großtaten an.

Im dramatischsten Spiel des Achtelfinales erwischte es mit Argentinien den ersten Topfavoriten, der Maradonas Sperre noch immer nicht verwunden hatte. Gegen entfesselte Rumänen unterlagen sie mit 2:3 und der neue WM-Star, den dieser Tag in Los Angeles gebar, war auch ein kleiner Mann mit einem begnadeten linken Fuß. Gheorge Hagi wurde nicht von ungefähr „Karpaten-Maradona“ genannt. Nach Dumitrescus Doppelschlag erzielte er das entscheidende 3:1, das Argentinien die Heimfahrt bescherte. „Maradonas Sperre hat unsere Moral gebrochen“, sagte Mitspieler Redondo, und Trainer Alfio Basile ergänzte: „Ohne Maradona konnten wir nicht gewinnen.“ Sein Kollege Anghel Iordanescu fand ebenfalls bedeutungsschwere Worte: „Das ist das größte Ereignis, das die Leute zu Hause seit der Revolution zu feiern hatten.“

Weit erwartungsgemäßer verlief die Partie in Orlando, wo die Niederlande Irland ausschalteten (2:0). Erstmals seit 1978 waren die Holländer zur Freude von 15.000 Schlachtenbummlern wieder in einem Viertelfinale, und das verdankten sie nicht unwesentlich dem armen Pat Bonner im Tor der Iren. War er gegen Bergkamps 1:0 noch machtlos, so ließ er einen harmlosen 20-Meter-Roller von Jonk noch vor der Pause zum Endstand ins Tor. „Ich bin der Dummkopf der Nation. So ein Fehler ist mir noch nie passiert. Ich entschuldige mich bei unseren tollen Fans für die Niederlage“, sagte Bonner geknickt. Trainer Jacky Charlton linderte dessen Schmerzen nicht gerade: „Solche Fehler machen mir Alpträume.“

Packende Duelle im Achtelfinale

Die beiden letzten Achtelfinalpartien vom 5. Juli waren nichts für schwache Nerven. Das große Italien lag bis zur 88. Minute gegen Nigeria zurück und wurde dann von Roberto Baggio gerettet, dem in der Verlängerung auch das erlösende 2:1 gelang. Das führte zu Übermut beim Edel-Reservisten: „Ich glaube, ich bin einer der besten Stürmer auf der Welt.“ Trainer Sacchi sah sich bestätigt: „Er hat ein großes Spiel gezeigt und sich aus der Krise geschossen.“ Den Kritikern schrieb er ins Stammbuch: „Wir sind bei dieser WM unterbewertet worden. Heute aber haben wir gezeigt, dass wir ein echtes Team sind.“ Mit Nigeria verabschiedete sich der letzte Exot aus den USA.

In New York mussten mit Mexiko und Bulgarien erstmals zwei Mannschaften bei dieser WM ins Elfmeterschießen. 71.030 Zuschauer standen zwar mehrheitlich auf der Seite Mexikos, doch die Bulgaren hatten die besseren Nerven. Wie 1986 im eigenen Land gegen Deutschland verwandelte Mexiko nur einen von vier Elfmetern, und Bulgarien feierte seinen Elfmetertöter Boris Michailow, der zwei Bälle hielt. Damit qualifizierten sich die Männer um Superstar Stoitchkov für das Viertelfinale gegen Deutschland an selber Stelle. Es fand am 10. Juli statt und markierte einen Tiefpunkt deutscher WM-Geschichte.

Viertelfinal-Aus trotz Führung gegen Bulgarien

Alle Hoffnungen, die die gegen Belgien starke und so hochkarätig besetzte Mannschaft geweckt hatte, wurden an diesem Sonntagnachmittag zu Grabe getragen. Nach torloser, aber guter erster Hälfte ging der Weltmeister vor über 75.000 Zuschauern sogar in Führung: Matthäus verwandelte einen Elfmeter nach Foul an Klinsmann (49.). Danach traf der für Sammer nachgerückte Möller nur den Pfosten – und der Abpraller wurde von Völler zwar verwertet, aber wegen Abseits aberkannt.

Statt 2:0 hieß es fünf Minuten später 1:2. Zunächst verwandelte Stoitchkov einen von Pechvogel Möller verschuldeten Freistoß, bei dem Illgner stehen blieb. Kurz darauf wurde ausgerechnet der kleinste Deutsche, Thomas Häßler, in ein Kopfballduell mit dem HSV-Profi Yordan Letchkov genötigt. Er verlor es prompt und Deutschland das Spiel, denn Letchkov hechtete den Ball ins Tor, weshalb Tage später in Leserbriefen sein Rauswurf beim HSV gefordert wurde.

Auf der deutschen Bank herrschte Panik: Verteidiger Brehme wollte nicht eingewechselt werden und bat Vogts, doch lieber einen Stürmer wie Riedle zu bringen, doch der Bundestrainer setzte sich durch. Es fiel aber kein Tor mehr in den letzten elf Minuten. Somit war Deutschland erstmals seit 1978 nicht unter den besten Vier gelandet, und der DFB musste den Rückflug, der erst für den Tag nach dem Finale vorgesehen war, um sechs Tage vordatieren.

Eine der unnötigsten Niederlagen deutscher WM-Geschichte

Die Enttäuschung war auch deshalb so groß, weil es eine komplett unnötige Niederlage gewesen war. „Nach dem 1:0 waren die Bulgaren platt, aber wir haben vergessen, das zweite Tor zu schießen. Aus zwei Chancen haben die dann die entscheidenden Treffer erzielt“, sagte Lothar Matthäus. Wie Maradona war es auch ihm nun vorerst nicht vergönnt, WM-Rekordspieler zu werden, ebenfalls blieb er bei 21 Spielen stehen.

Nun begann das große Abschiednehmen: Fünf Spieler (Völler, Brehme, Buchwald, Effenberg und Illgner) traten aus der Nationalmannschaft zurück, Bodo Illgner noch in der Kabine des Giants-Stadium. Berti Vogts kam es wohl gelegen, hatte er doch schon analysiert: „Der einzige Fehler war, dass ich mich gegen Andreas Köpke entschieden habe. Dafür habe ich mich bei ihm entschuldigt.“ Lothar Matthäus äußerte sich enttäuscht darüber, dass Vogts ihm während der WM das Vertrauen entzogen habe.

Durch die Kritik, die von vielen Medien auf Vogts einprasselte, ließ sich der zähe Weltklasseverteidiger von einst nicht unterkriegen, und mit ihm trotzte ihr DFB-Präsident Egidius Braun: „Es ist keine Götterdämmerung, sondern ein Aufbruch zu neuen Ufern.“ Dazu brauchte er Vogts. Der blieb - und wurde 1996 prompt in England Europameister.

Brasilianisches Sturmduo verzaubert die Fans

Weltmeister 1994 aber musste ein anderes Land werden, und nach dem Viertelfinale gab es einen echten Topfavoriten. Brasilien besiegte im besten Spiel dieser WM in Dallas die Niederländer mit 3:2 (0:0). Das neue Sturmduo Romario/Bebeto, das vor kurzem noch nicht einmal im Flieger nebeneinander sitzen wollte, harmonierte prächtig und sorgte nach 62 Minuten für eine 2:0-Führung, nach der alles gelaufen schien. Aber Bergkamp und Winter schossen binnen zwölf Minuten zwei Tore.

