Tuchel: "Irgendwann eine Wellenbewegung"

Thomas Tuchel und der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht redeten im Deutschen Fußballmuseum 90 Minuten über Fußball und nichts als Fußball. Aber eben so ganz anders, als man es in Deutschland kennt. Es war der Auftakt zur neuen Talkreihe Spielkultur der DFB-Kulturstiftung. Die Moderation hatte 11Freunde-Redakteur Christoph Biermann. Heute präsentieren wir die zweite Halbzeit des Gesprächs vom vergangenen Sonntag.

Christoph Biermann: Der Schiedsrichter kommt aus der Kabine, die Zuschauer kehren von den Bierständen zurück, oder so ähnlich. So – ihr habt etwas gemeinsam. Ihr seid beide Lehrer. Und zwar Lehrer fortgeschrittener Schüler. Worauf kommt es also bei der Ausbildung der Hochbegabten an?

Hans Ulrich Gumbrecht: Es kommt vor allem darauf an, die Studenten herauszufordern. Nur die Vermittlung von Wissen wäre zu wenig. Kein Seminar in Stanford ist größer als 18 Studenten. Dort will ich das spezifische Talent entdecken, um es dann für die Gemeinschaft zu aktivieren. Ich biete gerade einen Grundstudium-Kurs an über Ästhetik, die Studenten sind zwischen 18 und 22 Jahre jung. Mir ist es wichtig, dass Momente intellektueller Intensität entstehen. Verkürzt geht es um den einen Moment, von dem diese jungen Menschen mitnehmen, dass man durch eine intellektuelle Auseinandersetzung eine Intensität der Existenz erfährt, die woanders eben nicht erfahrbar ist.

Thomas Tuchel: Das ist perfekt beschrieben. Darum geht es, die Aktivierung der Talente. Als Bundesligatrainer muss ich mich immer wieder auf neue Spieler einlassen. Welche Stärken können wir nutzen, welche entwickeln, wo reifen noch Persönlichkeiten? Ich muss den Spieler dort abholen, wo er jetzt gerade ist. Und ich muss die Spieler fordern.

Biermann: Ihr Beruf heißt ja "Fußball-Lehrer". Verstehen Sie sich denn auch als Lehrer?

Tuchel: Wenn ich an meinen alten Latein- oder Mathelehrer denke, ist das weit, weit entfernt von dem, was wir machen. Eher sehe ich mich als einen Begleiter dieser Talente, Persönlichkeiten und unterschiedlichen Charaktere. Da fallen ganz unterschiedliche Aufgaben an, weil etwa ausländische junge Spieler auch integriert werden müssen, in das soziale Leben, in Werte, sie müssen Deutschland und Dortmund kennenlernen. Ich bin für die Taktung und Lerngeschwindigkeit verantwortlich, ich setze die Reizpunkte. Und dann gibt es bei uns selbstverständlich diese intensiven Momente, vor allem während des Spiels, dort erlebe ich Entwicklungsschritte, kleine und große und offensichtliche…

Gumbrecht: Was ist für meine Studenten das Bundesligaspiel? Die Seminararbeit! Da sage ich ihnen immer, auf den zehn Seiten, möglichst nur mit wenigen Fußnoten, müsst ihr besser als Kant oder Hegel sein. Die Wahrscheinlichkeit ist eher gering…

Biermann: …und die große Frustration scheint vorprogrammiert.

Gumbrecht: Ich denke, wenn Thomas Tuchel einen Spieler wie Dembelé hat, dann kann er ihm doch nicht sagen, dein Ziel muss sein, ein guter Bundesligaspieler zu werden. Dembelé maximal zu entwickeln, das ist doch geradezu die pädagogische Verpflichtung. Ich lehre an einer sogenannten Eliteuniversität, was jetzt nicht automatisch bedeutet, dass die Leute alle unsympathisch sind. (Gelächter) Im Ernst, das sind ganz tolle Studenten. Letzte Woche habe ich mit einer 17-jährigen Studentin über Hegels Ästhetik geredet und plötzlich hatte sie eine Idee, gut entwickelt, die hatte ich noch nie gehört. Und das wird bei Ihnen nicht anders sein, diesen Moment muss man wahrnehmen, den muss man vergrößern.

