WM 1974: Der Triumph von München

Am Mittwoch (ab 20.30 Uhr, live in der ARD) steht für die deutsche Nationalmannschaft der Klassiker gegen die Niederlande auf dem Programm. Es ist bereits das 40. Aufeinandertreffen beider Nationen - DFB.de schaut bis dahin täglich auf besonders interessante Momente einer bewegten Länderspielhistorie zurück. Heute: der Finaltriumph bei der Heim-WM 1974.

64 Jahre währte die deutsch-holländische Länderspielhistorie bereits, ehe es erstmals in einem Spiel um mehr als das Prestige ging. Das erste Pflichtspiel überhaupt war gleich ein WM-Finale. Es fand am 7. Juli 1974 im Münchner Olympiastadion vor offiziell 77.833 Zuschauern statt. Der Gastgeber traf auf die bis dahin beste Turniermannschaft, die "Elftal" war auf Grund ihres mitreißenden Fußballs leichter Favorit. Spätestens nach dem 2:0 über Weltmeister Brasilien, der den Sieg in der "Todesgruppe" mit Argentinien und Außenseiter DDR bedeutete.

Aber auch die Deutschen hatten in der Zwischenrunde zu ihrer Form und Formation gefunden, um Weltmeister werden zu können. Es lag eine ungeheure Spannung in der Luft in jenen Juli-Tagen von 1974. Auf unterschiedliche Weise versuchten die Kontrahenten, sich etwas aufzulockern. Die Holländer ließen im Waldhotel Krautkrämer in Hiltrop im Swimming-Pool die Puppen tanzen und hatten das Pech, dass sich ein deutscher Reporter in die Partygesellschaft geschmuggelt hatte. So machte die Bild-Zeitung einen Skandal daraus ("Cruyff, Sekt, nackte Mädchen und ein kühles Bad").

Müller und die Nacht vor dem WM-Triumph und Rücktritt

"Einige holländische Spieler, ein paar einheimische Mädchen im Pool - eigentlich harmlos. Weil nicht herauskam, welche unserer Jungs dabei waren, hatten plötzlich alle Probleme mit ihren Frauen", gestand Nationalspieler Arie Haan später. Johan Cruyff jedenfalls tigerte nachts rauchend durchs Zimmer und raubte Johan Neeskens den Schlaf. Der Konzentration auf das Wesentliche war das sicher nicht förderlich, und noch Jahre später schoben einige Spieler die Schuld an der Niederlage der deutschen Presse zu.

Im deutschen Lager ging es gesitteter zu: Kapitän Franz Beckenbauer lud den ganzen Kader nach der Ankunft in München spontan zu einer kleinen Gartenparty auf sein Anwesen ein. Die Nacht vor dem Finale verbrachten sie in der Sportschule Grünwald. Mittelstürmer Gerd Müller war schon lange wach an diesem Sonntag, weit vor Sonnenaufgang. Mit Bewunderung blickte er auf das Bett nebenan. Dort lag Franz Beckenbauer, sein Kapitän, und schlief den Schlaf des Genialen. Am Abend hatten sie alle noch ein Bier getrunken, Bundestrainer Helmut Schön hielt es für ein probates Schlafmittel.

Aber Müller selbst waren nur dreieinhalb Stunden vergönnt gewesen, er hatte keine Ruhe mehr. Natürlich kreisten seine Gedanken um das Finale, das um 16 Uhr angepfiffen werden sollte. Aber nicht ausschließlich. Niemand wusste ja, dass er Helmut Schön seinen Rücktritt erklärt hatte. Müller ahnte, dass die Presse Erklärungen haben wollte und dass ihm das nicht behagen würde. Sein Entschluss aber stand fest. Zu selten hatte er seine Familie zu Gesicht bekommen. Tochter Nicole, damals drei, sollte mehr vom Papa haben. So hat er es später erzählt – und doch hält sich hartnäckig die falsche Version, er habe aus Ärger über das Bankett, von dem die Spielerfrauen wie damals üblich ausgeschlossen waren, getan.

"Schaut euren Gegenspielern in die Augen, ganz tief!"

An diesem Sonntag ohne Sonne bekam Müller jedenfalls den denkbar besten Abschied. Sein Tor machte Deutschland zum Weltmeister. Mit ihm bestritten auch der Kölner Wolfgang Overath und der Frankfurter Jürgen Grabowski, der am Spieltag 30 Jahre jung wurde, ihr letztes Länderspiel. Sie traten am Höhepunkt ab, was nicht allen Großen vergönnt (gewesen) ist.

