Siegenthaler: "Menschen verdrängen, dass Siege keine Selbstverständlichkeit sind"

Urs Siegenthaler ist Chefscout der deutschen Nationalmannschaft, Joachim Löw hat den Schweizer vor sieben Jahren zum DFB geholt. Seither sichtet er im Auftrag des DFB in aller Welt Fußballspiele, er wertet sie aus und überträgt die gewonnen Erkenntnisse ans Trainerteam. Das Spiel Deutschland gegen Österreich ist für den Schweizer etwas ganz Besonderes. Im DFB.de-Gespräch der Woche mit Redakteur Steffen Lüdeke spricht Siegenthaler über die deutsche Qualifikationsgruppe, die Stärken der Österreicher und seine Erkrankung während der EM in Polen und der Ukraine.

DFB.de: Herr Siegenthaler, die deutsche Gruppe in der WM-Qualifikation wird von vielen als leicht bezeichnet. Wie bewerten Sie diese Gruppe?

Siegenthaler: Wie bewerten Sie sie denn?

DFB.de: Machbar.

Siegenthaler: Und wissen Sie, wie die deutsche Bilanz gegen Schweden und Irland aussieht?

DFB.de: Nicht im Detail. Deutlich positiv?

Siegenthaler: Positiv ja, aber nicht deutlich. Gegen Schweden haben wir zwar 14 Mal gewonnen, wir haben aber auch acht Mal remis gespielt und sogar zwölf Mal verloren. Das ist fast ausgeglichen. Gegen die Iren ist es ähnlich. Sieben Siege, vier Rems und fünf Niederlagen. Es ist nicht so, dass die deutsche Mannschaft in der Vergangenheit gegen diese Länder nach Belieben gewonnen hätten.

DFB.de: Treffen solche historischen Daten eine Aussage für die Aktualität?



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Urs Siegenthaler ist Chefscout der deutschen Nationalmannschaft, Joachim Löw hat den Schweizer vor sieben Jahren zum DFB geholt. Seither sichtet er im Auftrag des DFB in aller Welt Fußballspiele, er wertet sie aus und überträgt die gewonnen Erkenntnisse ans Trainerteam. Das Spiel Deutschland gegen Österreich ist für den Schweizer etwas ganz Besonderes. Im DFB.de-Gespräch der Woche mit Redakteur Steffen Lüdeke spricht Siegenthaler über die deutsche Qualifikationsgruppe, die Stärken der Österreicher und seine Erkrankung während der EM in Polen und der Ukraine.

DFB.de: Herr Siegenthaler, die deutsche Gruppe in der WM-Qualifikation wird von vielen als leicht bezeichnet. Wie bewerten Sie diese Gruppe?

Siegenthaler: Wie bewerten Sie sie denn?

DFB.de: Machbar.

Siegenthaler: Und wissen Sie, wie die deutsche Bilanz gegen Schweden und Irland aussieht?

DFB.de: Nicht im Detail. Deutlich positiv?

Siegenthaler: Positiv ja, aber nicht deutlich. Gegen Schweden haben wir zwar 14 Mal gewonnen, wir haben aber auch acht Mal remis gespielt und sogar zwölf Mal verloren. Das ist fast ausgeglichen. Gegen die Iren ist es ähnlich. Sieben Siege, vier Rems und fünf Niederlagen. Es ist nicht so, dass die deutsche Mannschaft in der Vergangenheit gegen diese Länder nach Belieben gewonnen hätten.

DFB.de: Treffen solche historischen Daten eine Aussage für die Aktualität?

Siegenthaler: Nicht unbedingt, aber es zeigt doch, dass die Wahrnehmung verschieden ist. Die Gruppe ist alles andere als leicht. Schweden und Irland waren bei der Endrunde der EM dabei. Wir müssen aufpassen, das Niveau der Mannschaften ist ausgeglichen. Das kann zwar auch den Vorteil haben, dass die Teams sich untereinander die Punkte wegnehmen. Aber: Wir sind gut beraten, wenn wir Vorsicht walten lassen. Die Erwartungshaltung ist in Deutschland ist groß, die Menschen verdrängen gerne, dass Erfolge und Siege keine Selbstverständlichkeit sind.