Biermann: Gibt es das lebenslange Lernen im Fußball?

Tuchel: Das ist der Kern. Das darf niemals aufhören, für den Spieler wie auch für den Trainer. Wir haben durch das Studium eines Spiels gegen den FC Porto in der Euro-League festgestellt, dass wir 3-2-4-1 gespielt haben und ich hätte sechs Wochen vorher nichts darüber erzählen können, weil ich nicht mal wusste, dass das möglich ist. Das ewige Lernen ist ein Merkmal des Leistungssports. Wir haben wahrscheinlich alle das Finale der Australian Open angeschaut, Federer gegen Nadal, die nach diesem Match in der höchsten Wertschätzung voneinander gesprochen haben. Denken Sie an Carles Puyol, den ehemaligen Kapitän des FC Barcelona. Als ich noch selbst spielte und sehr naiv Fußball schaute, dachte ich wie sicher auch viele andere "Was macht dieser Lockenkopf bei denen? Der ist doch viel zu schlecht". Und am Ende ist Puyol der Klebstoff in dieser wunderbaren Geschichte von 14 Titeln. Er war der beste, er hat es zusammengehalten, er hatte die Ausstrahlung. Der Kapitän und die Symbolfigur für alles, was Barcelona verkörpert hat. Er wurde einfach jedes Jahr besser, weil er das wollte. Und das verkörperte, was die absoluten Champions ausmacht: Bescheidenheit und der Wille, sich jeden Tag neu zu beweisen. Das macht die absolute Elite aus, Sportler wie Nadal, Federer und Puyol.



Thomas Tuchel und der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht redeten im Deutschen Fußballmuseum 90 Minuten über Fußball und nichts als Fußball. Aber eben so ganz anders, als man es in Deutschland kennt. Es war der Auftakt zur neuen Talkreihe Spielkultur der DFB-Kulturstiftung. Die Moderation hatte 11Freunde-Redakteur Christoph Biermann. Heute präsentieren wir die zweite Halbzeit des Gesprächs vom vergangenen Sonntag.

Christoph Biermann: Der Schiedsrichter kommt aus der Kabine, die Zuschauer kehren von den Bierständen zurück, oder so ähnlich. So – ihr habt etwas gemeinsam. Ihr seid beide Lehrer. Und zwar Lehrer fortgeschrittener Schüler. Worauf kommt es also bei der Ausbildung der Hochbegabten an?

Hans Ulrich Gumbrecht: Es kommt vor allem darauf an, die Studenten herauszufordern. Nur die Vermittlung von Wissen wäre zu wenig. Kein Seminar in Stanford ist größer als 18 Studenten. Dort will ich das spezifische Talent entdecken, um es dann für die Gemeinschaft zu aktivieren. Ich biete gerade einen Grundstudium-Kurs an über Ästhetik, die Studenten sind zwischen 18 und 22 Jahre jung. Mir ist es wichtig, dass Momente intellektueller Intensität entstehen. Verkürzt geht es um den einen Moment, von dem diese jungen Menschen mitnehmen, dass man durch eine intellektuelle Auseinandersetzung eine Intensität der Existenz erfährt, die woanders eben nicht erfahrbar ist.

Thomas Tuchel: Das ist perfekt beschrieben. Darum geht es, die Aktivierung der Talente. Als Bundesligatrainer muss ich mich immer wieder auf neue Spieler einlassen. Welche Stärken können wir nutzen, welche entwickeln, wo reifen noch Persönlichkeiten? Ich muss den Spieler dort abholen, wo er jetzt gerade ist. Und ich muss die Spieler fordern.