Doch die Selecao von Trainer Carlos Alberto Parreira erholte sich von diesem Schock. Wie eigentlich bei jeder WM hatte Brasilien wieder einen begnadeten Freistoßschützen in seinen Reihen – und jener Branco genoss seinen 25-Meter-Treffer vollmundig. Er gab seinem Tor, wie das in Brasilien angeblich so üblich ist, einen Namen, den seine Kritiker wohl am besten verstanden. Das „Haltet das Maul-Tor“, im Original „Cala Boca“ stürzte Brasilien in Euphorie. „Wir haben den Holländern heute eine Lehrstunde erteilt, das war Fußballkunst in Perfektion“, jubelte Romario. Für die Holländer galt: raus mit Applaus! „Wir haben uns hier gut verkauft, nur gegen ein Weltklasseteam unglücklich verloren“, bilanzierte Dick Advocaat den USA-Trip.

Die anderen Partien konnten nicht ganz mithalten, aber auch hier gab es Dramen mit Helden und Versagern. Italien demonstrierte gegen Spanien erneut, dass es eine Turniermannschaft ist, die auch an schwächeren Tagen zum Erfolg kommen kann – wann auch immer. Wie gegen Nigeria hatte Roberto Baggio in der 88. Minute seinen großen Auftritt. Diesmal war es das Siegtor zum 2:1. Überschattet wurde Italiens Erfolg von einer Brutalität, die sich Mauro Tassotti leistete. Vom Schiedsrichter unbemerkt, brach er Luis Enrique mit einem Ellenbogenschlag die Nase. TV-Bilder überführten ihn, und erstmals wurde ein WM-Spieler auf dieser Grundlage verurteilt – zu einer Sperre von acht Spielen.

Für die Squadra Azzura ging das Turnier ohne Tassotti weiter, für Spanien gar nicht. Die iberische Auswahl musste damit leben, das Gegenteil Italiens zu sein – eben keine Turniermannschaft. Torschütze Caminero war kaum zu trösten: „Ich bin hierher gefahren, um Weltmeister zu werden!“

Schweden marschiert weiter

Diesen Anspruch hatte die schwedische Mannschaft mit Sicherheit nicht, aber am Abend des 10. Juli 1994 war sie plötzlich eine der vier besten auf der Welt. In einem Drama mit teils zähem Vorlauf kickte sie die Rumänen vom Elfmeterpunkt aus dem Turnier. Nach 90 Minuten stand es 1:1, nach 120 Minuten 2:2, jede Mannschaft hatte einmal geführt. Die Schweden, die die letzten 18 Minuten in Unterzahl überstanden, hatten letztlich die besseren Nerven und in Thomas Ravelli den besseren Torwart. Er hielt in seinem 115. Länderspiel zwei Elfmeter und veranlasste Rumänen-Coach Iordanescu zu markigen Worten: „Ein Elfmeterschießen ist kein Makel, sondern Schicksal. Fußball kennt keine Gnade.“

Oder keinen Schönheitspreis. Eine der spielerisch besten Mannschaften des Turniers musste nun die Koffer packen und einem kampfstärkerenen Team den Vortritt lassen. Schwedens Trainer Tommy Svensson blickte mutig voraus: „Wir glauben immer an uns. Die Mannschaft hat Charakter und deshalb wird sie auch Brasilien Paroli bieten.“ Schwedens Kommunalbehörden wurden in den drei Tagen bis zum Halbfinale mit Anträgen von Gastwirten überhäuft. Alle wollten sie dasselbe: die Aufhebung der Sperrstunde, denn das Spiel gegen Brasilien, dem die Nation entgegenfieberte, begann um 1.30 Uhr nach mitteleuropäischer Zeit.

Baggio macht den Unterschied

Zuvor ermittelten in New York Bulgarien und Italien den ersten Finalisten. Noch nie war eine bulgarische Mannschaft so weit gekommen, die Begeisterung in dem Balkan-Staat war unbeschreiblich. Nach dem Sieg über die Deutschen feierten in Plovdiv Tausende die Eltern des Nationalheldes Hristo Stoitchkov und belagerten das Haus, in dem der Superstar aufgewachsen war. Für die Mutter war es zu viel, sie kollabierte und kam ins Krankenhaus. Zum Halbfinale reiste Staatspräsident Schelju Schelew höchstselbst an und brachte den Spielern CDs mit Volksmusik mit. Nach der Partie wagte er sich in die Kabine und sagte: „Diese Mannschaft hat mehr für ihr Land getan als je ein Bulgare zuvor.“

Und doch hatte sie verloren, weil Italien einen Roberto Baggio in seinen Reihen wusste. Wie 1982 Paolo Rossi zeichnete er nach der Vorrunde für fast alle Tore verantwortlich und stockte sein WM-Konto auf fünf Tore auf. Diesmal präferierte er eine frühe Entscheidung und hatte sein Werk schon nach 25 Minuten getan. Da stand es 2:0, was gegen Italien seit jeher im Grunde fast unaufholbar ist. Die Bulgaren aber kamen durch Stoitchkovs Elfmeter noch vor der Pause heran. Weil der französische Schiedsrichter Quiniou nicht einen zweiten Elfmeter gab bei Costacurtas vermeintlichem Handspiel, blieb es beim 2:1. Bulgarien schied in Ehren aus, Italien erreichte sein fünftes WM-Finale. Wie so oft schmucklos, aber effizient und taktisch höchst diszipliniert.

Attribute, die man im Zusammenhang mit Brasilien eher selten gehört hat und auch 1994 nicht. Es war die Mischung aus im Grunde gegensätzlichen Mentalitäten, die Brasilien ins Finale und letztlich auch ans Ziel brachte. „In der Vergangenheit haben wir viel von den Europäern gelernt, vor allem den Kampf und die Geschlossenheit. Wir haben aber niemals vergessen, dass die Technik das Herz des brasilianischen Fußballs ist“, philosophierte Stürmerstar Romario, nach dem er selbst das Tor zum Finale geöffnet hatte. Sein Treffer in der 81. Minute entschied das schwache Halbfinale mit den wackeren Schweden, das sehr einseitig verlief. Nach Chancen hätte es laut Kicker-Statistik 11:0 für Brasilien enden können, Schweden suchte sein Heil nur in der Defensive und fand es nicht.

Schweden wird verdienter Dritter

Nun hatte die WM ihr Traum-Finale. Mit Brasilien und Italien trafen zwei Länder aufeinander, die jeweils dreimal Weltmeister geworden waren - einer würde neuer Rekordtitelträger werden.

Am Vortag des Endspiels schossen sich die Schweden den Frust von der Seele und demontierten bereits in Urlaubsstimmung befindliche Bulgaren mit 4:0 – so stand es bereits nach 40 Minuten. Trainer Svensson strahlte: „Das ist der größte Erfolg des schwedischen Fußballs überhaupt. Es ist mehr als der zweite Platz 1958, weil seitdem die Konkurrenz viel stärker war.“ Auch dieses Spiel zweier in den USA nicht sonderlich populärer Mannschaften verfolgten in Los Angeles 83.716 Menschen. Fußball und Amerika – doch eine gute Mixtur?

Endspiel bleibt hinter den Erwartungen zurück

Am 17. Juli war dasselbe Stadion dann mit 94.949 Zuschauern restlos ausverkauft. Die Erwartungen waren riesengroß, und die ganze Welt schaute zu. Deutschland hätte gerne auf dem Feld gestanden, aber nur die deutschen Journalisten schafften es in einem Parallelturnier so weit und schlugen im Pressefinale Spanien souverän mit 5:0. Immerhin vertraten die Brasilianer Jorginho (beim FC Bayern) und Kapitän Carlos Dunga (VfB Stuttgart) die Bundesliga. Leider machte ausgerechnet das 52. und letzte Spiel des Turniers so gar keine Werbung für den Fußball: Es war das einzige torlose dieser WM, bei der 2,7 Treffer im Schnitt gefallen waren – und damit mehr als in den drei Turnieren zuvor.