DFB.de: In der EM-Qualifikation hat die deutschen Mannschaft aus zehn Spielen, zehn Siege geholt.

Siegenthaler: Das stimmt, aber es ist falsch, daraus einen Anspruch auf die WM-Qualifikation abzuleiten. Mir fehlt es oft an dem Respekt davor, was andere Nationen leisten und welche tollen Fußballer sie auf dem Feld haben. Das gilt nicht nur in unserer Gruppe. Nicht nur bei uns kommen Talente nach. Brasilien hat Oscar und Neymar als Beispiele, auch andere Nationen schlafen nicht. Das haben wir jetzt gegen Argentinien erlebt und davor ganz drastisch gegen Italien. Dort ist ein Wandel vor sich gegangen. Ich habe sie vor drei Jahren im Confed-Cup gesehen und danach zum Bundestrainer gesagt, dass Italien den Anschluss verloren hat. Keine Jugendspieler, keinen Nachwuchs, nichts. Und plötzlich ändert sich dort das Bild. Aufgrund der finanziellen Sorgen setzen die Vereine auf den eigenen Nachwuchs und bilden gut aus. Das hat schnell gewirkt. Beim letzten Supercup-Spiel in Italien standen fast 20 Italiener auf dem Feld, vor drei, vier Jahren konnte man in Italien beim einem Spiel Meister gegen Pokalsieger die Italiener auf dem Platz an einer Hand abzählen. Und auch die Gegner in unserer Gruppe sind nicht im Vorbeigehen zu schlagen. Das sicher nicht.

DFB.de: Dann gehen wir sie mal durch. Für wie gefährlich halten Sie die Iren. Mit Giovanni Trapatoni hat das Team einen sehr erfahrenen Trainer.

Siegenthaler: Unabhängig vom Trainer sind die Iren nie zu unterschätzen. Abgesehen von den individuellen Qualitäten der Spieler, eines werden die Iren immer können: Mit Leidenschaft und großer Bereitschaft Fußball spielen. Viele waren enttäuscht, dass sie jetzt in der WM-Qualifikation das Spiel gegen Kasachstan durch zwei späte Tore noch 2:1 gewonnen haben. Mich hat das gefreut.

DFB.de: Warum?

Siegenthaler: Die Iren sind umso gefährlicher, umso aussichtsloser die Konstellation scheint. Es hat auch immer etwas mit Glück zu tun, wenn Mannschaften Spiele noch spät drehen - aber auch mit Charakter. In der Historie der Iren kam es nicht selten vor, dass sie späte Tore geschossen haben. Ein Zufall ist das nicht. Hätten Sie in Kasachstan verloren, wäre das Spiel gegen uns im Oktober für sie schon beinahe ein Alles-oder-Nichts-Spiel gewesen. Mir ist es so lieber.

DFB.de: Bei Schweden denken viele vor allem an Zlatan Ibrahimovic. Woran denken Sie?

Siegenthaler: Ibrahimovic hat der Wechsel nach Frankreich zu Paris Saint Germain unglaublich gut getan. Schweden hatte immer gute Legionäre, die fußballerisch gut ausgebildet waren. Die Nationalmannschaft kann technisch guten Fußball spielen. Sie sind taktisch allerdings sehr auf die Ordnung im 4-4-2-System festgelegt. Das hat Vorteile, sie sind in diesem System aber auch gefangen. Es gibt Mannschaften, die eine größere Flexibilität in ihrer Spielanlage haben als Schweden. Aber auch in dieser Hinsicht hilft ihnen Ibrahimovic. Er hat dem Team eine gewisse Extravaganz gegeben, er lebt der Mannschaft vor, dass es in jedem System Individualisten geben kann. Sie haben gute Fußballer, jetzt trauen sie sich mehr, dies auch zu zeigen.

DFB.de: Ist das Spiel Deutschland gegen Österreich für Sie als Schweizer etwas Besonderes?

Siegenthaler: Das Spiel ist sportlich interessant, weil Österreich das Spiel so interessant macht.

DFB.de: Wie meinen Sie das?