Biermann: Ihr Beruf heißt ja "Fußball-Lehrer". Verstehen Sie sich denn auch als Lehrer?

Tuchel: Wenn ich an meinen alten Latein- oder Mathelehrer denke, ist das weit, weit entfernt von dem, was wir machen. Eher sehe ich mich als einen Begleiter dieser Talente, Persönlichkeiten und unterschiedlichen Charaktere. Da fallen ganz unterschiedliche Aufgaben an, weil etwa ausländische junge Spieler auch integriert werden müssen, in das soziale Leben, in Werte, sie müssen Deutschland und Dortmund kennenlernen. Ich bin für die Taktung und Lerngeschwindigkeit verantwortlich, ich setze die Reizpunkte. Und dann gibt es bei uns selbstverständlich diese intensiven Momente, vor allem während des Spiels, dort erlebe ich Entwicklungsschritte, kleine und große und offensichtliche…

Gumbrecht: Was ist für meine Studenten das Bundesligaspiel? Die Seminararbeit! Da sage ich ihnen immer, auf den zehn Seiten, möglichst nur mit wenigen Fußnoten, müsst ihr besser als Kant oder Hegel sein. Die Wahrscheinlichkeit ist eher gering…

Biermann: …und die große Frustration scheint vorprogrammiert.

Gumbrecht: Ich denke, wenn Thomas Tuchel einen Spieler wie Dembelé hat, dann kann er ihm doch nicht sagen, dein Ziel muss sein, ein guter Bundesligaspieler zu werden. Dembelé maximal zu entwickeln, das ist doch geradezu die pädagogische Verpflichtung. Ich lehre an einer sogenannten Eliteuniversität, was jetzt nicht automatisch bedeutet, dass die Leute alle unsympathisch sind. (Gelächter) Im Ernst, das sind ganz tolle Studenten. Letzte Woche habe ich mit einer 17-jährigen Studentin über Hegels Ästhetik geredet und plötzlich hatte sie eine Idee, gut entwickelt, die hatte ich noch nie gehört. Und das wird bei Ihnen nicht anders sein, diesen Moment muss man wahrnehmen, den muss man vergrößern.

Biermann: Gibt es das lebenslange Lernen im Fußball?

Tuchel: Das ist der Kern. Das darf niemals aufhören, für den Spieler wie auch für den Trainer. Wir haben durch das Studium eines Spiels gegen den FC Porto in der Euro-League festgestellt, dass wir 3-2-4-1 gespielt haben und ich hätte sechs Wochen vorher nichts darüber erzählen können, weil ich nicht mal wusste, dass das möglich ist. Das ewige Lernen ist ein Merkmal des Leistungssports. Wir haben wahrscheinlich alle das Finale der Australian Open angeschaut, Federer gegen Nadal, die nach diesem Match in der höchsten Wertschätzung voneinander gesprochen haben. Denken Sie an Carles Puyol, den ehemaligen Kapitän des FC Barcelona. Als ich noch selbst spielte und sehr naiv Fußball schaute, dachte ich wie sicher auch viele andere "Was macht dieser Lockenkopf bei denen? Der ist doch viel zu schlecht". Und am Ende ist Puyol der Klebstoff in dieser wunderbaren Geschichte von 14 Titeln. Er war der beste, er hat es zusammengehalten, er hatte die Ausstrahlung. Der Kapitän und die Symbolfigur für alles, was Barcelona verkörpert hat. Er wurde einfach jedes Jahr besser, weil er das wollte. Und das verkörperte, was die absoluten Champions ausmacht: Bescheidenheit und der Wille, sich jeden Tag neu zu beweisen. Das macht die absolute Elite aus, Sportler wie Nadal, Federer und Puyol.

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Gumbrecht: Jetzt will ich doch mal fragen: Muss Bescheidenheit wirklich sein? Das erinnert mich an meinen Katechismus in der Grundschule. An Demut…

Biermann: Und wieder darf ich aus einem Deiner Aufsätze zitieren (Gelächter): "Demut, ein grotesk beliebter Begriff, der zu einem moralischen Wert aufgestiegen ist."

