WM 1974: Titelgewinn im eigenen Land

Das Jahr der WM in Südafrika läuft: Zum 19. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent. DFB.de-Autor Udo Muras erinnert in einer WM-Serie an kuriose Geschichten der Turnierhistorie.

Teil 10: Die WM 1974 in Deutschland

Die zehnte Weltmeisterschaft 1974 in der Bundesrepublik Deutschland setzte neue Maßstäbe. In punkto Organisation und Logistik verdiente sich der DFB als Veranstalter Bestnoten. Hochmoderne Stadien, die mit Ausnahme von München eigens zu diesem Fußballfest errichtet oder modernisiert worden waren, sorgten für einen Zuschauerrekord. Offiziell wurden bis dahin unerreichte 1.769.062 Karten verkauft. Und das, obwohl die WM 1974 im Gegensatz zu der von 2006 gewiss kein Sommermärchen, sondern eher ein Wasserfest war. Mit dem Wetter hatten die Deutschen und ihre Gäste aus 15 Ländern vor 36 Jahren kein Glück, dafür lachte ihnen der Fußball-Gott zu, denn am Ende hieß der Weltmeister zum zweiten Mal Deutschland.

Um die Teilnahme bewarben sich diesmal 99 Länder, auch das war ein Rekordwert. Diesmal gab es nur wenige Überraschungen. Die größte sah Wembley, wo England nach einem 1:1 im Oktober 1973 an den Polen scheiterte. Kurios das Ausscheiden der Belgier, die es als erste Auswahl fertigbrachten, ungeschlagen und ohne Gegentor eine WM zu verpassen. Nachbar Niederlande, gegen den beide Partien 0:0 endeten, hatte die bessere Tordifferenz. Und so kam der spätere Finalist nur mit knapper Not nach Deutschland.

Noch dramatischer machten es Jugoslawen und Schweden, die erst in Entscheidungsspielen in Deutschland gegen ihre punktgleichen Kontrahenten das WM-Ticket lösten. Viel einfacher hatte es dagegen Chile, dessen Elf am 21. November 1973 in Santiago in einem leeren Stadion alleine aufs Feld lief und den Ball ins Tor schoss. Ohne jede Gegenwehr, denn die UdSSR war aus politischen Gründen nicht erschienen. Man wollte nicht in einem Stadion spielen, in dem das Militärregime von General Pinochet Oppositionelle folterte. Für die FIFA war das kein Protestgrund und so entschied sie am Tag vor der Auslosung mit 13:5 Stimmen, dass Chiles „1:0“, das nach dem „Tor“ von Kapitän Valdez auf der Anzeigetafel erschienen war, zur Teilnahme berechtigte – weil die Russen nicht angetreten waren.

Osteuropa war dennoch vertreten, als am 6. Januar 1974 in Frankfurt die Lose gezogen wurden. Neben den Bulgaren und den Polen hatte es erstmals überhaupt die DDR geschafft, Abwehrchef Bernd Bransch schoss sie gegen Rumänien (2:0) quasi allein zur WM. Dass der kommunistische Ost-Block sogar durch ein viertes Land vertreten sein würde – Jugoslawien – wusste man noch nicht. Denn erstmals überhaupt war das Teilnehmerfeld bei einer Auslosung nicht komplett, da sich Spanien und Jugoslawien nicht rechtzeitig auf einen Termin für das nötig gewordene Entscheidungsspiel einigen konnten. Verständlich allerdings, dass die katholischen Spanier nicht an Weihnachten (26. Dezember) spielen wollten, wie angeboten.

So traf man sich erst am 13. Februar im mit Gastarbeiter restlos gefüllten Frankfurter Waldstadion, die Jugoslawen siegten 1:0. Fünf Wochen lang aber wusste die Welt nicht, wie die Eröffnungspartie heißen würde und wer denn nun Titelverteidiger Brasilien am 13. Juni in Frankfurt fordern würde. Fast alle anderen Unklarheiten waren längst beseitigt. Aus 53 Entwürfen wählte die FIFA den neuen WM-Pokal aus, nachdem Brasilien den alten hatte behalten dürfen. Das Modell, um das noch immer gespielt wird, erhielt den sachlichen Namen „FIFA World Cup“, während der Vorgänger nach FIFA-Präsident Jules Rimet benannt worden war. Das neue Modell ist größer und schwerer, aus 18karätigem Gold und die heiß begehrteste Trophäe des Fußballs.

Pokalpremiere für Beckenbauer



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Das Jahr der WM in Südafrika läuft: Zum 19. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent. DFB.de-Autor Udo Muras erinnert in einer WM-Serie an kuriose Geschichten der Turnierhistorie.

Teil 10: Die WM 1974 in Deutschland

Die zehnte Weltmeisterschaft 1974 in der Bundesrepublik Deutschland setzte neue Maßstäbe. In punkto Organisation und Logistik verdiente sich der DFB als Veranstalter Bestnoten. Hochmoderne Stadien, die mit Ausnahme von München eigens zu diesem Fußballfest errichtet oder modernisiert worden waren, sorgten für einen Zuschauerrekord. Offiziell wurden bis dahin unerreichte 1.769.062 Karten verkauft. Und das, obwohl die WM 1974 im Gegensatz zu der von 2006 gewiss kein Sommermärchen, sondern eher ein Wasserfest war. Mit dem Wetter hatten die Deutschen und ihre Gäste aus 15 Ländern vor 36 Jahren kein Glück, dafür lachte ihnen der Fußball-Gott zu, denn am Ende hieß der Weltmeister zum zweiten Mal Deutschland.