Die Holländer strotzten vor Selbstbewusstsein. Alte Rechnungen aus dem Krieg sollten an diesem Tag beglichen werden, was ebenso unangebracht wie unmöglich war. "Wir holen uns die Fahrräder zurück", hieß das Motto von Oranje, und Trainer Rinus Michels erinnerte in der Teamsitzung auch an den Krieg, der schon 30 Jahre zurücklag.

Es war kein normales Duell, gewiss nicht. Für die elf Deutschen war es das Spiel ihres Lebens. Trotzdem fragte Helmut Schön im Bus sicherheitshalber: "Habt ihr alle eure Schuhe mit?" Dann gab er Ratschläge in punkto psychologischer Kriegsführung: "Jungs, wenn ihr ihnen gegenübersteht, dann schaut euren Gegenspielern in die Augen, ganz tief! Demonstriert Selbstvertrauen und Stärke!" Der Frankfurter Bernd Hölzenbein hielt sich daran und will Wim Suurbier "ganz, ganz böse und tief" in die Augen geschaut haben.

Niederlande mit Blitzstart

Als es mit zweiminütiger Verzögerung - man hatte die Eckfahnen vergessen - endlich losging, war aber nichts von eingeschüchterten Niederländern zu bemerken. Sie ließen den Ball mit 13 Kontakten zirkulieren und schossen das erste Tor, noch ehe ihn ein Deutscher berührte. Uli Hoeneß, in der Nacht noch von heftigem Fieber befallen, wovon er Schön nichts verraten hatte, bremste Cruyff erst im Strafraum regelwidrig. Den fälligen Elfmeter verwandelte Johan Neeskens mit einem überaus optimistischen Schuss in die Tormitte. Maier aber warf sich aus der Schussbahn. Nach 63 Sekunden führten die Niederländer, es war das schnellste Tor eines WM-Finales und das erste durch Elfmeter.

"Der Elfmeter kam viel zu früh für uns", sagte der Torschütze später. "Wir haben dann unsere Taktik geändert, und das war falsch." Dazu eine deutsche Meinung: "Dann haben die Holländer versucht, uns vorzuführen, haben Jojo gespielt. Und nicht damit gerechnet, dass etwas schiefgehen kann", behauptete Hölzenbein, der persönlich dafür sorgte, dass etwas schiefging für Holland.

Breitner gleicht aus, Müller dreht das Spiel

In der 23. Minute drang er in den Strafraum ein und kam nach einer Attacke von Wim Jansen zu Fall. Foul oder nicht? Diese Frage ist bis heute noch schwerer zu klären als die nach dem Wembley-Tor und doch genauso wichtig. Bernd Hölzenbein muss noch immer mit dem Vorwurf, eine Schwalbe produziert zu haben, leben und beteuert bis heute: "Ganz klar, es war ein Elfmeter. Zeigt diese Szene im Urwald oder Schiedsrichtern, die sie nie gesehen haben. Ich sage: Alle pfeifen Elfmeter, es geht gar nicht anders."

ARD-Reporter Rudi Michel hielt sich vornehm zurück und sagte auch nach der Zeitlupe gar nichts. Von den etablierten Schützen rissen sich weder Hoeneß noch Müller um den Ball, und als sich auch Overath abdrehte, schnappte ihn sich Paul Breitner mit seinen 22 Jahren. Eiskalt schob er ihn links unten ins Tor zum Ausgleich, und erst als er am nächsten Tag im Hotel die Wiederholung sah, wurde er noch nachträglich nervös. Da hatte er erst realisiert, welche Verantwortung er auf sich geladen hatte. So werden Helden geboren.

Nun kippte das minütlich an Niveau gewinnende Spiel zu Gunsten der Deutschen, und um 16.43 Uhr wurde Geschichte geschrieben. Rainer Bonhof war nach Grabowskis Pass auf rechts davon gezogen und flankte flach und scharf nach innen auf Gerd Müller. Zwei Mann waren bei ihm, aber weil ihm der Ball mit links versprungen und somit wieder mal das Unvorhersehbare passiert war, auf das nur er eingestellt zu sein schien, kamen sie alle zu spät, als er schon mit rechts zum Nachschuss ansetzte.

Flach und unspektakulär zischte der Ball ins Eck, Torwart Jan Jongbloed, einer der Letzten, der noch mit bloßen Händen spielte, warf sich gar nicht erst. Es war ja doch nichts zu machen, 2:1. Es sollte das Tor zur Weltmeisterschaft werden. Aber das wussten sie noch nicht, es standen noch 45 dramatische Minuten bevor.

