Uwe Seeler: "Länderspiele in Wembley sind immer ein Maßstab"

Fans wie Journalisten sprechen dieser Tage vom Klassiker, vom traditionsreichen Duell, aber nie von einem Freundschaftsspiel. Wembley ist nicht Wimbledon, hier gibt es keine Erdbeeren mit Schlagsahne, keinen Prosecco, die Damen tragen hier keine breitrandigen Hüte - und England gegen Deutschland ist eben alles, aber nie ein Freundschaftsspiel. Jede auf ihre ureigene Weise, pflegen beide Nationalmannschaften den kampfbetonten Tempofußball.

Der "Kick and Rush" und die deutsche Tugenden liegen nicht soweit auseinander. Gerade diese Nähe und Ähnlichkeit hat das Duell der beiden großen Fußballnationen über Jahrzehnte reizvoll gemacht. Am Mittwoch war es also wieder soweit, um 20 Uhr Ortszeit wurde der Klassiker im brandneuen, weit über eine Milliarde Euro teuren Wembley-Stadion angestoßen.

Zum 30. Mal trafen England und Deutschland aufeinander. Die Bilanz aus deutscher Sicht fällt trotz des Erfolges negativ aus: zwölf Siege, vier Unentschieden, 14 Niederlagen. In den wichtigen Spielen triumphierte indes oft die deutsche Nationalmannschaft. Gerade an das Wembley-Stadion hat die Mannschaft mit dem Adler auf der Brust goldene Erinnerungen, wie DFB-Internetredakteur Thomas Hackbarth zu berichten weiß.

Highlights der deutschen Spiele
im Wembley-Stadion 1966 - 2000
Highlights der deutschen Spiele im Wembley-Stadion 1966 - 2000 © DFB

 

Bierhoffs "Golden Goal" schrieb Fußball-Geschichte

Etwa am 30. Juni 1996, als Deutschland durch das erste "Golden Goal" der Fußball-Geschichte zum dritten und vorerst letzten Mal Europameister wurde - durch entscheidende Siege im Wembley-Stadion.

Oliver Bierhoff, der damals im EM-Finale das 2:1 gegen die Tschechen per Linksschuss in der Verlängerung markiert und bereits vorher den Ausgleich erzielt hatte, schwärmt indes mehr noch vom Halbfinale wenige Tage zuvor, das ebenfalls im altehrwürdigen Wembley ausgetragen worden war: "Das Tor im Finale gegen die Tschechen war sicher unbeschreiblich, aber als Spiel ist der Sieg über die Engländer im Halbfinale der Europameisterschaft 1996 durch nichts zu überbieten. Die Stimmung war einzigartig".

6:5 (1:1 nach Verlängerung) gewannen die Deutschen am 26. Juni 1996 nach Elfmeterschießen: Andreas Köpke parierte Gary Southgates Strafstoß, dann verwandelte Andreas Möller seinen Elfer souverän. "Der Teamgeist stimmte", erklärt Bierhoff Deutschlands großen Triumph in Wembley.

"Das beste Spiel einer deutschen Nationalmannschaft"

Ein anderer Tag, eine andere Mannschaft. Londoner Dauerregen empfing die deutsche Nationalmannschaft als sie am 29. April 1972 in Wembley auflief, doch am Ende des EM-Viertelfinales gegen England schien für Bundestrainer Helmut Schön und seine Jungs die Sonne. Das 3:1 über den Gastgeber, der erste Sieg einer deutschen Mannschaft in Wembley überhaupt, war für zahlreiche Experten "das beste Spiel einer deutschen Nationalmannschaft" und markierte für viele Experten die Geburtsstunde des späteren Europameisters.

