WM 1950: Ghiggia und Uruguay schocken Brasilien

19 Weltmeisterschaften, 19 Stars: Vor der Jubiläumsauflage im Sommer erinnert DFB.de in einer Serie an prominente und weniger bekannte Spieler, die den bisherigen WM-Turnieren ihren Stempel aufdrückten. Heute: Alcides Ghiggia, 1950 mit Uruguay Weltmeister in Brasilien.

50 Jahre nach seinem größten Tor holte ihn die Vergangenheit wieder ein. Als Alcides Ghiggia, mittlerweile ein rüstiger Rentner, um die Jahrtausendwende am Flughafen von Rio einer Zollbeamtin seinen Ausweis zeigte, fragte ihn die junge Dame: "Sind Sie etwa der Ghiggia?" Verlegen antwortete er: "Ja, aber das ist doch schon 50 Jahre her."

Doch diese Wunde, die sein Tor bei der WM 1950 in Brasilien gerissen hat, heilt auch die Zeit nicht. "In Brasilien spüren wir diesen Moment noch heute", sagte die Zollbeamtin, die damals noch gar nicht auf der Welt war. Das Trauma des WM-Gastgebers von 2014 hat zwei Namen: "Maracanaco" und "Ghiggia". Ersteres bedeutet "Schock von Maracana", Letzterer ist der Auslöser der kollektiven Hysterie. Wie konnte es dazu kommen?

Schon Prämien für Brasilianer vor dem letzten Spiel

Brasilien war bis zum 16. Juli 1950 die beste Mannschaft der WM im eigenen Land gewesen, hatte Kantersiege eingefahren und einigen Spielern schon vor dem Finale Prämien in Form von Grundstücken gezahlt. Ein Remis im letzten Spiel der sonderbaren WM, die kein richtiges Finale kannte, hätte gereicht.

Aber die Uruguayer waren nicht zum Spaß gekommen und wurden zu Spielverderbern. Allen voran der wendige 1,69 Meter kleine Rechtsaußen aus Montevideo, der bis dahin schon drei WM-Tore erzielt hatte. Im entscheidenden Turnierspiel bereitete er das 1:1 durch Schiaffino vor, und dann kam er, der große Moment seines Lebens - man schrieb die 79. Minute.

Der Journalist Dr. Friedebert Becker, einer der wenigen deutschen Vertreter bei dieser WM, schildert ihn im Sport Magazin wie bei einer Radio-Reportage: "Da, elf Minuten vor Schluss. Wieder geht Ghiggia allein mit dem Ball auf und davon, Bigode keucht hinterher, vergebens. Ghiggia sieht das leere Tor, er sieht den Himmel vor sich, läuft, läuft - und sechs Meter vorher knallt er glashart flach am stürzenden Barbosa vorbei unten gleich neben dem kurzen Pfosten ein."

200.000 im Stadion sind auf einmal ganz still

200.000 im Stadion und Millionen an den Rundfunkgeräten stockt der Atem, es wird plötzlich ganz still. Brasilien verliert ein schon gewonnenes Spiel und stürzt in tagelange kollektive Depressionen, Torwart Barbosa wird zum Sündenbock gestempelt - bis zu seinem Lebensende. Ghiggia nahm ihn stets in Schutz: "In meinen Augen war das kein Torwartfehler. Er konnte nichts machen und auf einer Reise nach Brasilien habe ich ihm das auch gesagt." Der Held und sein Opfer...

Ghiggia traf in jedem seiner vier WM-Spiele einmal, wurde in der Presse zum besten Stürmer des Turniers gekürt, obwohl Brasiliens Ademir mehr als doppelt so viele Tore erzielt hatte - aber was zählten sie gegen das eine, das alles entschied? Zurück in der Heimat wurde Ghiggia vom Flughafen ins Auto getragen, so begeistert waren die Massen in Uruguay.

Erster Ball aus Damenstrümpfen

Es wäre unfair, Alcides Ghiggia auf diesen Moment für die Ewigkeit zu reduzieren. Die schillernde Karriere begann daheim in Montevideo, sein wichtigster Spielkamerad war sein Hund. Jedenfalls erklärte er seine außergewöhnliche Schnelligkeit damit, dass er stets mit dem Hund von der Wohnung zur nächsten Straßenecke sprintete und erst zufrieden war, wenn er gewann.

Sein erster Ball bestand aus Damenstrümpfen, die sie mit allem ausstopften, was die Straßen Montevideos hergaben. Mit 18 spielte er in der zweiten Liga, mit 22 schloss er sich dem Topklub Penarol Montevideo an, der das Gros des späteren Weltmeisterkaders stellte. So wurde er 1949 erstmals Meister, dessen Sturm um Schiaffino und Vidal man "die Todesschwadron" nannte. Sie blieben 1948/1949 unbesiegt und gaben nur zwei Punkte ab.