Um die Teilnahme bewarben sich diesmal 99 Länder, auch das war ein Rekordwert. Diesmal gab es nur wenige Überraschungen. Die größte sah Wembley, wo England nach einem 1:1 im Oktober 1973 an den Polen scheiterte. Kurios das Ausscheiden der Belgier, die es als erste Auswahl fertigbrachten, ungeschlagen und ohne Gegentor eine WM zu verpassen. Nachbar Niederlande, gegen den beide Partien 0:0 endeten, hatte die bessere Tordifferenz. Und so kam der spätere Finalist nur mit knapper Not nach Deutschland.

Noch dramatischer machten es Jugoslawen und Schweden, die erst in Entscheidungsspielen in Deutschland gegen ihre punktgleichen Kontrahenten das WM-Ticket lösten. Viel einfacher hatte es dagegen Chile, dessen Elf am 21. November 1973 in Santiago in einem leeren Stadion alleine aufs Feld lief und den Ball ins Tor schoss. Ohne jede Gegenwehr, denn die UdSSR war aus politischen Gründen nicht erschienen. Man wollte nicht in einem Stadion spielen, in dem das Militärregime von General Pinochet Oppositionelle folterte. Für die FIFA war das kein Protestgrund und so entschied sie am Tag vor der Auslosung mit 13:5 Stimmen, dass Chiles „1:0“, das nach dem „Tor“ von Kapitän Valdez auf der Anzeigetafel erschienen war, zur Teilnahme berechtigte – weil die Russen nicht angetreten waren.

Osteuropa war dennoch vertreten, als am 6. Januar 1974 in Frankfurt die Lose gezogen wurden. Neben den Bulgaren und den Polen hatte es erstmals überhaupt die DDR geschafft, Abwehrchef Bernd Bransch schoss sie gegen Rumänien (2:0) quasi allein zur WM. Dass der kommunistische Ost-Block sogar durch ein viertes Land vertreten sein würde – Jugoslawien – wusste man noch nicht. Denn erstmals überhaupt war das Teilnehmerfeld bei einer Auslosung nicht komplett, da sich Spanien und Jugoslawien nicht rechtzeitig auf einen Termin für das nötig gewordene Entscheidungsspiel einigen konnten. Verständlich allerdings, dass die katholischen Spanier nicht an Weihnachten (26. Dezember) spielen wollten, wie angeboten.

So traf man sich erst am 13. Februar im mit Gastarbeiter restlos gefüllten Frankfurter Waldstadion, die Jugoslawen siegten 1:0. Fünf Wochen lang aber wusste die Welt nicht, wie die Eröffnungspartie heißen würde und wer denn nun Titelverteidiger Brasilien am 13. Juni in Frankfurt fordern würde. Fast alle anderen Unklarheiten waren längst beseitigt. Aus 53 Entwürfen wählte die FIFA den neuen WM-Pokal aus, nachdem Brasilien den alten hatte behalten dürfen. Das Modell, um das noch immer gespielt wird, erhielt den sachlichen Namen „FIFA World Cup“, während der Vorgänger nach FIFA-Präsident Jules Rimet benannt worden war. Das neue Modell ist größer und schwerer, aus 18karätigem Gold und die heiß begehrteste Trophäe des Fußballs.

Pokalpremiere für Beckenbauer

Franz Beckenbauer sollte der erste sein, der sie berühren durfte. Bis dahin war es ein weiter Weg. Eine Überraschung war es nicht, denn Deutschlands Fußball erlebte in den frühen Siebzigern eine nie dagewesene Hochphase und die Nationalmannschaft wurde gemeinhin zum Top-Favoriten des Turniers erkoren. Nicht nur weil sie Gastgeber war. Hatte sie doch 1972 in begeisternder Manier die Europameisterschaft gewonnen, in Franz Beckenbauer, Günter Netzer, Wolfgang Overath und Gerd Müller Spielerpersönlichkeiten, um die sie die ganze Welt beneidete. Hinzu kam die Stärke der Bundesliga, deren Serienmeister Bayern München im Mai 1974 erstmals den Europapokal der Landesmeister gewonnen hatte. Im Vorjahr hatte Borussia Mönchengladbach das UEFA-Cup-Finale erreicht.

Zwölf Spieler dieser beiden Mannschaften, die sich bis zum 33. Spieltag 1973/74 ein packendes Titelrennen lieferten, bildeten das Gerüst und das Gros des Kaders von Helmut Schön, der am 29. Mai traditionell die Sportschule Malente in Schleswig-Holstein bezog. Im Wesentlichen hatte der Bundestrainer seine Elf schon im Kopf, nur eine seit vier Jahren ungelöste Frage beschäftigte ihn: Netzer oder Overath? Die beiden großen Mittelfeld-Regisseure, die nicht im Gleichtakt spielen konnten, galt es einmal mehr zu trennen. Netzer spielte 1972 überragend und genoss in den Medien mehr Popularität, doch war er in schlechter Verfassung aus Madrid angereist, wo er seit einem Jahr sein Geld bei Real verdiente. Nach einer Verletzung hatte er erheblichen Trainingsrückstand und schlichtweg Übergewicht, so dass ihm Schön eine Autogrammstunde strich. Er solle lieber trainieren. Overath wiederum hatte keine gute Saison gespielt und war voller Selbstzweifel, die ihm die Mitspieler sogar in der Sauna austreiben wollten. „Da gab es dann aber einige Spieler, die in der Schwitzstube zu mir sagten: ‚Wolfgang, ich renne für dich genauso wie für den Günter Netzer.’ Das fand ich toll.“, erzählte Overath später.