Nur für Taktikfreunde wurde allerhand geboten, es war ein Lehrbeispiel für die hohe Kunst der Neutralisierung des Gegners. Der Kicker gab den ereignislosen zwei Stunden Rasenschach die Note mangelhaft und schrieb von einem „Fehlpass-Festival“. Nach dessen Ende dennoch eine richtige Feier stieg – in Rio de Janeiro, an der Copacabana und wo immer sonst die Freunde der Samba-Fußballer lebten.

Im ersten Elfmeterschießen in einem WM-Finale versagten drei Italienern die Nerven: Der Routinier Baresi verschoss wie Brasiliens Marcio Santos gleich den ersten Ball, Massaro scheiterte danach an Taffarel – und als Roberto Baggio unbedingt treffen musste, bekam er das Zittern und schoss über das Tor. Ausgerechnet Baggio, dessen Tore Italien erst ins Endspiel gebracht hatten.

Brasilien – ein würdiger Weltmeister

Baggios Trainer Sacchi sagte: „Es muss einen Weltmeister durch Elfmeterschießen geben, sonst gäbe es ein ewiges Unentschieden.“ Die internationale Kritik war sich einig: Diese WM hätte ein besseres Endspiel verdient gehabt, aber sie bekam mit Brasilien wenigstens einen würdigen Weltmeister.

Im Kicker drehte Chefredakteur Karl-Heinz Heimann noch einmal den Scheinwerfer auf diese mit so viel Skepsis begrüßte WM. „Das Turnier war ein geradezu überwältigender Erfolg für den Fußball. Die Stimmung in den Stadien war riesig, die befürchteten Krawalle blieben ganz aus. Das Agieren der Polizei- und Sicherheitskräfte fand ich ausgesprochen zurückhaltend. So manches Vorurteil über Amerika und die Amerikaner musste man revidieren.“

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Die Fußball-Weltmeisterschaft feiert runden Geburtstag: Zum 20. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum zweiten Mal nach 1950 in Brasilien. Für DFB.de erinnert der Historiker und Autor Udo Muras in einer WM-Serie an alle Turniere der Geschichte. Heute: die WM 1994 in den USA.

Teil 15: Die WM 1994 in den USA

Im 15. Anlauf wurde erstmals eine Weltmeisterschaft in ein Fußball-Entwicklungsland vergeben. In den USA war alles Volkssport, nur nicht Fußball, dort „Soccer“ genannt. Es gab 1994 nicht einmal eine erste Liga, und in den neun WM-Stadien wurden im Alltag Baseball-Spiele ausgetragen.

„Fußball ist ein Spiel, das wir unseren Kindern beibringen, bis sie alt genug für etwas Interessanteres sind“, spottete die Washington Post in einem WM-Knigge für die Landsleute. Mit einem besonders sachkundigen Publikum war daher nicht zu rechnen, auch wenn Franz Beckenbauer nach einem Restaurantbesuch in Chicago amüsiert vermeldete: „Der Ober hat gemeint, mich irgendwo einmal gesehen zu haben.“

Auch mit einer Stimmung wie etwa 1986 in Mexiko war nicht unbedingt zu rechnen. Umso überraschender, dass die WM 1994 als die am besten besuchte in die Annalen eingegangen ist. Sicher, in den USA gab es die größten Stadien aller Turniere, aber dass sie auch dermaßen voll sein würden, verblüffte die Experten in aller Welt. Immerhin war die Anreise für die Anhänger aus den klassischen Fußball-Ländern weit und teuer, aber die Amerikaner selbst eilten in hellen Scharen zu diesem ihnen so seltsam erscheinenden Sport.

3.568.567 Zuschauer in den 52 WM-Spielen

Ihre Begeisterungsfähigkeit adelte das Weltchampionat: Unter dem Strich standen offiziell 3.568.567 Zuschauer in den 52 WM-Spielen, das entsprach einem Schnitt von 68.626 und einer Steigerung von über 20.000 pro Spiel gegenüber Italien 1990. Dabei fehlten mit England und Frankreich Nationen, die in der Regel viele Schlachtenbummler mitbringen. England scheiterte an Norwegen und den Niederlanden, Frankreich verlor in Paris in letzter Minute gegen Bulgarien sein WM-Ticket. Aber gegen Bulgarien sollten später noch andere verlieren...

Europameister Dänemark, 1992 in Schweden ein Sensationssieger, konnte das Niveau nicht ganz halten und verpasste den WM-Flieger um ein Tor, das die wackeren Iren bei gleicher Differenz mehr erzielt hatten.

Afrika stellte erstmals drei Teilnehmer und erhielt den Lohn für Kameruns gutes Abschneiden 1990. Die „Unbezähmbaren Löwen“ waren auch wieder dabei, nun mit Nigeria und Marokko im Schlepptau. Dass die jahrzehntelange geringe Teilnehmerquote Afrikas nicht ganz unberechtigt gewesen sein mag, verdeutlichte sich aber in der Qualifikation: Gleich acht Länder zogen aus wirtschaftlichen Gründen zurück oder brachen mitten im Wettbewerb ab.

Solche Geschichten hörte man aus Südamerika nie: In zwei Gruppen kämpften neun Kandidaten erbittert um vier Plätze. Kolumbien, Argentinien und natürlich Brasilien schafften es erneut, Bolivien aber kam als torgefährlichste Mannschaft des Verbands (22 Treffer) erstmals seit 1950 wieder zu einer WM und gleich zu der Ehre, das Eröffnungsspiel zu bestreiten. Schon zum zehnten Mal wurde Mittelamerika durch Mexiko vertreten. In Asien mühten sich 28 Nationen um zwei Plätze, für einige war Dabeisein schon alles. Sri Lanka etwa ging mit 0:26 Treffern aus seiner Gruppe, Pakistan mit 2:36 und Macao (1:46) verbuchte sogar eine zweistellige Heimniederlage gegen Kuwait. Saudi-Arabien dagegen blieb in elf Partien ungeschlagen und qualifizierte sich souveräner als Südkorea (zum dritten Mal in Folge), das von Japan nur zwei Tore trennte.

Die deutsche Mannschaft genoss das Privileg, als Titelverteidiger qualifiziert zu sein – ein Privileg, das mittlerweile nicht mehr gilt.

Erstmals führte Bundestrainer Berti Vogts die DFB-Auswahl zu einer WM, wobei ihm die Verheißung seines Vorgängers Franz Beckenbauer wie ein Mühlstein auf dem Rücken lastete: „Wir sind über Jahre nicht mehr zu besiegen. Es tut mir leid für den Rest der Welt, aber es ist so“, hatte er im Überschwang der Gefühle nach dem WM-Sieg von Rom gesagt – auch und gerade weil die Spieler aus der sich auflösenden DDR dazukommen würden. Doch vier Jahre später hatte Deutschland sehr wohl erfahren müssen, dass es besiegbar war. Bei der EM 1992 zum Beispiel, als es im Finale ein 0:2 gegen Außenseiter Dänemark gab und niemand sich über einen zweiten Platz in Europa zu freuen vermochte. Schließlich war man ja Weltmeister.