Gumbrecht: Darf ich mal eine provozierende Frage stellen. Ist bei Dembelé jetzt gerade Demut die richtige Prise Salz oder sollte es nicht besser Ermutigung sein?

Tuchel: Es muss auf jeden Fall Ermutigung sein. Aber es geht auch um Bescheidenheit, darum sich täglich zu stellen, täglich an den Kleinigkeiten zu arbeiten, gerade jetzt etwa mit der eigenen Regeneration professionell umzugehen, weil du dann eben nicht mit Krämpfen ausgewechselt werden musst. Es geht um eine Bescheidenheit gegenüber seinem eigenen großen, großen Talent. Alles zu zeigen im Stadion, und keine Angst zu haben, egal wie alt du bist, schieß‘ den ersten Elfmeter, aber dann danach ins Eiswasser, auch wenn es weh tut.

Biermann: Ist das nicht einfach Professionalität?

Gumbrecht: Ich würde es Pflicht nennen.

Biermann: Wir wollen jetzt keine Begriffsglauberei anfangen…

Tuchel: Ich glaube jedenfalls nicht, dass Nadal überheblich gegenüber seinem Talent ist. Ich glaube nicht, dass Roger Federer sich etwas auf sein Können einbildet. Eher fühlt er eine Verpflichtung.

Biermann: Sie haben Puyol "den Klebstoff" für Barcelonas großer Erfolge genannt. Wie macht der das?

Tuchel: Als Bayern München damals 0:4 in Barcelona unterlag, erzählte mir später jemand aus dem Betreuerstab der Bayern: "Thomas, als Puyol seine Mannschaft aufs Feld führte, wusste ich, es gibt ein Debakel." Später habe ich das selbst bei Ramos erlebt. In solchen Momenten entstehen Ebenen und Energien, die haben eben nicht nur mit Publikum und sechs Rängen und Trikot zu tun, sondern diese Persönlichkeiten strahlen etwas an ihre Mannschaften aus und die geben das wieder zurück und das ist dann irgendwann eine Wellenbewegung. Und dann kämpfst du gegen mehr als gegen das Talent auf der anderen Seite. Ich will noch ein letztes Beispiel geben. Éric Abidal wurde krebskrank, gesundete und kehrte ins Team zurück. Barcelona gewinnt das Champions League Finale und bei der Übergabe des Pokals streift Carles Puyol seine Kapitänsbinde Abidal über. Und da weiß er doch auch, dass alle Fotos weltweit den Moment zeigen, wenn der Pokal erstmals hochgehalten wird. Das ist für mich gelebte Bescheidenheit.

Biermann: Ein großer Moment, dennoch stoße ich mich aber auch an dem Begriff "Demut". Ich meine, es geht tatsächlich um Größe. Und diese "Warriors" wie Puyol sind etwas Besonderes. Kann man so etwas lehren?

Gumbrecht: Cristiano Ronaldo hatte beim Europameisterschaftsendspiel genauso einen großen Moment.

Biermann: Jetzt hätte ich gesagt, Portugal wurde deshalb Europameister, weil Ronaldo ausgewechselt wurde. (Gelächter)

Gumbrecht (Fan von Real Madrid, Anm.d.Red.): Nicht so.

Tuchel: Und das von Ihnen, Herr Biermann…Ich weiß gar nicht, ob mir überhaupt zusteht, auch nur zu sagen, dass Cristiano Ronaldo meinen vollen Respekt hat. Es ist unglaublich, eine Mannschaftssportart, in der so viel vom Glück abhängt, diese Sportart also derart zu beeinflussen, so ehrgeizig und so ‚outstanding‘ zu sein. Bei der EURO war er für mich dennoch ein anderer Cristiano Ronaldo als im Trikot von Real Madrid. Man hat ihm den Titel gegönnt. Er hat sich neben den Trainer gestellt und mitgecoacht. Das war mehr von dem Jungen aus Madeira als diese laufende Weltmarke.