Ghiggias Heldenstatus bewahrte ihn nicht vor der Sportjustiz: Als er in einem Derby den Schiedsrichter trat, wurde er 15 Monate gesperrt. Da ging er nach Italien, wie vor ihm schon viele Uruguayer. Er spielte für AS Rom und später AC Mailand. Und so wie einige der Weltmeister von 1930 vier Jahre später plötzlich dank italienischer Vorfahren nun mit einem anderen Land Weltmeister geworden waren, versuchte auch er sein Glück mit der "Squadra Azzura".

Weniger Erfolg in Italien

Doch es gab die verpasste die Qualifikation zur WM 1958, Ghiggia flog im entscheidenden Spiel vom Platz. Obwohl das Italien-Intermezzo nicht annähernd so erfolgreich war wie das im Trikot von Uruguay, nannte man ihn in Anlehnung an den großen Freiheitskämpfer des 19. Jahrhunderts, Giuseppe Garribaldi, den "Held zweier Welten". Auch der kämpfte für Uruguay und Italien.

Wer die größeren Taten vollbracht hat, darüber lässt sich trefflich streiten. Jedenfalls im fußballverrückten Südamerika. Garribaldi brachte die Freiheit, Ghiggia den Ruhm. Zu seinem 80. Geburtstag wurde er im Parlament geehrt, und es erschien eine Sonderbriefmarke mit dem Text: "Ghiggia bewegte uns zu Tränen." Das letzte Tor, das er für Uruguay schoss, macht ihn unsterblich, was ihn auf seine alten Tage beruhigen dürfte.

Ghiggia, der erst mit 42 seine Karriere beendete, ist der letzte noch lebende Weltmeister von 1950. Kurz vor Weihnachten 2013 wurde er 87 Jahre alt. Fast so berühmt wie sein Tor ist sein Spruch: "Nur drei Menschen haben mit einer einzigen Bewegung das Maracanã zum Schweigen gebracht: Frank Sinatra, der Papst und ich."

Alcides Ghiggia

Geboren: 22. Dezember 1926 in Montevideo
Länderspielbilanz: 12 Spiele/4 Tore für Uruguay, 5/1 für Italien
WM-Bilanz: 4 Spiele/4 Tore für Uruguay (1950)
Vereine: Institution Atletico Sud America Montevideo (1944 bis 1948), Penarol Montevideo (1948 bis 1953), AS Rom (1953 bis 1961), AC Mailand (1961 bis 1963), Danubio (1963 bis 1968)
Titel: Meister in Uruguay 1949, 1951; Messepokalsieger 1961; Italienischer Meister 1962

[um]

19 Weltmeisterschaften, 19 Stars: Vor der Jubiläumsauflage im Sommer erinnert DFB.de in einer Serie an prominente und weniger bekannte Spieler, die den bisherigen WM-Turnieren ihren Stempel aufdrückten. Heute: Alcides Ghiggia, 1950 mit Uruguay Weltmeister in Brasilien.

50 Jahre nach seinem größten Tor holte ihn die Vergangenheit wieder ein. Als Alcides Ghiggia, mittlerweile ein rüstiger Rentner, um die Jahrtausendwende am Flughafen von Rio einer Zollbeamtin seinen Ausweis zeigte, fragte ihn die junge Dame: "Sind Sie etwa der Ghiggia?" Verlegen antwortete er: "Ja, aber das ist doch schon 50 Jahre her."

Doch diese Wunde, die sein Tor bei der WM 1950 in Brasilien gerissen hat, heilt auch die Zeit nicht. "In Brasilien spüren wir diesen Moment noch heute", sagte die Zollbeamtin, die damals noch gar nicht auf der Welt war. Das Trauma des WM-Gastgebers von 2014 hat zwei Namen: "Maracanaco" und "Ghiggia". Ersteres bedeutet "Schock von Maracana", Letzterer ist der Auslöser der kollektiven Hysterie. Wie konnte es dazu kommen?

Schon Prämien für Brasilianer vor dem letzten Spiel

Brasilien war bis zum 16. Juli 1950 die beste Mannschaft der WM im eigenen Land gewesen, hatte Kantersiege eingefahren und einigen Spielern schon vor dem Finale Prämien in Form von Grundstücken gezahlt. Ein Remis im letzten Spiel der sonderbaren WM, die kein richtiges Finale kannte, hätte gereicht.

Aber die Uruguayer waren nicht zum Spaß gekommen und wurden zu Spielverderbern. Allen voran der wendige 1,69 Meter kleine Rechtsaußen aus Montevideo, der bis dahin schon drei WM-Tore erzielt hatte. Im entscheidenden Turnierspiel bereitete er das 1:1 durch Schiaffino vor, und dann kam er, der große Moment seines Lebens - man schrieb die 79. Minute.