Als der sich im Mai 1994 traditionsgemäß in Malente zur Vorbereitung traf, zeigte sich auch, dass die Basis von Beckenbauers Orakel nicht so ganz stabil gewesen war. Aus der ehemaligen DDR standen nur zwei Spieler im Kader: der Stuttgarter Matthias Sammer und der Leverkusener Ulf Kirsten, beide einst bei Dynamo Dresden. Ansonsten vertraute Vogts lieber den Weltmeistern. Zwölf standen noch im Kader, davon neun aus der Final-Elf. Rudi Völler, der im Oktober 1992 schon sein Abschiedsspiel gegeben hatte, wurde noch Ende Mai zurückgeholt, ebenso Andreas Brehme. Die beiden Mittdreißiger schraubten den Altersschnitt auf 29 Jahre. Älter war bis dato nie ein deutscher WM-Kader gewesen. Diesmal war der 25-jährige Ersatztorwart Oliver Kahn der Benjamin. Was auch daran lag, dass sich der Münchner Christian Ziege eine Bänderverletzung zuzog. Der 22-jährige Mittelfeldspieler faxte den Kollegen vor Turnierstart unverdrossen ins Quartier: „Es kann nur einen Weltmeister geben, der kommt aus Deutschland!“

Die Erwartungen an die Mannschaft, die am 6. Juni 1994 in den Flieger stieg und zunächst in Kanada Quartier bezog, waren in der Tat hoch. Das Umfrage-Institut Gallup International befragte in 17 WM-Teilnehmerländern 20.770 Menschen und erhielt am häufigsten zur Antwort: „Deutschland wird Weltmeister“ (20,59 Perozent). Dahinter lagen die üblichen Verdächtigen Brasilien (19,18) und Italien (12,29) – also die späteren Finalisten. An eine deutsche Halbfinal-Teilnahme glaubten immerhin 61,8 Prozent, und weniger durfte es auch dem Selbstverständnis nicht sein. Berti Vogts wusste um den Druck und sagte vor dem Abflug: „Ich werde Held oder Vaterlandsverräter!“.

Das Los, das in Gegenwart der auf Länderspielreise weilenden Nationalmannschaft im Dezember 1993 in Las Vegas gezogen wurde, bereitete ihm keine großen Sorgen. „Deutschland ist der große Gewinner der Auslosung“, fand die Washington Post angesichts von Bolivien und Südkorea, auch Spanien zählte nicht zu Deutschlands Angstgegnern. Mehr kümmerte Vogts die Torwartfrage, die auch Ende Mai noch nicht geklärt war. Erst in Malente entschied er sich für Weltmeister Bodo Illgner und gegen den mit dem 1. FC Nürnberg gerade abgestiegenen Andreas Köpke. Zum Auftakt fiel zudem Guido Buchwald aus. Im Sturm gab es die meisten Probleme, und zwischenzeitlich überlegte Vogts dort mit Andreas Möller zu spielen, da er zwar fünf Mittelstürmer, aber keinen Flügelstürmer im Kader hatte.

Möller sprach sich selbst Mut zu: „Ich gehöre zu den Spielern, die nicht viele Chancen brauchen.“ Außerdem sei er hier, um Weltmeister zu werden „und nicht um die Torjägerkanone zu holen.“ Der bewegliche Mittelfeldspieler passte nach Vogts’ Auffassung jedenfalls am besten zum unumstrittenen Jürgen Klinsmann, der damals in Monaco sein Geld verdiente und auf dem Höhepunkt seiner Karriere stand. Für dessen Sturmpartner von Rom, Rudi Völler, blieb nur ein Platz auf der Bank. Dennoch: Der Plan mit Möller war eine letztlich nicht praktizierte Notlösung und offenbarte eine Disbalance im Kader.

Acht Spieler aus der Heimat in der Startelf

Fixpunkte in der Elf waren Kapitän und Libero Lothar Matthäus, Vorstopper Jürgen Kohler, Stefan Effenberg und Matthias Sammer im Zentrum und Thomas Häßler hinter den Spitzen. Auf den Außenbahnen standen Thomas Berthold und Andreas Brehme etwas in der Kritik, aber Vogts vertraute seinen Weltmeistern, als diese am 17. Juni in Chicago die 15. Fußball-WM sportlich eröffnen sollten. Das typisch amerikanische halbstündige Showprogramm hatten Rock-Größen wie Tina Turner und Rod Stewart beifallumrauscht absolviert, und US-Präsident Bill Clinton sprach feierliche Worte, während 35.000 Luftballons in den National-Farben der USA gen Himmel stiegen.

Alles aber klappte doch nicht bei der Eröffnung. Auf der Pressetribüne herrschte große Verwirrung, als die Mannschaftsaufstellungen verteilt wurden. Gleich acht Deutsche standen da auf dem Papier, die gar nicht mit in Amerika waren. Ein Alois Reinhardt etwa war bereits Sport-Invalide, auch Uwe Bein und Bruno Labbadia hatten ihr letztes Länderspiel längst bestritten. Überraschende Realität war dagegen die Aufstellung von Karl-Heinz Riedle, die Möllers Sturm-Debüt verhinderte. Auch die Aufstellung der Bolivianer enthielt etliche falsche Namen - eine peinliche Organisationspanne noch vor dem ersten Anpfiff.

Auch die Prognosen von der Hitze-WM trafen sofort ein. Dem Fernsehen zuliebe fanden die meisten Spiele in der Mittagshitze statt. Beim Eröffnungsspiel um 14 Uhr Ortszeit im Soldier Field von Chicago herrschten somit 38 Grad, und 70 Zuschauer brachen mit Kreislaufproblemen zusammen. Matthias Sammer wollte das zuvor nicht gelten lassen: „Selbst wenn es bullenheiß ist, müssen wir gegen Bolivien voll drauf gehen.“ Hinterher waren sie alle froh über das knappe 1:0, das Jürgen Klinsmann nach einem krassen Abwehrfehler in der zweiten Hälfte sicherte. Immerhin kam Deutschland als erste Mannschaft der WM-Historie in den Genuss, für einen Sieg drei Punkte zu erhalten, denn 1994 wurde das in vielen Ländern bereits gültige Punktsystem auch bei Weltmeisterschaften eingeführt.

Noch etwas tröstete die Deutschen auf der Rückfahrt ins Quartier Oak Brook in Chicago: Erstmals hatte ein Titelverteidiger das offizielle Eröffnungsspiel gewonnen. Dass es verdient war, wurde nicht bezweifelt, nur der Glanz fehlte. Lothar Matthäus gab zu: „Das war nicht die Superleistung wie beim ersten Spiel 1990 gegen Jugoslawien. Diesmal hängt unsere Wolke etwas tiefer.“ In Bolivien konnte man sich übrigens mit der Niederlage nur schwer abfinden. Weil das Tor angeblich Abseits gewesen sei, flogen in La Paz Steine auf die mexikanische Botschaft – der Schiedsrichter war Mexikaner. Dabei gab es noch einen anderen Sündenbock: Superstar Etcheverry flog nur drei Minuten nach seiner Einwechslung vom Platz und sagte: „Ich muss mich bei meinem ganzen Land entschuldigen.“ Für ihn war die WM schon vorbei, er wurde für die nächsten zwei Spiele gesperrt, und mehr machte Bolivien nicht.

Weiterkommen früh gesichert

Südkorea leistete mehr Widerstand und trotzte Spanien im Endspurt ein 2:2 ab. Das brachte Deutschland vor dem Spiel gegen die Iberer in eine günstige Position, ein Punkt würde das Weiterkommen schon sichern. Und den gab es dann auch, aber dieses 1:1 von Dallas, bei dem erneut Jürgen Klinsmann traf, führte zu ersten Rissen.

Bodo Illgner stand nach dem Gegentor, einer abgefälschten Flanke, in der Kritik, und Berti Vogts erntete für seinen Versuch, das Spiel zu loben, von Thomas Berthold heftige Widerworte: „Es bringt doch nichts, wenn sich der Bundestrainer hinstellt und behauptet, wir hätten gut gespielt. Die ganze Welt hat gesehen, dass es nicht so war.“ Uwe Seeler, Ehrenspielführer und über jeden Zweifel erhaben, schlug in dieselbe Kerbe: „Bei den ersten beiden Spielen konnte man Magenkrämpfe vom Zuschauen bekommen. In der Mannschaft steckt viel mehr, aber es geht nur miteinander.“

Einer fehlte schon nach dem dritten Spiel: Stefan Effenberg hatte beim mühsamen 3:2 über Südkorea seine Auswechslung mit einer obszönen Geste in Richtung der pfeifenden Fans quittiert. DFB-Präsident Egidius Braun setzte sich gegen den Spielerrat durch und forderte Effenbergs Rauswurf: „Da geht so ein Mensch hin, auch noch Nationalspieler, und erlaubt sich solche Obszönitäten. Lieber gar keine Nationalmannschaft als so eine.“ Folglich stellte Vogts dem Mittelfeldspieler das vorzeitige Rückflugticket aus.