Glaubt man den Erzählungen von Franz Beckenbauer unmittelbar nach der WM, hätte allerdings nicht viel gefehlt, und keiner der Auserwählten wäre aufgelaufen. Schon am siebten Tag nämlich kam es in Malente zum großen Krach. Ein Prämienstreit war am 4. Juni ausgebrochen: die Spieler wollten sich mit dem Angebot des DFB, 30.000 D-Mark pro Kopf für den Titel zu bezahlen, nicht zufrieden geben. So viel hatte es schon 1970 in Mexiko für Platz drei gegeben und die Zeit war schließlich nicht stehen geblieben. Man hatte es nun mit Jungunternehmern zu tun, die ihren Marktwert kannten. Und wenn Italien das Vierfache bot, fühlten sich die Bundesliga-Stars schlicht unter Wert verkauft.

15 Stunden währten die Verhandlungen, die bis nachts um halb zwei gingen. Zwischendurch fielen Sätze wie „Die Mannschaft ist sich der Konsequenzen bewusst und sie wird abreisen. Nicht ein Spieler wird dableiben“ (Beckenbauer) oder „Mit diesem Sauhaufen will ich nichts mehr zu tun haben“ (Schön). Sowohl Schön als auch Verteidiger Paul Breitner hatten die Koffer schon gepackt, aber dann siegte die Vernunft.

Mit letztlich 70.000 D-Mark waren die Spieler zufrieden, wenngleich erst ein Machtwort Beckenbauers nach einer Pattsituation von 11:11 Stimmen das traurige Schauspiel beendete. Der Kicker schrieb dazu: „Es zeigte sich jedoch auch, welch cleveren Verhandlungspartner die Spielerseite in ihrem Kapitän Beckenbauer hatte. Wie wohl die gesamte Mannschaft vom Intellekt her nicht unterschätzt werden darf. Die geringschätzige Beurteilung, dass Fußballer eben nur mit dem Ball umzugehen verstünden und sonst nur wenig auf dem Kasten hätten, muss längst zu den Akten gelegt werden.“

Startprobleme gegen Chile

Nach dieser Vorgeschichte, die schnell in den Zeitungen stand, empfahl es sich dennoch, nun auch mit dem Ball gut umzugehen. Das aber fiel schwer in der Vorrunde, in der man auf Chile, Australien und erstmals (und nie wieder) auf die DDR traf. Das deutsch-deutsche Bruderduell wäre übrigens beinahe gar nicht zustande gekommen, da DDR-Funktionäre ein Image schädigendes Resultat befürchteten und am 8. Januar 1974 einen Rückzug von der WM berieten – was erst 1995 herauskam.

Einen Tag nach dem dritten torlosen Eröffnungsspiel in Folge zwischen Brasilien und Jugoslawien startete die DFB-Auswahl ins Turnier. In Berlin, damals noch eine geteilte Stadt, traf sie auf Chile. Schon nach 16 Minuten glückte Paul Breitner mit einem Weitschuss aus 25 Metern das Tor des Tages. Mehr gelang nicht gegen die defensiven Südamerikaner. „Mannschaften wie Chile verderben die Spiellaune“, fand der Kicker. Missgelaunt war auch das Publikum, viele der 85.000 Zuschauer verabschiedeten die Spieler mit Pfiffen. Eine WM-Premiere mit vier Jahren Anlauf bekamen sie immerhin zu sehen, der Chilene Carlos Caszely sah die erste Rote Karte nach deren Einführung 1970. Auch die zwanzigminütige Überzahl verhalf den Deutschen zu keinem überzeugenden Ergebnis, das es vier Tage später in Hamburg gegen WM-Neuling Australien geben sollte. „Heute schießen wir uns ein!“, titelte der Kicker optimistisch und bekam nur zur Hälfte recht. Denn auch das 3:0 stellte niemanden so recht zufrieden im Lager des WM-Favoriten. Wolfgang Overath, dem Schön den Vorzug vor Netzer gab, sein Kölner Teamkollege Bernd Cullmann und Gerd Müller schossen die Tore, aber das Hamburger Publikum pfiff die Sieger in den letzten zehn Minuten eines langweiligen Kicks aus. Es gipfelte in hämischen „Uwe, Uwe“-Rufen, doch Lokalmatador Uwe Seeler war seit zwei Jahren nicht mehr aktiv. Es war beinahe grotesk: Ohne Gegentor und Punktverlust hatte sich der WM-Favorit vor dem Bruder-Duell mit der DDR bereits für die neuartige Zwischenrunde, die erneut Gruppenspiele vorsah, qualifiziert. Nur die Herzen hatte der kommende Weltmeister noch nicht erobert. Das war anderen gelungen.

Der bessere Fußball wurde gewiss in den Gruppen 3 und 4 mit den Niederländern und Polen, beide erstmals seit 1938 wieder dabei, gespielt. „Oranje“ zelebrierte seinen vielbesungenen „Voetbal total“ und etablierte das 4-3-3-System auf der Weltbühne des Fußballs. Trainer Rinus Michels hatte um Johan Cruyff eine Mannschaft geformt, die perfekt harmonierte. Bis zum Finale spielte sie sechs Mal in unveränderter Aufstellung, nur ein Mal nahm Michels eine Änderung vor. Die Niederländer gewannen ihre Gruppe und boten sogar in ihrem einzigen torlosen Spiel gegen Schweden sehenswerten Fußball.