Paul Breitner allerdings, einer der prägenden Spieler des damaligen Teams, widerspricht: "Unser Spiel in Wembley war nicht die Geburtsstunde, es war der Höhepunkt dieser Mannschaft. In den kommenden Monaten haben wir das Niveau gerade gehalten, aber zu diesem Spiel und dieser Leistung konnte es keine Steigerung mehr geben." Sonst zeichneten Kampf und Tempo die Spiele zwischen Deutschland und England aus, doch die deutsche Mannschaft aus dem Frühling 1972 bestach gerade durch große technische Raffinesse. Ausnahmsweise zelebrierte eine deutsche Mannschaft die Leichtigkeit des Seins.

Breitners Teamkollege Günter Netzer sagt in Erinnerung an jenen legendären Fußballtag: "Das Spiel war das größte an Spaß, was ich mir vorstellen konnte." Breitner weiter: "Es gab zuvor und danach keine deutsche Mannschaft, die den europäischen Fußball derart souverän dominiert hat. Wir waren die perfekte Mischung aus Arbeitern und Künstlern."

Das "Wembley-Tor" - drin oder nicht drin?

Und noch ein Wembley-Moment, oder wohl eher der Wembley-Moment überhaupt: Als Geoff Hursts Schuss in der Verlängerung des WM-Finales am 30. Juli 1966 an die Unterkante der Latte knallte und von dort vor, auf oder hinter die Linie prallte, wurde die ganz große, die Generationen überdauernde Fußball-Geschichte geschrieben. Bundespräsident Heinrich Lübke sagte ein paar Tage später unbedarft: "Der Ball war drin" - und musste heftigste öffentliche Kritik einstecken.

Über 40 Jahre später können Engländer und Deutsche über diesen einen Schuss weiterhin problemlos streiten. Das "Wembley-Tor" - drin oder nicht drin? Auch Uwe Seeler ärgert sich noch heute - ein bisschen: "Der Schiedsrichter hatte zuerst auf Eckball entschieden, dann lief er raus zu seinem Linienrichter, der fünfzig Meter entfernt vom Geschehen gestanden hat."

"Solch ein großes Turnier sollte durch die Spieler gewonnen oder verloren werden", sagt der Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft. "Und wenn es der Schiedsrichter entscheidet, dann bitte durch seine unmittelbare Tatsachenentscheidung. Dennoch sind die Engländer damals verdient Weltmeister geworden." Die Gastgeber siegten seinerzeit 4:2 nach Verlängerung und holten den bislang einzigen WM-Titel fürs Mutterland des Fußballs.

"England gegen Deutschland ist immer etwas Besonderes"

Schon am 1. Dezember 1954 spielte Seeler im Wembley-Stadion und verlor mit der DFB-Auswahl gegen England mit 1:3. "Damals war ich ein ganz junger Bengel", so Seeler. "Vor dem Anstoß zitterten mir die Knie." Es ist kein Zufall, sondern ebenfalls ein Zeichen der sich wandelnden Zeiten, dass Bierhoff und Breitner im Laufe ihrer Karrieren große Erfolge im Ausland, in Italien und Spanien, feierten, während Seeler trotz lukrativer Angebote immer seinem Hamburger SV die Treue hielt. Damals ging das, heute eben nicht mehr.

Nun also stellt sich eine neue deutsche Mannschaft der Herausforderung Wembley. Bedingt durch die vielen Absagen aufgrund teils langwieriger Verletzungen wird am Mittwoch eine sehr junge deutsche Mannschaft auflaufen. "Wembley ist immer ein Maßstab", sagt Seeler. "Länderspiele England gegen Deutschland waren immer etwas Besonderes und sind es bis heute geblieben. Gerade in der Atmosphäre des Wembley-Stadions werden wir deutlich sehen, wie weit unsere jungen Spieler in ihrer Entwicklung schon gekommen sind."

In einem Stadion, das doppelt so groß und viermal so hoch ist wie sein Vorgänger, dessen Charakter nicht mehr durch die imperialen weißen Türme, sondern einen 133 Meter über dem Rasen schwebenden Stahlbogen bestimmt wird, wird am Mittwochabend das nächste Kapitel des Klassikers England gegen Deutschland geschrieben. Der 22. August 2007 - freuen wir uns darauf!