Biermann: Kann man Größe lehren?

Tuchel: Die Frage gebe ich weiter. (Gelächter)

Gumbrecht: Die nehme ich an. Man muss hohe Ziele stecken. Ich sage meinen Studenten, wenn ihr nicht besser sein wollt als die Besten, was ist der Punkt. Eine 2- ist nicht genug. Und manchmal ist dann auch unsere Größe als Lehrer gefragt. In einem Moment implizit zugeben zu können, dass etwa die Diskussionsbeiträge eines Teilnehmers, wie gerade in einem meiner Seminare über Nietzsches "Also sprach Zarathustra" besser sind als meine eigenen. So wie Fernando Santos Größe bewiesen hat, Cristiano im EM-Finale nicht abzublocken, sondern ihn diese patriotische Rolle spielen zu lassen. Man kann Größe nicht lehren, aber man kann Katalysator dieser Größe sein.

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Biermann: Was treibt jemandem im Leben eigentlich an? Manche Fußballer wollen einfach möglichst viel Geld verdienen. Ist es eine wesentliche Herausforderung des Trainerberufs, dass man die unterschiedlichen Persönlichkeiten und Motivationen seiner Profis kennt?

Tuchel: Auf jeden Fall. Diese Persönlichkeiten und Motivationen gilt es zu akzeptieren und zu respektieren. Ich muss meine Spieler ermutigen, dass sie so auftreten wie sie sind und gleichzeitig nie aufhören, ihnen immer wieder neue Facetten zu zeigen. Ein Spieler, den Geld wesentlich antreibt, verfolgt vielleicht das Ziel, Kapitän zu werden, auf der ersten Seite des Magazins oder des Sportportals zu stehen oder einen Einzeltitel zu gewinnen. Den treibt im positiven Sinne etwas ganz Aggressives an. Und trotzdem ist Fußball ein Teamsport. Kleine Gesten sind oft wichtig. Respekt und Freundlichkeit etwa gegenüber den Fahrern oder der Sicherheit gehören eben auch zu den Kleinigkeiten, die jemand liefern muss, wenn er für Borussia Dortmund spielt.

Biermann: Wie wichtig ist dieser beschriebene Mix in einer Mannschaft?

Tuchel: Sie brauchen eine Mischung aus Spielern, die sich darstellen wollen, sie brauchen Bindungstypen…

Biermann: Was sind Bindungstypen?

Tuchel: Ja, das sind Spieler, deren Glück darin besteht, Teil dieser Mannschaft zu sein, die gerne für andere da sind, die gerne außerhalb des Scheinwerferlichts ihr Spiel spielen, die Zweikämpfe gewinnen. Und du brauchst auf jeden Fall die ganz Neugierigen, die sich ständig ausprobieren, die das Leben leicht machen, die den Beinschuss auch gegen die Bayern probieren.

Biermann: Wie schwer ist es, wenn einem der enorm talentierte Schüler unsympathisch ist?

Gumbrecht: Es ist die Pflicht des Lehrers, auch diese Schüler zu fördern. Das bin ich doch auch meinem Arbeitgeber schuldig.

Biermann: Herr Tuchel, Sie haben den Vorteil, in so einem Fall zu ihrem Sportdirektor zu gehen und zu sagen "Verkauf mir den". (Gelächter)