Gegen Uruguay (2:0) und Bulgarien (4:1), das auch bei seiner dritten WM-Teilnahme sieglos blieb, wurde ihr Offensivfußball belohnt. Hatten die Niederländer auch aufgrund der Erfolge von Ajax Amsterdam, das von 1971-73 den Europapokal der Meister gewann, viele auf dem Zettel, so war Polen die Sensation des Turniers. In einer vermeintlich schweren Gruppe mit Italien und Argentinien sowie Exot Haiti setzte sich der Olympiasieger von 1972 mit makelloser Bilanz durch. Als einziges Team gewann es alle Vorrundenspiele. Namen wie Lato, Szarmach, Gorgon, Tomaszewski oder Deyna sind bis heute in Polen populär, es war die wohl beste Mannschaft, die das Land je hatte. Gegen Argentinien (2:3) und Haiti (7:0) wurde die Zwischenrunde schon gebucht, dennoch legte sich das Team von Trainer Kazimierz Gorski zum Abschluss gegen Italien, das nach einem 1:1 gegen Argentinien bangen musste, weiter ins Zeug. Später wurde von polnischer Seite erzählt, die Italiener hätten sie auf dem Platz regelrecht angebettelt, noch den Ausgleich zuzulassen und dafür 2000 Dollar pro Kopf geboten. Doch der Ausgleich fiel nicht, Polen gewann mit 2:1 und Italien fuhr nach Hause.

Haiti schockt Dino Zoff

Die WM hatte ihre erste große Sensation, für eine kleine hatte in dieser Gruppe zuvor Haiti gesorgt. Der WM-Neuling brachte es nämlich fertig, Italiens Torwart Dino Zoff nach 1142 Minuten, die Weltrekord bedeuteten, zu überwinden. Emanuel Sanon hieß der Schütze jenes denkwürdigen Führungstreffers in der 46. Minute, dessen Bedeutung die 1:3-Niederlage von München nicht wirklich schmälern konnte.

Der Verband der Karibik-Kicker war jedenfalls mit dem Abschneiden trotz dreier Niederlagen zufrieden und spendierte vor der Rückreise noch einen Ausflug in den Tierpark Hellabrunn und in den Zirkus. In Gruppe zwei lief nur auf den ersten Blick alles nach Plan, neben Jugoslawien kam Brasilien weiter. Aber wie! Der Weltmeister, dem der große Pelé nicht mehr helfen konnte – er drückte als Co-Kommentator des Radios die Daumen – spielte zwei Mal 0:0 und kam nur gegen Zaire (3:0) zu Toren. Da Schottland gegen den ersten schwarzafrikanischen WM-Vertreter überhaupt noch knapper gewann (2:0), fuhren die Briten schließlich ungeschlagen wegen eines fehlenden Tores heim.

Ein Tor fehlte auch Jugoslawien zum ersten zweistelligen Sieg der WM: Zaire war in Gelsenkirchen beim 0:9 völlig chancenlos und wechselte schon nach 21 Minuten den frustrierten Torwart aus – da stand es 4:0. Auch durch fehlende Regelkenntnis blieben die Afrikaner in Erinnerung, ein Spieler handelte sich eine Verwarnung ein, weil er aus der Freistoßmauer rannte, als der Schiedsrichter den Ball freigab, und diesen vor dem Schützen wegkickte. Mit derartigen Kapriolen rechnete die bundesdeutsche Mannschaft am 22. Juni nicht, auch wenn ihr Gegner „von drüben“ gleichfalls ein WM-Neuling war. „Es geht um mehr als um Fußball“, sagte der neue Bundeskanzler Helmut Schmidt, erst seit Mai im Amt, bedeutungsschwanger. Sein Vorgänger Willy Brandt war gerade über einen Spitzel der DDR gestolpert (Guillaume-Affäre), was die Brisanz des Spieles nicht gerade minderte. Die DDR wurde von 1780 ausgewählten, der Republikflucht absolut unverdächtigen Fans begleitet. Durch ihre Hammer und Sichel-Flaggen und seltsam anmutende Sprechchöre wie „sieben, acht neun, zehn – klasse“ waren sie leicht identifizierbar im ausverkauften Volkspark-Stadion.

Die ganz große sportliche Brisanz war zwei Stunden vor Anpfiff aber gewichen, als sich herausstellte, dass beide Teams sicher in die Zwischenrunde kommen würden, da Chile gegen Australien nur 1:1 gespielt hatte. Dennoch war die Stimmung im Kader des Gastgebers gedämpft. Die Pfiffe gellten manchem noch in den Ohren und der Lagerkoller war auch schon ausgebrochen. „In Malente wird man wahnsinnig“, zitierte die Bild in großen Lettern Beckenbauer am 20. Juni, nachdem man „drei Wochen eingesperrt“ gewesen war. Aus Angst vor Terroranschlägen wie bei den Olympischen Spielen zwei Jahre zuvor durften die Spieler das Quartier nur selten und dann in Gruppen verlassen.

Vor den Toren patrouillierten Soldaten mit Maschinengewehren und GSG9-Beamte mit Schäferhunden. Selbst in den Gottesdienst fuhren sechs Katholiken in der Mannschaft unter Polizeischutz und Beckenbauer hatte sogar eine kleine Pistole im Doppelzimmer. Dort war Damenbesuch streng untersagt, am Tag des DDR-Spiels dozierte Schön: „Wenn einige Frauen und Bräute am Sonnabend nach Malente kommen, so habe ich nichts dagegen, wenn sie mit ihren Männern sprechen. Darüber hinaus gehende Kontakte sind jedoch nicht im Sinne der WM-Vorbereitung.“

Aber die Trainingsbelastung – zwei Einheiten täglich – war wiederum nicht im Sinne der Stars und so suchte Beckenbauer Schöns Zimmer auf, um die Sorgen der Mannschaft zu überbringen. „Nach drei Wochen Training fiel uns buchstäblich die Decke auf den Kopf, weil es an Abwechslung mangelte. 1966 und 1970 war das anders gewesen, da hatten wir Malente nach 14 Tagen verlassen und waren in ein anderes Land gefahren. Diesmal litten wir unter der Monotonie des Ortes, zumal uns die Sicherheitsbestimmungen kaum Bewegungsfreiheit ließen. Ich erklärte dem Bundestrainer, dass wir fast alle ziemlich nervös seien und einige sich übertrainiert fühlten. Er hat das sofort eingesehen und meinem Vorschlag entsprochen, das Programm in jeder Beziehung etwas aufzulockern.“ , schrieb Beckenbauer in seinem WM-Buch. Auf die Leistung hatte das zunächst keine Auswirkung. Zwar hatte Schön noch am Spieltag verkündet: „Es ist ein WM-Spiel, das wir gewinnen wollen. Die Spieler haben versprochen, zu kämpfen und mit Volldampf zu spielen.“, aber auch nach ihrem dritten Auftritt erntete der große Favorit Pfiffe und diesmal stimmte nicht mal das Ergebnis. Gerd Müller traf den Pfosten, Grabowski aus zwei Metern das Tor nicht.