Maier hält den Sieg fest

Auf dem Weg in die Kabinen handelte sich Cruyff eine Verwarnung ein, weil er Schiedsrichter Taylor kritisiert hatte. Das Finale war auch das Duell zwischen Franz Beckenbauer und Johan Cruyff, der tatsächlich zum besten Spieler des Turniers gewählt wurde. Doch was zählte es gegenüber der Auszeichnung, die Beckenbauer stellvertretend für ein ganzes Land in Empfang nehmen durfte, als Taylor die nach der Pause torlos verbliebene Partie abpfiff? Torlos deshalb, weil Sepp Maier das wohl zweitbeste Spiel seines Lebens machte (Experten fanden ihn beim 1:0 im entscheidenden Spiel um den Finaleinzug gegen Polen sogar noch besser) und ein Müller-Tor zu Unrecht wegen Abseits aberkannt worden war.

So mussten sie bis zur letzten Sekunde zittern. Dann war Deutschland Weltmeister, und Holland hatte sein Trauma. Ihre tausendfach geäußerte Empfindung: Die beste Mannschaft des Turniers hatte das wichtigste Spiel verloren und sich um den verdienten Lohn gebracht. Der Autor Auke Kok hat das Trauma in einem Buch verarbeitet mit dem Titel "Wir waren die Besten", das 2004 zum besten Sportbuch im Lande gekürt wurde. Sicherer als seine These ist dieser Fakt: Wieder hatte die Mannschaft verloren, die im Finale in Führung gegangen war - schon zum siebten Mal trat dieser kuriose Fall ein.

20 Jahre nach dem Wunder von Bern hieß der Weltmeister wieder Deutschland. Die italienische Zeitung Corriere dello Sport schwelgte: "Es war das beste Finale aller Zeiten." Auch darüber lässt sich streiten, in jedem Fall war es unvergesslich dramatisch. Aus heutiger Sicht darf festgestellt werden: Der Tag von München hat die deutsch-holländische Fußballrivalität, die bis dahin eine rein politische war, auf die Bühne des Sports gehievt - wo sie auch viel besser aufgehoben ist.

Die deutsche Aufstellung

Maier - Vogts, Breitner - Schwarzenbeck, Beckenbauer, Bonhof - Uli Hoeneß, Overath, Grabowski, Gerd Müller, Hölzenbein

[um]

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Am Mittwoch (ab 20.30 Uhr, live in der ARD) steht für die deutsche Nationalmannschaft der Klassiker gegen die Niederlande auf dem Programm. Es ist bereits das 40. Aufeinandertreffen beider Nationen - DFB.de schaut bis dahin täglich auf besonders interessante Momente einer bewegten Länderspielhistorie zurück. Heute: der Finaltriumph bei der Heim-WM 1974.

64 Jahre währte die deutsch-holländische Länderspielhistorie bereits, ehe es erstmals in einem Spiel um mehr als das Prestige ging. Das erste Pflichtspiel überhaupt war gleich ein WM-Finale. Es fand am 7. Juli 1974 im Münchner Olympiastadion vor offiziell 77.833 Zuschauern statt. Der Gastgeber traf auf die bis dahin beste Turniermannschaft, die "Elftal" war auf Grund ihres mitreißenden Fußballs leichter Favorit. Spätestens nach dem 2:0 über Weltmeister Brasilien, der den Sieg in der "Todesgruppe" mit Argentinien und Außenseiter DDR bedeutete.

Aber auch die Deutschen hatten in der Zwischenrunde zu ihrer Form und Formation gefunden, um Weltmeister werden zu können. Es lag eine ungeheure Spannung in der Luft in jenen Juli-Tagen von 1974. Auf unterschiedliche Weise versuchten die Kontrahenten, sich etwas aufzulockern. Die Holländer ließen im Waldhotel Krautkrämer in Hiltrop im Swimming-Pool die Puppen tanzen und hatten das Pech, dass sich ein deutscher Reporter in die Partygesellschaft geschmuggelt hatte. So machte die Bild-Zeitung einen Skandal daraus ("Cruyff, Sekt, nackte Mädchen und ein kühles Bad").

Müller und die Nacht vor dem WM-Triumph und Rücktritt

"Einige holländische Spieler, ein paar einheimische Mädchen im Pool - eigentlich harmlos. Weil nicht herauskam, welche unserer Jungs dabei waren, hatten plötzlich alle Probleme mit ihren Frauen", gestand Nationalspieler Arie Haan später. Johan Cruyff jedenfalls tigerte nachts rauchend durchs Zimmer und raubte Johan Neeskens den Schlaf. Der Konzentration auf das Wesentliche war das sicher nicht förderlich, und noch Jahre später schoben einige Spieler die Schuld an der Niederlage der deutschen Presse zu.