Das änderte nichts daran, dass der Titelverteidiger seine Gruppe vor Spanien gewonnen hatte und ins Achtelfinale eingezogen war. Und von Sturmproblemen war gar keine Rede mehr: Jürgen Klinsmann hatte vier der fünf Tore erzielte, das fehlende dritte gegen Südkorea markierte Karl-Heinz Riedle. Aber den kommenden Weltmeister hatte man in diesem Team nicht gesehen in Amerika.

“Soll erfüllt – Zufriedenheit hält sich in Grenzen

„Soll erfüllt – die Zufriedenheit aber hält sich in Grenzen und Freude will gar nicht erst aufkommen. Deutschland nach der Vorrunde: kein überzeugendes Spiel, Kritik von allen Seiten“, moderierte der Kicker seine Vorrundenanalyse an und erkannte „10 große Fehler“. Unter anderem diagnostizierte das Fachblatt Führungsschwäche, Überforderung, Egoismus , Unordnung und „Überversorgung“ – weil die Spieler vor dem Einstieg in den Flieger von Dallas nach Chicago noch eine Ganzkörpermassage erhielten. Das sei ein typisches Beispiel für Verhätschelung. Die Kritik war zumindest kritikwürdig: Keine der 24 Mannschaften in der Vorrunde hatte mehr Punkte geholt als die deutsche. Klagen auf hohem Niveau.

Die Vorrunde überstanden alle Favoriten, dennoch war sie nicht frei von Überraschungen. In Gruppe A nahmen die Europäer die ersten Plätze ein und nicht die hitzefesteren Teams des Gastgebers und der Kolumbianer. Rumänien gewann die Gruppe überraschend vor der Schweiz, die bei einer Weltpremiere Pate stand. Das Spiel gegen die USA in Detroit war das erste, das in einer Halle stattfand. Im Silverdome herrschten unter dem größten Traglufthallendach der Welt nicht sonderlich angenehme Bedingungen, 80 Prozent Luftfeuchtigkeit und 37 Grad Celsius wurden gemessen, und der Geruch von Schweiß mischte sich mit dem von Popcorn. Vakuum-Fußball im Land der unbegrenzten Möglichkeiten – nur für die Amerikaner ganz normal.

In dieser Gruppe fand übrigens kein Spiel ohne Bundesligabeteiligung statt, alle Teams hatten Deutschland-Legionäre in ihren Reihen. Kolumbien mit Bayern-Stürmer Adolfo Valencia musste schließlich die Heimreise antreten und schrieb die traurigste Geschichte der WM-Historie: Verteidiger Andres Escobar, dem beim 1:2 gegen die USA ein Eigentor unterlaufen war, wurde nach der Rückkehr auf einem Restaurant-Parkplatz in Medellin erschossen. Die Mörder wurden nicht gefasst. Spekuliert wurde, dass sie im Auftrag eines korrupten Wettsyndikates gehandelt hätten, dem Millionen entgangen seien.

Gastgeber USA rettete sich derweil über die letztmals angewandte Regelung, dass vier der besten Gruppendritten weiterkommen, ins Achtelfinale. Das war Trainer Bora Milutinovic somit zum dritten Mal in Folge gelungen – mit drei Ländern (zuvor Mexiko und Costa Rica). Ein Hattrick der ganz besonderen Art.

WM-Torrekord von Oleg Salenko

In Gruppe B wurde Brasilien seiner Favoritenrolle gerecht und kam zu deutlichen Siegen über Russland (2:0) und Kamerun (3:0), so dass das abschließende 1:1 gegen Schweden den Gruppensieg sicherte. Am selben Tag ereignete sich im Parallelspiel der Ausgeschiedenen ein WM-Torrekord: Oleg Salenko traf beim 6:1 der Russen gegen desolate Kameruner fünfmal – das gab es noch nie in der WM-Historie. Ebenso wenig, dass ein in der Vorrunde mit seinem Team ausgeschiedener Spieler Torschützenkönig werden sollte – Salenko kam gemeinsam mit dem Bulgaren Hristo Stoitchkov auf sechs Treffer. Selbst Kameruns Ehrentor war von Bedeutung: Roger Milla avancierte dadurch zum ältesten Torschützen der WM-Historie – mit 42 Jahren und 40 Tagen tanzte er noch einmal an der Eckfahne Lambada.

Mehr erinnerte nicht an das Kamerun von 1990, die Afrikaner holten nur einen Punkt gegen Schweden (2:2), das vor allem dank des Mönchengladbachers Martin Dahlin (drei Vorrunden-Tore) weiterkam.

Die Gruppe D stand von vornherein im Schatten eines Spielers: D wie Diego Maradona. Hinterher hätte man sie auch als Doping-Gruppe bezeichnen können. Ausgerechnet der alternde Super-Star Maradona, der beim 4:0 gegen Griechenland sein letztes WM-Tor schoss, sorgte für den ersten WM-Skandal. Der Argentinier wurde nach dem 2:0 über Nigeria des Dopings überführt, auch wenn von Absicht kaum die Rede sein kann. Ein vom Teamarzt verordnetes Nasenspray enthielt die verbotene Substanz Ephedrin und kostete Maradona nach 21 WM-Spielen den Status des Rekordspielers, den er mit 22 alleine erhalten hätte. Die FIFA sperrte ihn Stunden vor dem letzten Gruppenspiel gegen Bulgarien bis auf Weiteres und schloss ihn vom Turnier aus.

Mexiko vor Irland, Italien und Norwegen - ausgeglichen wie nie

Vergeblich forderte Nigeria auch den Ausschluss Argentiniens, was in der Tat überzogen gewesen wäre. Die Argentinier waren auch so nicht mehr konkurrenzfähig und verloren quasi unter Schock gegen Bulgarien mit 0:2. Trainer Alfio Basile klagte: „Maradona ist eine unserer Hauptfiguren. Wir vermissen ihn sowohl auf dem Spielfeld als auch außerhalb. Die Dinge haben sich in 30 Sekunden geändert.“ Nur als Dritter kam der Ex-Weltmeister ins Achtelfinale, noch hinter den punktgleichen Nigerianern und Bulgaren, die 1994 im 16. Anlauf erstmals ein WM-Spiel gewannen – gegen Griechenland (4:0), das bei seiner WM-Premiere nur ein Punktelieferant war und nicht mal ein Tor schoss.

Die Gruppe E ging in die WM-Geschichte ein. Das E mag am besten für Egalité stehen, denn absolute Gleichheit zeichnete dieses Quartett aus. Jedenfalls nach Zahlen. Als Mexiko, Irland, Italien und Norwegen in dieser Reihenfolge ins Ziel einliefen, trennte sie rein gar nichts außer der Anzahl der erzielten Tore. Alle hatten sie vier Punkte und ein ausgeglichenes Torverhältnis, weshalb Mexikos 3:3 Tore zum Gruppensieg reichten und Norwegens 1:1 nur zur Heimfahrt. Bei Italien und Irland (je 2:2) half nur der direkte Vergleich, der für die Iren sprach.