Tuchel: Damit würde ich mein persönliches Empfinden über den Wert des Mannschaftspools stellen. Das geht auf keinen Fall…auch wenn es Momente gibt, wo man dieses Szenario durchdenkt. (Gelächter) Ich bin noch sehr jung. Ich hatte eine ganz behütete Kindheit, mittags gab es damals noch keinen Unterricht. Stattdessen Freibad, Fußball, Tennisplatz. Manche Spieler sind ganz anders aufgewachsen, kennen ganz andere Werte. Es ist eine Aufgabe für mich, das nicht gleich zu verurteilen. Je älter ich werde, desto leichter wird es, mich in diesen Situationen zurückzunehmen. Ich akzeptiere, dass die jungen Menschen heute Dinge ganz anders verstehen, ganz anders erleben. Wir überlegen uns zum Beispiel wirklich, ob es noch zeitgemäß ist, soviel mit den Spielern zu reden. Die reden selbst doch immer weniger untereinander. Manche schaffen es, sich auf eine Distanz von zwei Metern zu schreiben. (Gelächter) Die Formen der Kommunikation ändern sich.

Biermann: Und so könnte es sein, dass sich in ein paar Jahren ein guter Mannschaftsgeist durch eine mit Eifer betriebene Whats App-Gruppe ausdrückt.

Gumbrecht: Ich möchte noch etwas ganz Altmodisches fragen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass bei der physischen und taktischen Vorbereitung fast alles ausgereizt ist. Der Fado ist eine Kunstform der Stadt Lissabon, das portugiesische Äquivalent zum Flamenco. Könnten Sie sich denn vorstellen, solche Elemente, also den Besuch etwa einer Musikbar bei einem Auswärtsspiel etwa in Lissabon, in ihr Programm einzubauen?

Tuchel: Ich würde es lieben.

Gumbrecht: Und würden Sie denn auch denken, dass solche Erlebnisse ihre Spieler besser machen?

Tuchel: Sport kann man nicht vom Menschen trennen. Wir haben vorhin über Puyols Persönlichkeit gesprochen. Die Persönlichkeit bildet sich maßgeblich außerhalb des grünen Rechtecks aus. Wenn wir während der Vorbereitung ein Freundschaftsspiel in Tokio bestreiten und ich nicht einmal in die Stadt komme. Dann schäme ich mich. Das ist auch Ignoranz. Aus Respekt vor der Stadt, in der wir spielen, möchte ich mehr erfahren. Wissen Sie, wir waren in Porto, Lissabon, London und Warschau. Wir fliegen darein, Hotel, Trainingsplatz, Hotel, Spiel, Hotel und schnell wieder raus. Ich habe mir vorgenommen, mir nach den europäischen Auswärtsspielen so gegen Mitternacht eine Nachtführung zu organisieren. Schlafen kann ich nämlich sowieso nicht. Und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass so etwas einen Mehrwert für die Spieler darstellen würde.

Biermann: Das Seltsame im Leben von Spitzensportlern ist doch, dass man sehr früh im Leben einen Punkt erreicht hat, von dem aus Du die nächsten 50 Jahre nichts mehr machen wirst, was auch nur annähernd so gut oder so öffentlich ist. Es gibt großartige Spieler, die anschließend großartige Trainer werden. Einige werden Unternehmer. Aber für die allermeisten sind doch die besten, ruhmreichen und umjubelten Zeiten sehr früh vorbei.

Tuchel: Das wird immer so sein. Diese Identitätskrise des Spielers nach der Laufbahn ist Teil des Fußballs. Ich würde mir nur wünschen, dass er auch vom Verein Impulse bekommen hat, um von anderen Dingen außer dem Fußball fasziniert zu sein. Es ist wichtig, auf breiten Beinen zu stehen, wenn diese Krise kommt. Im Fußball wird manchmal an einem Rad gedreht…Tennisspieler müssen sich komplett selbst organisieren, müssen ihre Physiotherapeuten bezahlen. Wir waren mal bei den weltbesten Handballern in Kiel. Da haben die Olympiasieger und Weltmeister bei einer dreistündigen Auswärtsfahrt im Bus Brötchendienst gehabt, die haben also für alle die Brötchen geschmiert. Die haben ihre Videoanalyse in der Turnhalle gemacht. Da brauchst Du kein klimatisiertes Zentrum für. Das ist die Wahrheit. Und das haben wir komplett verlernt.

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