Faires Bruderduell

Die ausgeglichene Partie verlief im Übrigen fairer, als es erwartet wurde. Überliefert sind Dialoge wie „Jetzt muss ich Dich leider mal festhalten“ (Beckenbauer zu Harald Irmscher) oder „Hab ich Dir weh getan? (Konrad Weise zu Gerd Müller nach jedem Foul). Der Dresdener Siegmar Wätzlich bat Overath während des Spiels, einen gemeinsamen Bekannten in Köln herzlich zu grüßen und nach dem Spiel wurden die Trikots getauscht – aber aus Angst vor kritischen Nachfragen der Partei im Schutze der Kabinen. Das blaue Trikot mit der Nummer 14 sollte von besonderem Wert sein. Denn ein gewisser Jürgen Sparwasser aus Magdeburg war der einzige Deutsche, der an diesem kühlen Hamburger Sommerabend ein Tor schoss. Eines, das ihn unsterblich macht. Das Tor, das am 22. Juni 1974 um 21.04 Uhr fiel, ist längst Legende. Sparwasser hat später gesagt. „Wenn ich mal sterbe, muss auf dem Grabstein nur ‚Hamburg 1974’ stehen und jeder weiß, wer drunter liegt.“ 1998 erschien sogar ein Buch mit dem Titel „Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?“. Seine Popularität erschien den Verantwortlichen des Teams von Georg Buschner schon mit Abpfiff so groß, dass sie ihm einen spontanen Reeperbahn-Bummel mit den Kameraden verboten. „Ich durfte nicht mit. Man hatte Angst, dass ich auf der Straße erkannt werde“, erzählte Sparwasser.

Doch die mussten eher die Spieler der westdeutschen Mannschaft haben, über die sich der Zorn der Öffentlichkeit ergoss. „So nicht, Herr Schön!“, titelte die Bild am Sonntag und der Kicker forderte: „Es muss etwas geschehen. Grabowski ist nicht mehr tragbar und Flohe kein echter Linksaußen. Hölzenbein und Herzog sollen Außen spielen“. Das ging Franz Beckenbauer noch nicht weit genug. Schon im Bus faltete der Kapitän die Mitspieler zusammen. „Vor allem dem Uli Hoeneß habe ich gesagt, dass ihm im nächsten Spiel gegen Jugoslawien der Aufenthalt auf der Ersatzbank gut tun würde.“ Er sagte noch viel mehr in der zweiten langen Nacht von Malente, das man jetzt als Gruppenzweiter verlassen konnte. Während der gebürtige Dresdener Helmut Schön nach kurzer Standpauke mit Magenschmerzen ins Bett ging, redeten die Führungsspieler in der Küche Tacheles. „An Schlaf dachte niemand und ich putzte jeden runter, der mir vor die Augen kam. Ich tat eben das, was der Bundestrainer wohl auch gemacht hätte, wozu er aber viel zu vornehm gewesen ist“, erzählte der plötzlich so wilde Kaiser. In diesen Stunden, erzählt man sich, wurde in der Küche von Malente der Weltmeister 1974 gebacken.

Gegen Jugoslawien stand in Düsseldorf jedenfalls eine völlig andere Mannschaft auf dem Platz – auf vier Positionen umformiert und in den Köpfen komplett umprogrammiert. Die Opfer der Abrechnung von Malente waren Uli Hoeneß, Jürgen Grabowski, Bernd Cullmann und Heinz Flohe, die auf Bank oder Tribüne versetzt wurden. Und von Günter Netzer sprach nach seinem missglückten Kurzeinsatz niemand mehr.

Die Profiteure hießen Bernd Hölzenbein, Dieter Herzog, Rainer Bonhof und Herbert Wimmer, von denen man mehr Kampfgeist erwartete. Diesmal schien sogar die Sonne und als Paul Breitner wie gegen Chile wieder aus der zweiten Reihe traf, lief es endlich. Gerd Müller sorgte nach Vorarbeit des immerhin noch eingewechselten Hoeneß für die Entscheidung und schon schlug das Stimmungs-Barometer wieder in die andere Richtung aus: „2:0! So schaffen wir das Endspiel!“, titelte der Kicker und lobte „Es hat sich ausgezahlt, dass nun hungrige Spieler in unserem Team standen.“

Besonders Benjamin Bonhof, mit 22, auch Rechtsaußen Hölzenbein durfte wiederkommen. Über Herzog gingen die Meinungen auseinander und Wimmer verletzte sich wieder. Sein Pech war das Glück von Uli Hoeneß, dessen Verbannung wieder aufgehoben wurde. Im nächsten Spiel der Gruppe B, die nach Ansicht aller Experten leichter war als Gruppe A mit Argentinien, Brasilien und Niederlande, traf Deutschland auf die Schweden, für die es nach dem 0:1 gegen Polen schon um alles ging. Im Dauerregen von Düsseldorf sahen 67.000 am 30. Juni bei kühlen 16 Grad einen heißen Kampf, der einen deutlichen Beleg für die neue Moral des Favoriten lieferte. Nach dem Pausenrückstand drehten die Deutschen das Spiel und gingen durch Overath und Bonhof binnen zwei Minuten in Führung, um postwendend den Ausgleich zu kassieren. Drei Tore in drei Minuten – es war nichts für schwache Nerven.