In Italien hatte man sich ja schon an allerhand gewöhnt: 1970 war man mit 1:0 Toren durch die Vorrunde gegangen, 1982 mit drei Unentschieden. Stets reichte es fürs Finale – und so sollte es wieder werden, auch wenn wenig dafür sprach. Immerhin beeindruckte der Kampfgeist der Elf von Trainer Arrigo Sacchi, die Norwegen in siebzigminütiger Unterzahl bezwang. Superstar Roberto Baggio sah sich die Vorrundenspiele meist von der Bank aus an, auf der übrigens erstmals alle Reservisten sitzen durften, weil auch alle einsatzberechtigt waren. Bis 1990 hatte dies nur für 16 Spieler gegolten.

Totes Rennen in Gruppe F

In Gruppe F ereignete sich das nächste tote Rennen, nur Marokko hinkte punktlos hinterher. Aber die Niederlande, Saudi-Arabien und Belgien gewannen jeweils zwei Spiele und hatten eine Tordifferenz von plus eins. Der direkte Vergleich entschied, dass die Holländer Gruppensieger würden, obwohl sie dem Rivalen Belgien 0:1 unterlegen waren. Dick Advocaat, späterer Bundesliga-Trainer in Gladbach, schob die nicht befriedigenden Leistungen von Oranje auf die für fast alle Europäer unerträgliche Hitze: „Ich will ja keine Entschuldigung anführen, aber angesichts dieser mörderischen Temperaturen kann man nicht über 90 Minuten guten Fußball spielen.“

Am wenigsten machte das noch den Saudis etwas aus, die außer Marokko auch Belgien schlugen. So kam erstmals eine arabische Mannschaft ins Achtelfinale, in dem noch alle Kontinente vertreten waren – von Ozeanien abgesehen, das ohnehin nicht am Start gewesen war.

Bestes WM-Spiel im Achtelfinale: 3:2 gegen Belgien

Ob es nun am Wetter lag oder doch eher am reinigenden Gewitter im deutschen Lager nach dem Effenberg-Zwangsabschied – der Weltmeister bot jedenfalls am 2. Juli in Dallas bei milden 17 Grad und ungewohnt starkem Wind seine mit Abstand beste WM-Leistung. Gegen die Belgier (3:2) hatte Vogts umgestellt: Thomas Helmer, Martin Wagner und Rudi Völler standen erstmals in der Startelf, aus der neben Effenberg auch Brehme und Riedle verschwunden waren. Möller sah schon länger zu. Brehme kam nach der Pause für den angeschlagenen Matthäus noch ins Spiel, aber da war schon fast alles gelaufen.

Wie entfesselt hatte die Elf kombiniert, und wieder fielen ausnahmslos Stürmer-Tore. Völler traf zum 1:0 und zum 3:1, Klinsmann schoss das 2:1. ARD-Reporter Gerd Rubenbauer witzelte nach Klinsmanns fünftem WM-Tor: „Das Soldier Field werden sie bald Klinsi-Field nennen.“ Nun, so weit kam es nicht, aber Klinsmanns Leistung in Amerika und insbesondere an diesem, Tag war aller Ehren wert. Der Kicker gab ihm eine 1,5, nur Häßler und Völler erhielten eine noch bessere Note (1). Klinsmann gab zu Protokoll: „Uns überflutete auf einmal eine Welle der Kritik. Dazu kam die Sache mit Effenberg. Es herrschte ein kleines Chaos. Doch auf extremen Druck haben wir wieder einmal extrem gut reagiert.“

Der Mythos der Turniermannschaft lebte fort, wieder schien sich eine deutsche Elf steigern zu können, wenn es darauf ankommen würde. Belgiens Torschütze zum Endstand, Philippe Albert, sagte, was wohl die ganze Welt dachte nach dieser Demonstration der Stärke: „So können die Deutschen wieder Weltmeister werden.“

Clinton: „USA ist stolz auf ihre Mannschaft“

Auch Franz Beckenbauer, als TV-Experte allgegenwärtig im deutschen Lager, prophezeite: „New York wird mit zwei Spielen nur eine Zwischenstation sein. Die Endstation heißt Los Angeles – das Finale.“ Nach den Deutschen zogen sechs weitere Europäer ins Viertelfinale ein. Nur Brasilien vertrat den Rest der Welt und eliminierte den Gastgeber USA erbarmungslos und doch glücklich mit 1:0. Dass es ausgerechnet am amerikanischen Nationalfeiertag, dem 4. Juli, geschehen musste, machte das frühe Aus des Gastgebers noch etwas schmerzlicher.

Selbst eine Überzahl über eine komplette Halbzeit (Rot für Leandro) konnten die US-Boys nicht nutzen. Bebeto ließ in der 73. Minute den amerikanischen Traum platzen. Was blieb nach einjähriger Vorbereitung auf das Großereignis, war Stolz. „Die USA ist stolz auf ihre Mannschaft“, sagte Bill Clinton, und Verbandspräsident Alan Rothenberg bewies seherische Fähigkeiten, als er in der US-Kabine sagte: „Ihr habt gegen den neuen Weltmeister verloren.“

Darauf redeten sich die Schweizer nicht heraus, als sie von Spanien mit 0:3 bezwungen worden waren. Eher haderten die Herren Sforza, Chapuisat und Co. mit dem Schiedsrichter wegen eines vermeintlichen Abseitstores - und mit der eigenen Unfähigkeit im Angriff. Immerhin blieb den Eidgenossen der Trost, zuvor erstmals nach 40 Jahren wieder ein WM-Spiel gewonnen zu haben – beim 4:1 in der Vorrunde über Rumänien. Spanien feierte derweil seinen Torwart Zubizaretta und den Doppel-Torschützen Carminero und träumte vom ersten Halbfinaleinzug seiner Historie.

Dahlin trifft weiter für Schweden

Die Schweden beendeten in Dallas humorlos das orientalische Märchen und schickten die Saudis nach Hause. Martin Dahlin war wieder unter den Torschützen. Die Araber freuten sich über das Lob ihres Königs Fahd, der sie persönlich zu empfangen versprach. Stürmer Owairan sagte gerührt: „Wir haben unser Land durch unsere Spiele geehrt. König Fahd ist sehr stolz auf uns.“ Ihr Trainer Jorge Solari verwies vor der Presse darauf, dass „wir eben erst mit dem Profifußball begonnen haben“ und kündigte weitere Großtaten an.

Im dramatischsten Spiel des Achtelfinales erwischte es mit Argentinien den ersten Topfavoriten, der Maradonas Sperre noch immer nicht verwunden hatte. Gegen entfesselte Rumänen unterlagen sie mit 2:3 und der neue WM-Star, den dieser Tag in Los Angeles gebar, war auch ein kleiner Mann mit einem begnadeten linken Fuß. Gheorge Hagi wurde nicht von ungefähr „Karpaten-Maradona“ genannt. Nach Dumitrescus Doppelschlag erzielte er das entscheidende 3:1, das Argentinien die Heimfahrt bescherte. „Maradonas Sperre hat unsere Moral gebrochen“, sagte Mitspieler Redondo, und Trainer Alfio Basile ergänzte: „Ohne Maradona konnten wir nicht gewinnen.“ Sein Kollege Anghel Iordanescu fand ebenfalls bedeutungsschwere Worte: „Das ist das größte Ereignis, das die Leute zu Hause seit der Revolution zu feiern hatten.“

Weit erwartungsgemäßer verlief die Partie in Orlando, wo die Niederlande Irland ausschalteten (2:0). Erstmals seit 1978 waren die Holländer zur Freude von 15.000 Schlachtenbummlern wieder in einem Viertelfinale, und das verdankten sie nicht unwesentlich dem armen Pat Bonner im Tor der Iren. War er gegen Bergkamps 1:0 noch machtlos, so ließ er einen harmlosen 20-Meter-Roller von Jonk noch vor der Pause zum Endstand ins Tor. „Ich bin der Dummkopf der Nation. So ein Fehler ist mir noch nie passiert. Ich entschuldige mich bei unseren tollen Fans für die Niederlage“, sagte Bonner geknickt. Trainer Jacky Charlton linderte dessen Schmerzen nicht gerade: „Solche Fehler machen mir Alpträume.“

Packende Duelle im Achtelfinale

Die beiden letzten Achtelfinalpartien vom 5. Juli waren nichts für schwache Nerven. Das große Italien lag bis zur 88. Minute gegen Nigeria zurück und wurde dann von Roberto Baggio gerettet, dem in der Verlängerung auch das erlösende 2:1 gelang. Das führte zu Übermut beim Edel-Reservisten: „Ich glaube, ich bin einer der besten Stürmer auf der Welt.“ Trainer Sacchi sah sich bestätigt: „Er hat ein großes Spiel gezeigt und sich aus der Krise geschossen.“ Den Kritikern schrieb er ins Stammbuch: „Wir sind bei dieser WM unterbewertet worden. Heute aber haben wir gezeigt, dass wir ein echtes Team sind.“ Mit Nigeria verabschiedete sich der letzte Exot aus den USA.