[th/cm]

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Fans wie Journalisten sprechen dieser Tage vom Klassiker, vom traditionsreichen Duell, aber nie von einem Freundschaftsspiel. Wembley ist nicht Wimbledon, hier gibt es keine Erdbeeren mit Schlagsahne, keinen Prosecco, die Damen tragen hier keine breitrandigen Hüte - und England gegen Deutschland ist eben alles, aber nie ein Freundschaftsspiel. Jede auf ihre ureigene Weise, pflegen beide Nationalmannschaften den kampfbetonten Tempofußball.

Der "Kick and Rush" und die deutsche Tugenden liegen nicht soweit auseinander. Gerade diese Nähe und Ähnlichkeit hat das Duell der beiden großen Fußballnationen über Jahrzehnte reizvoll gemacht. Am Mittwoch war es also wieder soweit, um 20 Uhr Ortszeit wurde der Klassiker im brandneuen, weit über eine Milliarde Euro teuren Wembley-Stadion angestoßen.

Zum 30. Mal trafen England und Deutschland aufeinander. Die Bilanz aus deutscher Sicht fällt trotz des Erfolges negativ aus: zwölf Siege, vier Unentschieden, 14 Niederlagen. In den wichtigen Spielen triumphierte indes oft die deutsche Nationalmannschaft. Gerade an das Wembley-Stadion hat die Mannschaft mit dem Adler auf der Brust goldene Erinnerungen, wie DFB-Internetredakteur Thomas Hackbarth zu berichten weiß.

Highlights der deutschen Spiele
im Wembley-Stadion 1966 - 2000
Highlights der deutschen Spiele im Wembley-Stadion 1966 - 2000 © DFB

 

Bierhoffs "Golden Goal" schrieb Fußball-Geschichte

Etwa am 30. Juni 1996, als Deutschland durch das erste "Golden Goal" der Fußball-Geschichte zum dritten und vorerst letzten Mal Europameister wurde - durch entscheidende Siege im Wembley-Stadion.

Oliver Bierhoff, der damals im EM-Finale das 2:1 gegen die Tschechen per Linksschuss in der Verlängerung markiert und bereits vorher den Ausgleich erzielt hatte, schwärmt indes mehr noch vom Halbfinale wenige Tage zuvor, das ebenfalls im altehrwürdigen Wembley ausgetragen worden war: "Das Tor im Finale gegen die Tschechen war sicher unbeschreiblich, aber als Spiel ist der Sieg über die Engländer im Halbfinale der Europameisterschaft 1996 durch nichts zu überbieten. Die Stimmung war einzigartig".

6:5 (1:1 nach Verlängerung) gewannen die Deutschen am 26. Juni 1996 nach Elfmeterschießen: Andreas Köpke parierte Gary Southgates Strafstoß, dann verwandelte Andreas Möller seinen Elfer souverän. "Der Teamgeist stimmte", erklärt Bierhoff Deutschlands großen Triumph in Wembley.

"Das beste Spiel einer deutschen Nationalmannschaft"

Ein anderer Tag, eine andere Mannschaft. Londoner Dauerregen empfing die deutsche Nationalmannschaft als sie am 29. April 1972 in Wembley auflief, doch am Ende des EM-Viertelfinales gegen England schien für Bundestrainer Helmut Schön und seine Jungs die Sonne. Das 3:1 über den Gastgeber, der erste Sieg einer deutschen Mannschaft in Wembley überhaupt, war für zahlreiche Experten "das beste Spiel einer deutschen Nationalmannschaft" und markierte für viele Experten die Geburtsstunde des späteren Europameisters.