Grabowskis Stunde schlägt

Dann schlug wieder die Stunde von Jürgen Grabowski, der sich schon in Mexiko einen Ruf als idealer Joker gemacht hatte. 1970 war er Vorbereiter, 1974 aber traf er selbst. Zwölf Minuten nach seiner Einwechslung überwand der Frankfurter Torwart Ronny Hellström, der nach der WM nach Kaiserslautern wechselte. Das bis dahin dramatischste Spiel der WM entschied mit Uli Hoeneß, der einen Elfmeter verwandelte, ein zweites Opfer von Beckenbauers Wutrede. Grabowski und Hoeneß hatten ihre Chance zur Wiedergutmachung genutzt und so fand sich in der Schlussphase des fünften Spieles endlich die Elf, die Weltmeister werden sollte. „Ein Spiel, das uns von den Sitzen riss“, wertete der Kicker die Wasserschlacht von Düsseldorf, der eine noch berühmtere folgen sollte. Im letzten Gruppenspiel warteten die Polen und obwohl es der Modus nicht zwingend vorsah, war es quasi ein Halbfinale, denn der Sieger würde am 7. Juli in München spielen. Doch es musste nicht unbedingt einen geben, das bessere Torverhältnis erlaubte den Deutschen ein Remis, da Polen gegen Jugoslawien in Frankfurt nur mit 2:1 gewonnen hatte. Grzegorz Lato, mit sieben Treffern Torschützenkönig dieser WM, erzielte wie gegen Schweden das Siegtor und war bei diesem Turnier das, was Gerd Müller für die Deutschen war – der Mann der entscheidenden Tore.

Am 3. Juli machte Müller den Unterschied in einem Spiel, das wohl nie wieder unter vergleichbaren Umständen stattfinden würde. Der Himmel öffnete am Nachmittag knapp neunzig Minuten vor Anpfiff seine Schleusen wie nie zuvor bei dieser Regen-WM, 14 Liter pro Quadratmeter gingen nieder und „die Regentropfen sprangen einen halben Meter vom Boden hoch“, erinnerte sich der Schiedsrichter Erich Linemayr aus Linz. 40 Minuten dauerte der Spuk und hinterließ auf dem Rasen des Waldstadions eine Seenlandschaft. Ein FIFA-Funktionär klopfte besorgt an Linemayrs Kabinentür und fragte, ob er sich „das da draußen mal ansehen“ könne. Was er sah, brachte Linemayr in die Bredouille. 60.000 Zuschauer waren trotz allem gekommen, Millionen saßen an den Bildschirmen und der Terminplan sah eigentlich keinen Spielraum vor. Eine Absage hätte dazu geführt, dass das Finale am Montag ausgetragen worden wäre – und wer wollte das schon?

Linemayr beriet sich mit seinen Assistenten und beschloss, es zu wagen. Mit 40 Minuten Verzögerung pfiff er an. In der Zwischenzeit hatten Ordner und Feuerwehrleute einen rührenden Kampf gegen die Fluten gekämpft und mit Walzen und Schläuchen so viel Wasser wie möglich vom Platz gedrängt. Im ARD-Studio wurden zur Überbrückung derweil Zuschauerfragen eingespielt und ein Herr wollte von Braunschweigs Trainer Walter Johannsen als Experten wissen, ob eigentlich barfuß gespielt werden dürfe.

Am besten wäre wohl gar nicht gespielt worden, zu oft blieben eigentlich gut getimte Pässe in Lachen liegen und mancher Dribbler verlor den Ball unterwegs nicht an einen Gegenspieler, sondern in einer Pfütze. Die Wasserschlacht von Frankfurt wurde dessen ungeachtet ein legendäres Fußballspiel, in dem der deutsche Torwart Sepp Maier über sich hinaus wuchs und den Sieg festhielt, den wieder mal ein Müller-Tor (75.) möglich machte. Uli Hoeneß verschoss zuvor noch einen Elfmeter, aber es war egal – zum dritten Mal hatte Deutschland ein WM-Finale erreicht. DFB-Vize Hermann Neuberger war nicht nur darüber froh, sondern auch über das Einhalten des Terminplans: „Organisatorisch wäre es für uns eine Katastrophe gewesen!“, Kritik mussten sich die Organisatoren dennoch gefallen lassen. „Der Frankfurter Rasen ist eine Weltmeisterschaftsblamage!“, mäkelte der Kicker.

Am Abend zogen bei weit angenehmeren Bedingungen auch die Niederländer in das Finale ein und das im Stile eines Weltmeisters. In Dortmund gewannen sie auch ihr drittes Zwischenrundenspiel und zerstörten die Hoffnungen von Titelverteidiger Brasilien. Wie zuvor Deutschland – Polen war auch diese Partie ein verkapptes Halbfinale, nur diese beiden Teams hatten nach jeweils zwei Siegen eine Finalchance. Die DDR hatte sich mit Anstand verabschiedet, nur ein Freistoß von Rivelino überwand Croy gegen Brasilien und gegen die Holländer hieß es 0:2. Zum Abschluss sprang gegen Argentinien ein 1:1 heraus.