Im deutschen Lager ging es gesitteter zu: Kapitän Franz Beckenbauer lud den ganzen Kader nach der Ankunft in München spontan zu einer kleinen Gartenparty auf sein Anwesen ein. Die Nacht vor dem Finale verbrachten sie in der Sportschule Grünwald. Mittelstürmer Gerd Müller war schon lange wach an diesem Sonntag, weit vor Sonnenaufgang. Mit Bewunderung blickte er auf das Bett nebenan. Dort lag Franz Beckenbauer, sein Kapitän, und schlief den Schlaf des Genialen. Am Abend hatten sie alle noch ein Bier getrunken, Bundestrainer Helmut Schön hielt es für ein probates Schlafmittel.

Aber Müller selbst waren nur dreieinhalb Stunden vergönnt gewesen, er hatte keine Ruhe mehr. Natürlich kreisten seine Gedanken um das Finale, das um 16 Uhr angepfiffen werden sollte. Aber nicht ausschließlich. Niemand wusste ja, dass er Helmut Schön seinen Rücktritt erklärt hatte. Müller ahnte, dass die Presse Erklärungen haben wollte und dass ihm das nicht behagen würde. Sein Entschluss aber stand fest. Zu selten hatte er seine Familie zu Gesicht bekommen. Tochter Nicole, damals drei, sollte mehr vom Papa haben. So hat er es später erzählt – und doch hält sich hartnäckig die falsche Version, er habe aus Ärger über das Bankett, von dem die Spielerfrauen wie damals üblich ausgeschlossen waren, getan.

"Schaut euren Gegenspielern in die Augen, ganz tief!"

An diesem Sonntag ohne Sonne bekam Müller jedenfalls den denkbar besten Abschied. Sein Tor machte Deutschland zum Weltmeister. Mit ihm bestritten auch der Kölner Wolfgang Overath und der Frankfurter Jürgen Grabowski, der am Spieltag 30 Jahre jung wurde, ihr letztes Länderspiel. Sie traten am Höhepunkt ab, was nicht allen Großen vergönnt (gewesen) ist.

Die Holländer strotzten vor Selbstbewusstsein. Alte Rechnungen aus dem Krieg sollten an diesem Tag beglichen werden, was ebenso unangebracht wie unmöglich war. "Wir holen uns die Fahrräder zurück", hieß das Motto von Oranje, und Trainer Rinus Michels erinnerte in der Teamsitzung auch an den Krieg, der schon 30 Jahre zurücklag.

Es war kein normales Duell, gewiss nicht. Für die elf Deutschen war es das Spiel ihres Lebens. Trotzdem fragte Helmut Schön im Bus sicherheitshalber: "Habt ihr alle eure Schuhe mit?" Dann gab er Ratschläge in punkto psychologischer Kriegsführung: "Jungs, wenn ihr ihnen gegenübersteht, dann schaut euren Gegenspielern in die Augen, ganz tief! Demonstriert Selbstvertrauen und Stärke!" Der Frankfurter Bernd Hölzenbein hielt sich daran und will Wim Suurbier "ganz, ganz böse und tief" in die Augen geschaut haben.

Niederlande mit Blitzstart

Als es mit zweiminütiger Verzögerung - man hatte die Eckfahnen vergessen - endlich losging, war aber nichts von eingeschüchterten Niederländern zu bemerken. Sie ließen den Ball mit 13 Kontakten zirkulieren und schossen das erste Tor, noch ehe ihn ein Deutscher berührte. Uli Hoeneß, in der Nacht noch von heftigem Fieber befallen, wovon er Schön nichts verraten hatte, bremste Cruyff erst im Strafraum regelwidrig. Den fälligen Elfmeter verwandelte Johan Neeskens mit einem überaus optimistischen Schuss in die Tormitte. Maier aber warf sich aus der Schussbahn. Nach 63 Sekunden führten die Niederländer, es war das schnellste Tor eines WM-Finales und das erste durch Elfmeter.

"Der Elfmeter kam viel zu früh für uns", sagte der Torschütze später. "Wir haben dann unsere Taktik geändert, und das war falsch." Dazu eine deutsche Meinung: "Dann haben die Holländer versucht, uns vorzuführen, haben Jojo gespielt. Und nicht damit gerechnet, dass etwas schiefgehen kann", behauptete Hölzenbein, der persönlich dafür sorgte, dass etwas schiefging für Holland.