Paul Breitner allerdings, einer der prägenden Spieler des damaligen Teams, widerspricht: "Unser Spiel in Wembley war nicht die Geburtsstunde, es war der Höhepunkt dieser Mannschaft. In den kommenden Monaten haben wir das Niveau gerade gehalten, aber zu diesem Spiel und dieser Leistung konnte es keine Steigerung mehr geben." Sonst zeichneten Kampf und Tempo die Spiele zwischen Deutschland und England aus, doch die deutsche Mannschaft aus dem Frühling 1972 bestach gerade durch große technische Raffinesse. Ausnahmsweise zelebrierte eine deutsche Mannschaft die Leichtigkeit des Seins.

Breitners Teamkollege Günter Netzer sagt in Erinnerung an jenen legendären Fußballtag: "Das Spiel war das größte an Spaß, was ich mir vorstellen konnte." Breitner weiter: "Es gab zuvor und danach keine deutsche Mannschaft, die den europäischen Fußball derart souverän dominiert hat. Wir waren die perfekte Mischung aus Arbeitern und Künstlern."

Das "Wembley-Tor" - drin oder nicht drin?

Und noch ein Wembley-Moment, oder wohl eher der Wembley-Moment überhaupt: Als Geoff Hursts Schuss in der Verlängerung des WM-Finales am 30. Juli 1966 an die Unterkante der Latte knallte und von dort vor, auf oder hinter die Linie prallte, wurde die ganz große, die Generationen überdauernde Fußball-Geschichte geschrieben. Bundespräsident Heinrich Lübke sagte ein paar Tage später unbedarft: "Der Ball war drin" - und musste heftigste öffentliche Kritik einstecken.

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Über 40 Jahre später können Engländer und Deutsche über diesen einen Schuss weiterhin problemlos streiten. Das "Wembley-Tor" - drin oder nicht drin? Auch Uwe Seeler ärgert sich noch heute - ein bisschen: "Der Schiedsrichter hatte zuerst auf Eckball entschieden, dann lief er raus zu seinem Linienrichter, der fünfzig Meter entfernt vom Geschehen gestanden hat."

"Solch ein großes Turnier sollte durch die Spieler gewonnen oder verloren werden", sagt der Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft. "Und wenn es der Schiedsrichter entscheidet, dann bitte durch seine unmittelbare Tatsachenentscheidung. Dennoch sind die Engländer damals verdient Weltmeister geworden." Die Gastgeber siegten seinerzeit 4:2 nach Verlängerung und holten den bislang einzigen WM-Titel fürs Mutterland des Fußballs.

"England gegen Deutschland ist immer etwas Besonderes"

Schon am 1. Dezember 1954 spielte Seeler im Wembley-Stadion und verlor mit der DFB-Auswahl gegen England mit 1:3. "Damals war ich ein ganz junger Bengel", so Seeler. "Vor dem Anstoß zitterten mir die Knie." Es ist kein Zufall, sondern ebenfalls ein Zeichen der sich wandelnden Zeiten, dass Bierhoff und Breitner im Laufe ihrer Karrieren große Erfolge im Ausland, in Italien und Spanien, feierten, während Seeler trotz lukrativer Angebote immer seinem Hamburger SV die Treue hielt. Damals ging das, heute eben nicht mehr.

Nun also stellt sich eine neue deutsche Mannschaft der Herausforderung Wembley. Bedingt durch die vielen Absagen aufgrund teils langwieriger Verletzungen wird am Mittwoch eine sehr junge deutsche Mannschaft auflaufen. "Wembley ist immer ein Maßstab", sagt Seeler. "Länderspiele England gegen Deutschland waren immer etwas Besonderes und sind es bis heute geblieben. Gerade in der Atmosphäre des Wembley-Stadions werden wir deutlich sehen, wie weit unsere jungen Spieler in ihrer Entwicklung schon gekommen sind."

In einem Stadion, das doppelt so groß und viermal so hoch ist wie sein Vorgänger, dessen Charakter nicht mehr durch die imperialen weißen Türme, sondern einen 133 Meter über dem Rasen schwebenden Stahlbogen bestimmt wird, wird am Mittwochabend das nächste Kapitel des Klassikers England gegen Deutschland geschrieben. Der 22. August 2007 - freuen wir uns darauf!