„Wir sind der erste echte Gegner der Niederländer“, tönte Rivelino, „wir zittern nicht, wenn wir den Namen Cruyff hören.“ Ein Mitel fanden sie gegen den Schlachtenlenker der Niederlande dennoch nicht, der nach dem1:0 von Johan Neeskens das 2:0 selbst markierte. Sehr zur Freude der 30.000 Landsleute unter den 54.000 im Westfalen-Stadion. Brasilien erwies sich als schlechter Verlierer, Pereira verdiente sich seinen Platzverweis nach Foul an Neeskens redlich. „Jeder muss dankbar sein, dass die niederländische Mannschaft das Finale erreicht hat. Denn Brasilien, das dem Gesicht des Fußballs in der Vergangenheit oft ein Lächeln aufgesetzt hat, trug 1974 nur noch eine verbissene Grimasse zur Schau“, fand die Daily Mail aus England.

Schmach für Brasilien

In Brasilien trugen enttäuschte Fans symbolisch Särge durch die Straßen, um den Verlust des Weltmeister-Titels zu betrauern und der Staatspräsident sagte den geplanten Empfang der Selecao ab. Platz drei oder vier – darum ging es nun noch – verdiente keinen Beifall im Land des Rekord-Weltmeisters. Entsprechend ist die Leistung am 6. Juli im Münchener Olympia-Stadion, wo die Polen natürlich wieder durch ein Lato-Tor den größten Erfolg ihrer Geschichte erringen.

Das allgemeine Interesse galt natürlich dem großen Finale am Folgetag. Auch die Deutschen waren nun in München eingetroffen und Franz Beckenbauer lud spontan zu einer Gartenparty auf seinem Anwesen in Grünwald. Zu diesem Zeitpunkt weiß die Öffentlichkeit noch nicht, was Helmut Schön am Tag nach dem Polen-Spiel erfuhr. Jürgen Grabowski, Wolfgang Overath und Gerd Müller erklärten ihren Rücktritt sobald das Finale abgepfiffen sei. Overath war 30, Grabowski wurde es am Tag des Endspiels – damit war man in jenen Zeiten durchaus ein alter Spieler. Aber Müller, gerade 28? Warum? Und war es richtig? Es beschäftigte ihn selbst in den Morgenstunden des 7. Juli in der Sportschule Grünwald. Gerd Müller war schon lange wach an diesem Sonntag, weit vor Sonnenaufgang. Mit Bewunderung blickte er auf das Bett nebenan. Dort lag Franz Beckenbauer, sein Kapitän, und schlief den Schlaf des Genialen. Müller selbst waren nur dreieinhalb Stunden vergönnt gewesen, er hatte keine Ruhe mehr. Natürlich kreisten seine Gedanken um das Finale der Weltmeisterschaft gegen die Holländer, das um 16 Uhr angepfiffen wird. Aber nicht ausschließlich. Nur wenige wussten, dass er Helmut Schön seinen Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft erklärt hat.

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Er ahnte, dass die Presse Erklärungen haben wollte und dass ihm das nicht behagen würde. Sein Entschluss aber stand fest. Zu selten hatte Gerd Müller seine Familie zu Gesicht bekommen. Tochter Nicole, damals drei, sollte mehr vom Papa haben. So hat er es später erzählt und doch hält sich hartnäckig die falsche Version, er habe aus Ärger über das Bankett, von dem die Frauen ausgeschlossen waren, getan.

An diesem Sonntag ohne Sonne bekam Müller jedenfalls den denkbar besten Abschied. Sein Tor machte Deutschland zum Weltmeister. Die Holländer waren aufgrund ihrer überzeugenden Leistungen leichter Favorit und strotzten vor Selbstbewusstsein. Alte Rechnungen aus dem Krieg sollten an diesem Tag beglichen werden, was ebenso unangebracht wie unmöglich war. „Wir holen uns die Fahrräder zurück“, hieß das Motto von Oranje und Rinus Michels erinnerte in der Teamsitzung auch an den Krieg, der nun schon 30 Jahre zurücklag. Es war kein normales Spiel, gewiss nicht.

Helmut Schön bereitete seine Elf darauf vor und befahl: „Junge, wenn ihr ihnen gegenübersteht, dann schaut euren Gegenspielern in die Augen, ganz tief. Demonstriert Selbstvertrauen und Stärke.“ Bernd Hölzenbein, nach Grabowskis Rückkehr mittlerweile auf Linksaußen rochiert, hielt sich daran und will Wim Suurbier „ganz, ganz böse und tief“ in die Augen geschaut haben. Als es mit zweiminütiger Verzögerung, man hatte die Eckfahnen vergessen, endlich losging, war nichts von eingeschüchterten Niederländern zu merken. Sie ließen den Ball mit 13 Kontakten zirkulieren und schossen das erste Tor, noch ehe ihn ein Deutscher berührte. Uli Hoeneß, in der Nacht noch von heftigem Fieber befallen, wovon er Schön nichts verriet, bremste Cruyff erst im Strafraum regelwidrig. Sein eigentlicher Bewacher war Berti Vogts, der im Training vor dem Finale gegen Günter Netzer ran musste, der Cruyff doubeln sollte.

Doch was auf dem Platz passiert, lässt sich nie voraussehen. Den fälligen Elfmeter verwandelte Johan Neeskens mit einem überaus optimistischen Schuss in die Tormitte. Nach 63 Sekunden führten die Niederländer, es war das schnellste Tor eines WM-Finales und der erste durch Elfmeter. „Dann haben die Holländer versucht, uns vorzuführen, haben Jojo gespielt. Und nicht damit gerechnet, dass etwas schiefgehen kann“, behauptete Hölzenbein, der persönlich dafür sorgte, dass etwas schief ging für Holland. In der 23. Minute drang er in den Strafraum ein und kam nach einer Attacke von Wim Jansen zu Fall. Foul oder nicht? Diese Frage ist bis heute noch schwerer zu klären als die nach dem Wembley-Tor und doch genauso wichtig.