In New York mussten mit Mexiko und Bulgarien erstmals zwei Mannschaften bei dieser WM ins Elfmeterschießen. 71.030 Zuschauer standen zwar mehrheitlich auf der Seite Mexikos, doch die Bulgaren hatten die besseren Nerven. Wie 1986 im eigenen Land gegen Deutschland verwandelte Mexiko nur einen von vier Elfmetern, und Bulgarien feierte seinen Elfmetertöter Boris Michailow, der zwei Bälle hielt. Damit qualifizierten sich die Männer um Superstar Stoitchkov für das Viertelfinale gegen Deutschland an selber Stelle. Es fand am 10. Juli statt und markierte einen Tiefpunkt deutscher WM-Geschichte.

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Viertelfinal-Aus trotz Führung gegen Bulgarien

Alle Hoffnungen, die die gegen Belgien starke und so hochkarätig besetzte Mannschaft geweckt hatte, wurden an diesem Sonntagnachmittag zu Grabe getragen. Nach torloser, aber guter erster Hälfte ging der Weltmeister vor über 75.000 Zuschauern sogar in Führung: Matthäus verwandelte einen Elfmeter nach Foul an Klinsmann (49.). Danach traf der für Sammer nachgerückte Möller nur den Pfosten – und der Abpraller wurde von Völler zwar verwertet, aber wegen Abseits aberkannt.

Statt 2:0 hieß es fünf Minuten später 1:2. Zunächst verwandelte Stoitchkov einen von Pechvogel Möller verschuldeten Freistoß, bei dem Illgner stehen blieb. Kurz darauf wurde ausgerechnet der kleinste Deutsche, Thomas Häßler, in ein Kopfballduell mit dem HSV-Profi Yordan Letchkov genötigt. Er verlor es prompt und Deutschland das Spiel, denn Letchkov hechtete den Ball ins Tor, weshalb Tage später in Leserbriefen sein Rauswurf beim HSV gefordert wurde.

Auf der deutschen Bank herrschte Panik: Verteidiger Brehme wollte nicht eingewechselt werden und bat Vogts, doch lieber einen Stürmer wie Riedle zu bringen, doch der Bundestrainer setzte sich durch. Es fiel aber kein Tor mehr in den letzten elf Minuten. Somit war Deutschland erstmals seit 1978 nicht unter den besten Vier gelandet, und der DFB musste den Rückflug, der erst für den Tag nach dem Finale vorgesehen war, um sechs Tage vordatieren.

Eine der unnötigsten Niederlagen deutscher WM-Geschichte

Die Enttäuschung war auch deshalb so groß, weil es eine komplett unnötige Niederlage gewesen war. „Nach dem 1:0 waren die Bulgaren platt, aber wir haben vergessen, das zweite Tor zu schießen. Aus zwei Chancen haben die dann die entscheidenden Treffer erzielt“, sagte Lothar Matthäus. Wie Maradona war es auch ihm nun vorerst nicht vergönnt, WM-Rekordspieler zu werden, ebenfalls blieb er bei 21 Spielen stehen.

Nun begann das große Abschiednehmen: Fünf Spieler (Völler, Brehme, Buchwald, Effenberg und Illgner) traten aus der Nationalmannschaft zurück, Bodo Illgner noch in der Kabine des Giants-Stadium. Berti Vogts kam es wohl gelegen, hatte er doch schon analysiert: „Der einzige Fehler war, dass ich mich gegen Andreas Köpke entschieden habe. Dafür habe ich mich bei ihm entschuldigt.“ Lothar Matthäus äußerte sich enttäuscht darüber, dass Vogts ihm während der WM das Vertrauen entzogen habe.

Durch die Kritik, die von vielen Medien auf Vogts einprasselte, ließ sich der zähe Weltklasseverteidiger von einst nicht unterkriegen, und mit ihm trotzte ihr DFB-Präsident Egidius Braun: „Es ist keine Götterdämmerung, sondern ein Aufbruch zu neuen Ufern.“ Dazu brauchte er Vogts. Der blieb - und wurde 1996 prompt in England Europameister.

Brasilianisches Sturmduo verzaubert die Fans

Weltmeister 1994 aber musste ein anderes Land werden, und nach dem Viertelfinale gab es einen echten Topfavoriten. Brasilien besiegte im besten Spiel dieser WM in Dallas die Niederländer mit 3:2 (0:0). Das neue Sturmduo Romario/Bebeto, das vor kurzem noch nicht einmal im Flieger nebeneinander sitzen wollte, harmonierte prächtig und sorgte nach 62 Minuten für eine 2:0-Führung, nach der alles gelaufen schien. Aber Bergkamp und Winter schossen binnen zwölf Minuten zwei Tore.

Doch die Selecao von Trainer Carlos Alberto Parreira erholte sich von diesem Schock. Wie eigentlich bei jeder WM hatte Brasilien wieder einen begnadeten Freistoßschützen in seinen Reihen – und jener Branco genoss seinen 25-Meter-Treffer vollmundig. Er gab seinem Tor, wie das in Brasilien angeblich so üblich ist, einen Namen, den seine Kritiker wohl am besten verstanden. Das „Haltet das Maul-Tor“, im Original „Cala Boca“ stürzte Brasilien in Euphorie. „Wir haben den Holländern heute eine Lehrstunde erteilt, das war Fußballkunst in Perfektion“, jubelte Romario. Für die Holländer galt: raus mit Applaus! „Wir haben uns hier gut verkauft, nur gegen ein Weltklasseteam unglücklich verloren“, bilanzierte Dick Advocaat den USA-Trip.

Die anderen Partien konnten nicht ganz mithalten, aber auch hier gab es Dramen mit Helden und Versagern. Italien demonstrierte gegen Spanien erneut, dass es eine Turniermannschaft ist, die auch an schwächeren Tagen zum Erfolg kommen kann – wann auch immer. Wie gegen Nigeria hatte Roberto Baggio in der 88. Minute seinen großen Auftritt. Diesmal war es das Siegtor zum 2:1. Überschattet wurde Italiens Erfolg von einer Brutalität, die sich Mauro Tassotti leistete. Vom Schiedsrichter unbemerkt, brach er Luis Enrique mit einem Ellenbogenschlag die Nase. TV-Bilder überführten ihn, und erstmals wurde ein WM-Spieler auf dieser Grundlage verurteilt – zu einer Sperre von acht Spielen.