Der Journalist Dr. Friedebert Becker, einer der wenigen deutschen Vertreter bei dieser WM, schildert ihn im Sport Magazin wie bei einer Radio-Reportage: "Da, elf Minuten vor Schluss. Wieder geht Ghiggia allein mit dem Ball auf und davon, Bigode keucht hinterher, vergebens. Ghiggia sieht das leere Tor, er sieht den Himmel vor sich, läuft, läuft - und sechs Meter vorher knallt er glashart flach am stürzenden Barbosa vorbei unten gleich neben dem kurzen Pfosten ein."

200.000 im Stadion sind auf einmal ganz still

200.000 im Stadion und Millionen an den Rundfunkgeräten stockt der Atem, es wird plötzlich ganz still. Brasilien verliert ein schon gewonnenes Spiel und stürzt in tagelange kollektive Depressionen, Torwart Barbosa wird zum Sündenbock gestempelt - bis zu seinem Lebensende. Ghiggia nahm ihn stets in Schutz: "In meinen Augen war das kein Torwartfehler. Er konnte nichts machen und auf einer Reise nach Brasilien habe ich ihm das auch gesagt." Der Held und sein Opfer...

Ghiggia traf in jedem seiner vier WM-Spiele einmal, wurde in der Presse zum besten Stürmer des Turniers gekürt, obwohl Brasiliens Ademir mehr als doppelt so viele Tore erzielt hatte - aber was zählten sie gegen das eine, das alles entschied? Zurück in der Heimat wurde Ghiggia vom Flughafen ins Auto getragen, so begeistert waren die Massen in Uruguay.

Erster Ball aus Damenstrümpfen

Es wäre unfair, Alcides Ghiggia auf diesen Moment für die Ewigkeit zu reduzieren. Die schillernde Karriere begann daheim in Montevideo, sein wichtigster Spielkamerad war sein Hund. Jedenfalls erklärte er seine außergewöhnliche Schnelligkeit damit, dass er stets mit dem Hund von der Wohnung zur nächsten Straßenecke sprintete und erst zufrieden war, wenn er gewann.

Sein erster Ball bestand aus Damenstrümpfen, die sie mit allem ausstopften, was die Straßen Montevideos hergaben. Mit 18 spielte er in der zweiten Liga, mit 22 schloss er sich dem Topklub Penarol Montevideo an, der das Gros des späteren Weltmeisterkaders stellte. So wurde er 1949 erstmals Meister, dessen Sturm um Schiaffino und Vidal man "die Todesschwadron" nannte. Sie blieben 1948/1949 unbesiegt und gaben nur zwei Punkte ab.

Ghiggias Heldenstatus bewahrte ihn nicht vor der Sportjustiz: Als er in einem Derby den Schiedsrichter trat, wurde er 15 Monate gesperrt. Da ging er nach Italien, wie vor ihm schon viele Uruguayer. Er spielte für AS Rom und später AC Mailand. Und so wie einige der Weltmeister von 1930 vier Jahre später plötzlich dank italienischer Vorfahren nun mit einem anderen Land Weltmeister geworden waren, versuchte auch er sein Glück mit der "Squadra Azzura".

Weniger Erfolg in Italien

Doch es gab die verpasste die Qualifikation zur WM 1958, Ghiggia flog im entscheidenden Spiel vom Platz. Obwohl das Italien-Intermezzo nicht annähernd so erfolgreich war wie das im Trikot von Uruguay, nannte man ihn in Anlehnung an den großen Freiheitskämpfer des 19. Jahrhunderts, Giuseppe Garribaldi, den "Held zweier Welten". Auch der kämpfte für Uruguay und Italien.

Wer die größeren Taten vollbracht hat, darüber lässt sich trefflich streiten. Jedenfalls im fußballverrückten Südamerika. Garribaldi brachte die Freiheit, Ghiggia den Ruhm. Zu seinem 80. Geburtstag wurde er im Parlament geehrt, und es erschien eine Sonderbriefmarke mit dem Text: "Ghiggia bewegte uns zu Tränen." Das letzte Tor, das er für Uruguay schoss, macht ihn unsterblich, was ihn auf seine alten Tage beruhigen dürfte.

Ghiggia, der erst mit 42 seine Karriere beendete, ist der letzte noch lebende Weltmeister von 1950. Kurz vor Weihnachten 2013 wurde er 87 Jahre alt. Fast so berühmt wie sein Tor ist sein Spruch: "Nur drei Menschen haben mit einer einzigen Bewegung das Maracanã zum Schweigen gebracht: Frank Sinatra, der Papst und ich."

Alcides Ghiggia

Geboren: 22. Dezember 1926 in Montevideo
Länderspielbilanz: 12 Spiele/4 Tore für Uruguay, 5/1 für Italien
WM-Bilanz: 4 Spiele/4 Tore für Uruguay (1950)
Vereine: Institution Atletico Sud America Montevideo (1944 bis 1948), Penarol Montevideo (1948 bis 1953), AS Rom (1953 bis 1961), AC Mailand (1961 bis 1963), Danubio (1963 bis 1968)
Titel: Meister in Uruguay 1949, 1951; Messepokalsieger 1961; Italienischer Meister 1962