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Breitner gleicht aus, Müller dreht das Spiel

In der 23. Minute drang er in den Strafraum ein und kam nach einer Attacke von Wim Jansen zu Fall. Foul oder nicht? Diese Frage ist bis heute noch schwerer zu klären als die nach dem Wembley-Tor und doch genauso wichtig. Bernd Hölzenbein muss noch immer mit dem Vorwurf, eine Schwalbe produziert zu haben, leben und beteuert bis heute: "Ganz klar, es war ein Elfmeter. Zeigt diese Szene im Urwald oder Schiedsrichtern, die sie nie gesehen haben. Ich sage: Alle pfeifen Elfmeter, es geht gar nicht anders."

ARD-Reporter Rudi Michel hielt sich vornehm zurück und sagte auch nach der Zeitlupe gar nichts. Von den etablierten Schützen rissen sich weder Hoeneß noch Müller um den Ball, und als sich auch Overath abdrehte, schnappte ihn sich Paul Breitner mit seinen 22 Jahren. Eiskalt schob er ihn links unten ins Tor zum Ausgleich, und erst als er am nächsten Tag im Hotel die Wiederholung sah, wurde er noch nachträglich nervös. Da hatte er erst realisiert, welche Verantwortung er auf sich geladen hatte. So werden Helden geboren.

Nun kippte das minütlich an Niveau gewinnende Spiel zu Gunsten der Deutschen, und um 16.43 Uhr wurde Geschichte geschrieben. Rainer Bonhof war nach Grabowskis Pass auf rechts davon gezogen und flankte flach und scharf nach innen auf Gerd Müller. Zwei Mann waren bei ihm, aber weil ihm der Ball mit links versprungen und somit wieder mal das Unvorhersehbare passiert war, auf das nur er eingestellt zu sein schien, kamen sie alle zu spät, als er schon mit rechts zum Nachschuss ansetzte.

Flach und unspektakulär zischte der Ball ins Eck, Torwart Jan Jongbloed, einer der Letzten, der noch mit bloßen Händen spielte, warf sich gar nicht erst. Es war ja doch nichts zu machen, 2:1. Es sollte das Tor zur Weltmeisterschaft werden. Aber das wussten sie noch nicht, es standen noch 45 dramatische Minuten bevor.

Maier hält den Sieg fest

Auf dem Weg in die Kabinen handelte sich Cruyff eine Verwarnung ein, weil er Schiedsrichter Taylor kritisiert hatte. Das Finale war auch das Duell zwischen Franz Beckenbauer und Johan Cruyff, der tatsächlich zum besten Spieler des Turniers gewählt wurde. Doch was zählte es gegenüber der Auszeichnung, die Beckenbauer stellvertretend für ein ganzes Land in Empfang nehmen durfte, als Taylor die nach der Pause torlos verbliebene Partie abpfiff? Torlos deshalb, weil Sepp Maier das wohl zweitbeste Spiel seines Lebens machte (Experten fanden ihn beim 1:0 im entscheidenden Spiel um den Finaleinzug gegen Polen sogar noch besser) und ein Müller-Tor zu Unrecht wegen Abseits aberkannt worden war.

So mussten sie bis zur letzten Sekunde zittern. Dann war Deutschland Weltmeister, und Holland hatte sein Trauma. Ihre tausendfach geäußerte Empfindung: Die beste Mannschaft des Turniers hatte das wichtigste Spiel verloren und sich um den verdienten Lohn gebracht. Der Autor Auke Kok hat das Trauma in einem Buch verarbeitet mit dem Titel "Wir waren die Besten", das 2004 zum besten Sportbuch im Lande gekürt wurde. Sicherer als seine These ist dieser Fakt: Wieder hatte die Mannschaft verloren, die im Finale in Führung gegangen war - schon zum siebten Mal trat dieser kuriose Fall ein.

20 Jahre nach dem Wunder von Bern hieß der Weltmeister wieder Deutschland. Die italienische Zeitung Corriere dello Sport schwelgte: "Es war das beste Finale aller Zeiten." Auch darüber lässt sich streiten, in jedem Fall war es unvergesslich dramatisch. Aus heutiger Sicht darf festgestellt werden: Der Tag von München hat die deutsch-holländische Fußballrivalität, die bis dahin eine rein politische war, auf die Bühne des Sports gehievt - wo sie auch viel besser aufgehoben ist.

Die deutsche Aufstellung

Maier - Vogts, Breitner - Schwarzenbeck, Beckenbauer, Bonhof - Uli Hoeneß, Overath, Grabowski, Gerd Müller, Hölzenbein