Für die Squadra Azzura ging das Turnier ohne Tassotti weiter, für Spanien gar nicht. Die iberische Auswahl musste damit leben, das Gegenteil Italiens zu sein – eben keine Turniermannschaft. Torschütze Caminero war kaum zu trösten: „Ich bin hierher gefahren, um Weltmeister zu werden!“

Schweden marschiert weiter

Diesen Anspruch hatte die schwedische Mannschaft mit Sicherheit nicht, aber am Abend des 10. Juli 1994 war sie plötzlich eine der vier besten auf der Welt. In einem Drama mit teils zähem Vorlauf kickte sie die Rumänen vom Elfmeterpunkt aus dem Turnier. Nach 90 Minuten stand es 1:1, nach 120 Minuten 2:2, jede Mannschaft hatte einmal geführt. Die Schweden, die die letzten 18 Minuten in Unterzahl überstanden, hatten letztlich die besseren Nerven und in Thomas Ravelli den besseren Torwart. Er hielt in seinem 115. Länderspiel zwei Elfmeter und veranlasste Rumänen-Coach Iordanescu zu markigen Worten: „Ein Elfmeterschießen ist kein Makel, sondern Schicksal. Fußball kennt keine Gnade.“

Oder keinen Schönheitspreis. Eine der spielerisch besten Mannschaften des Turniers musste nun die Koffer packen und einem kampfstärkerenen Team den Vortritt lassen. Schwedens Trainer Tommy Svensson blickte mutig voraus: „Wir glauben immer an uns. Die Mannschaft hat Charakter und deshalb wird sie auch Brasilien Paroli bieten.“ Schwedens Kommunalbehörden wurden in den drei Tagen bis zum Halbfinale mit Anträgen von Gastwirten überhäuft. Alle wollten sie dasselbe: die Aufhebung der Sperrstunde, denn das Spiel gegen Brasilien, dem die Nation entgegenfieberte, begann um 1.30 Uhr nach mitteleuropäischer Zeit.

Baggio macht den Unterschied

Zuvor ermittelten in New York Bulgarien und Italien den ersten Finalisten. Noch nie war eine bulgarische Mannschaft so weit gekommen, die Begeisterung in dem Balkan-Staat war unbeschreiblich. Nach dem Sieg über die Deutschen feierten in Plovdiv Tausende die Eltern des Nationalheldes Hristo Stoitchkov und belagerten das Haus, in dem der Superstar aufgewachsen war. Für die Mutter war es zu viel, sie kollabierte und kam ins Krankenhaus. Zum Halbfinale reiste Staatspräsident Schelju Schelew höchstselbst an und brachte den Spielern CDs mit Volksmusik mit. Nach der Partie wagte er sich in die Kabine und sagte: „Diese Mannschaft hat mehr für ihr Land getan als je ein Bulgare zuvor.“

Und doch hatte sie verloren, weil Italien einen Roberto Baggio in seinen Reihen wusste. Wie 1982 Paolo Rossi zeichnete er nach der Vorrunde für fast alle Tore verantwortlich und stockte sein WM-Konto auf fünf Tore auf. Diesmal präferierte er eine frühe Entscheidung und hatte sein Werk schon nach 25 Minuten getan. Da stand es 2:0, was gegen Italien seit jeher im Grunde fast unaufholbar ist. Die Bulgaren aber kamen durch Stoitchkovs Elfmeter noch vor der Pause heran. Weil der französische Schiedsrichter Quiniou nicht einen zweiten Elfmeter gab bei Costacurtas vermeintlichem Handspiel, blieb es beim 2:1. Bulgarien schied in Ehren aus, Italien erreichte sein fünftes WM-Finale. Wie so oft schmucklos, aber effizient und taktisch höchst diszipliniert.

Attribute, die man im Zusammenhang mit Brasilien eher selten gehört hat und auch 1994 nicht. Es war die Mischung aus im Grunde gegensätzlichen Mentalitäten, die Brasilien ins Finale und letztlich auch ans Ziel brachte. „In der Vergangenheit haben wir viel von den Europäern gelernt, vor allem den Kampf und die Geschlossenheit. Wir haben aber niemals vergessen, dass die Technik das Herz des brasilianischen Fußballs ist“, philosophierte Stürmerstar Romario, nach dem er selbst das Tor zum Finale geöffnet hatte. Sein Treffer in der 81. Minute entschied das schwache Halbfinale mit den wackeren Schweden, das sehr einseitig verlief. Nach Chancen hätte es laut Kicker-Statistik 11:0 für Brasilien enden können, Schweden suchte sein Heil nur in der Defensive und fand es nicht.

Schweden wird verdienter Dritter

Nun hatte die WM ihr Traum-Finale. Mit Brasilien und Italien trafen zwei Länder aufeinander, die jeweils dreimal Weltmeister geworden waren - einer würde neuer Rekordtitelträger werden.

Am Vortag des Endspiels schossen sich die Schweden den Frust von der Seele und demontierten bereits in Urlaubsstimmung befindliche Bulgaren mit 4:0 – so stand es bereits nach 40 Minuten. Trainer Svensson strahlte: „Das ist der größte Erfolg des schwedischen Fußballs überhaupt. Es ist mehr als der zweite Platz 1958, weil seitdem die Konkurrenz viel stärker war.“ Auch dieses Spiel zweier in den USA nicht sonderlich populärer Mannschaften verfolgten in Los Angeles 83.716 Menschen. Fußball und Amerika – doch eine gute Mixtur?

Endspiel bleibt hinter den Erwartungen zurück

Am 17. Juli war dasselbe Stadion dann mit 94.949 Zuschauern restlos ausverkauft. Die Erwartungen waren riesengroß, und die ganze Welt schaute zu. Deutschland hätte gerne auf dem Feld gestanden, aber nur die deutschen Journalisten schafften es in einem Parallelturnier so weit und schlugen im Pressefinale Spanien souverän mit 5:0. Immerhin vertraten die Brasilianer Jorginho (beim FC Bayern) und Kapitän Carlos Dunga (VfB Stuttgart) die Bundesliga. Leider machte ausgerechnet das 52. und letzte Spiel des Turniers so gar keine Werbung für den Fußball: Es war das einzige torlose dieser WM, bei der 2,7 Treffer im Schnitt gefallen waren – und damit mehr als in den drei Turnieren zuvor.

Nur für Taktikfreunde wurde allerhand geboten, es war ein Lehrbeispiel für die hohe Kunst der Neutralisierung des Gegners. Der Kicker gab den ereignislosen zwei Stunden Rasenschach die Note mangelhaft und schrieb von einem „Fehlpass-Festival“. Nach dessen Ende dennoch eine richtige Feier stieg – in Rio de Janeiro, an der Copacabana und wo immer sonst die Freunde der Samba-Fußballer lebten.

Im ersten Elfmeterschießen in einem WM-Finale versagten drei Italienern die Nerven: Der Routinier Baresi verschoss wie Brasiliens Marcio Santos gleich den ersten Ball, Massaro scheiterte danach an Taffarel – und als Roberto Baggio unbedingt treffen musste, bekam er das Zittern und schoss über das Tor. Ausgerechnet Baggio, dessen Tore Italien erst ins Endspiel gebracht hatten.

Brasilien – ein würdiger Weltmeister

Baggios Trainer Sacchi sagte: „Es muss einen Weltmeister durch Elfmeterschießen geben, sonst gäbe es ein ewiges Unentschieden.“ Die internationale Kritik war sich einig: Diese WM hätte ein besseres Endspiel verdient gehabt, aber sie bekam mit Brasilien wenigstens einen würdigen Weltmeister.

Im Kicker drehte Chefredakteur Karl-Heinz Heimann noch einmal den Scheinwerfer auf diese mit so viel Skepsis begrüßte WM. „Das Turnier war ein geradezu überwältigender Erfolg für den Fußball. Die Stimmung in den Stadien war riesig, die befürchteten Krawalle blieben ganz aus. Das Agieren der Polizei- und Sicherheitskräfte fand ich ausgesprochen zurückhaltend. So manches Vorurteil über Amerika und die Amerikaner musste man revidieren.“