Bernd Hölzenbein muss mit dem Vorwurf, eine Schwalbe produziert zu haben, leben und beteuert bis heute: „Ganz klar, es war einer. Zeigt diese Szene im Urwald oder Schiedsrichtern, die sie nie gesehen haben. Ich sage: alle pfeifen Elfmeter, es geht gar nicht anders.“ Wer ihn in seinem Büro bei Eintracht Frankfurt besucht, bekommt die Szene auf Wunsch vorgespielt, er hat die Aufzeichnung immer parat.

ARD-Reporter Rudi Michel hielt sich übrigens vornehm zurück und sagte auch nach der Zeitlupe rein gar nichts. Vielleicht raubte ihm die Anspannung die Worte. So wie sie den etablierten Schützen den Mut nahm. Weder Hoeneß noch Müller rissen sich um den Ball und als sich auch Overath abdrehte, schnappte ihn sich Paul Breitner mit seinen 22 Jahren. Eiskalt schob er ihn links unten ins Tor zum Ausgleich und erst als er am nächsten Tag die Wiederholung sah, wurde er noch nachträglich nervös. Da hatte er erst realisiert, welche Verantwortung er auf sich geladen hatte. So werden Helden geboren.

Der "Bomber" macht den Unterschied

Nun kippte das minütlich an Niveau gewinnende Spiel zu Gunsten der Deutschen und um 16.43 Uhr wurde Geschichte geschrieben. Rainer Bonhof war mit Grabowskis Pass auf rechts davon gezogen und flankte flach und scharf nach innen auf Gerd Müller. Zwei Mann waren bei ihm, aber weil dem der Ball mit links versprang und somit wieder ein mal das Unvorhersehbare passiert war, auf das nur er eingestellt zu sein schien, kamen sie alle zu spät, als er schon mit rechts zum Nachschuss ansetzte.

Flach und unspektakulär zischte der Ball ins Eck, Torwart Jan Jongbloed, einer der Letzten, der noch mit bloßen Händen spielte, warf sich gar nicht erst. Es war ja doch nichts zu machen, 2:1. Es sollte das Tor zur Weltmeisterschaft werden. Aber das wussten sie noch nicht, es standen 45 dramatische Minuten bevor.

Auf dem Weg in die Kabinen handelte sich Cruyff eine Verwarnung ein, weil er Schiedsrichter kritisiert hatte. Cruyffs Nerven lagen in den Tagen vor dem Finale blank, hatte er doch angeblich ernstliche Ehe-Probleme bekommen, als die Bild-Zeitung von einer wilden Pool-Party mit nackten Mädchen im Quartier der Elftal berichtete. „Einige holländische Spieler, ein paar einheimische Mädchen im Pool – eigentlich harmlos. Weil nicht herauskam, welche unserer Jungs dabei waren, hatten plötzlich alle Probleme mit ihren Frauen“, gestand Arie Haan später. Cruyff jedenfalls wanderte rauchend nachts durchs Zimmer und raubte Johan Neeskens den Schlaf. Vielleicht lastete zudem der Druck auf ihm, nun zu beweisen, dass er der Beste sei. Das Finale war auch das Duell zwischen Franz Beckenbauer und Johan Cruyff, der tatsächlich zum besten Spieler des Turniers gewählt wurde. Doch was brachte es? Was zählte es gegenüber der Auszeichnung, die Beckenbauer stellvertretend für ein ganzes Land in Empfang nehmen durfte, als Taylor die nach der Pause torlos verbliebene Partie abpfiff? Wieder hatte die Mannschaft verloren, die im Finale in Führung gegangen war – schon zum siebten Mal trat dieser kuriose Fall ein. 20 Jahre nach dem Wunder von Bern hieß der Weltmeister wieder Deutschland und nicht jeder analysierte den Triumph von München so tiefgreifend wie Tribünengast Henry Kissinger, Amerikas deutschstämmiger Außenminister: „Deutschland spielte nach dem Schlieffen-Plan, nach einem komplizierten System mit verzwickt angelegten Spielzügen, nahezu unwiderstehlich, wenn alles wie geplant klappte.“

Einfacher war da doch die Erklärung eines Fußball-Fans aus Recklinghausen, der noch am Finaltag ein Telegramm nach Magdeburg schickte – an Jürgen Sparwasser. „Spari, wir danken Dir. Du hast uns zum Weltmeister gemacht!“. So kann man es auch sehen. Die französische Sportzeitung L’Equipe schwelgte: „Das Endspiel fand in einem wunderbaren Stadion vor einer begeisterten Menge statt und wurde zu einem der reichsten und aufregendsten der Geschichte des Sports – zu einem Abenteuer, das man nicht vergisst.“ Das gilt für die ganze WM.

Das meinen DFB.de-User:

Lieber Autor, schöner Bericht über die WM 1974. Ich möchte nur kurz auf das Endspiel zu sprechen kommen. Daran erinnere ich mich noch gut, obwohl ich '74 erst 11 Jahre alt war. 16.43 Uhr, dem Gerd Müller ist der Ball keineswegs versprungen bei der Annahme. Wenn Sie genau hinsehen, ist zu bemerken, dass er sich kurz vorher umdrehte und genau wusste wo die vier niederländischen Abwehrspieler inkl. Torwart standen. Den Ball hat er sich selbst in den freien Raum vorgelegt! Und dann kam etwas was nur einer konnte: Sprung nach dem Ball, Drehung und Torschuss, alles aus einem Guss. Seltsam, das ist so nie gesehen und berichtet worden. Mit freundlichen Grüßen (Ekkehard Gnadler, Stralsund)