Siegenthaler: In Österreich hat sich einiges getan. Sie haben den Trainer gewechselt. Sie haben mit Marcel Koller jetzt einen Schweizer Trainer, den ich sehr gut kenne, den ich sogar ausgebildet habe. Sie legen auf Disziplin, auf Ordnung und auf defensive Kompaktheit großen Wert. Damit haben sie die letzten drei Spiele ziemlich überzeugend gewonnen. Sie haben Finnland geschlagen, sie haben die Ukraine geschlagen und zuletzt die Türkei. Österreich ist sehr selbstbewusst und gegen uns total motiviert. Auch die Vorbereitung der Österreicher macht das Spiel speziell. Sie sind seit zehn Tagen zusammen, sie haben jeden Tag zwei Mal trainiert, insgesamt 15 Einheiten. In Österreich sagen viele mit Blick auf das Spiel gegen Deutschland: Wenn nicht jetzt, wann dann? Österreich hat eine gute Mannschaft, der neue Trainer hat es geschafft, ein neues Selbstbewusstsein und eine neue Atmosphäre in das Team zu bekommen. Zudem spielt Österreich sehr clever. Österreich spielt so, wie der Österreicher ist.

DFB.de: Und das bedeutet?

Siegenthaler: Im Grunde spielen sie mit österreichischen Charme. Sie üben sich nicht nur verbal, sondern auch auf dem Platz in Understatement. Ich will dafür ein Beispiel geben: Der Ballbesitz beim Sieg gegen die Türkei war 72 zu 28 Prozent für die Türkei. Die Österreicher wiegen den Gegner gerne in Sicherheit. Die Türkei war sicher, dass sie das Spiel gewinnen wird - sie haben 0:2 verloren. Das ist typisch für Österreich.

DFB.de: Eine Erkenntnis der EM-Analyse ist, dass sich die deutsche Mannschaft im Umschaltverhalten und im Vorwärtsverteidigen verbessern muss. Birgt diese Systemänderung, gerade, wenn sie noch nicht lange verinnerlicht ist, im Spiel gegen einen starken Gegner wie Österreich nicht auch Risiken?

Siegenthaler: Wenn wir einen Schritt nach vorne tun wollen, müssen wir dahin kommen, das wir auch nach Ballverlust die agierende Mannschaft sind. Unser Ziel muss es sein, dass sich der Gegner nach uns richtet, unabhängig davon, ob wir im Ballbesitz sind oder nicht. In diesen Sinneswandel müssen wir einiges investieren. Und es ist klar, dass das ein Prozess ist, der nicht von heute auf morgen stattfinden kann. Das impliziert natürlich ein gewisses Risiko.

DFB.de: Bei den Spielen der deutschen Mannschaft sind Sie selten im Stadion, weil Sie häufig die Spiele der Gegner beobachten. Gegen die Färöer waren Sie ausnahmsweise dabei. Wie war es für Sie, mal wieder im Stadion zu sein, wenn die deutsche Nationalmannschaft spielt?

Siegenthaler: Mir ist es nie recht, wenn ich unsere Spiele nicht sehen kann. Gegenüber den Trainern, den Spielern und den Mitgliedern des Betreuerstabes habe ich eine emotionale Verbundenheit - und immer wenn es um das Resultat der Arbeit geht, bin ich nicht dabei. Aber die berufliche Notwendigkeit ist nun einmal so, wie sie ist. Für mich war es deswegen richtig schön, wieder einmal dabei zu sein.

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DFB.de: Wenn Sie Fußballspiele schauen - achten Sie mehr auf individuelle oder mannschaftstaktische Dinge?

Siegenthaler: Ich schaue mir ein Fußballspiel anders an, als ein normaler Zuschauer. Zu meiner Vorbereitung gehört, dass ich mir bewusst werde, was ich bei der jeweiligen Mannschaft sehen will. Wenn man nach Spanien geht, ist es überflüssig zu schauen, ob die Spieler gute Fußballer sind. Das gilt auch für Frankreich, auch für Italien oder die Niederlande. In meinem Empfinden gibt es aber große Unterschiede, wie die Mannschaften vor fünf und vor drei Jahren gespielt haben und wie sie aktuell spielen. In meinen Beobachtungen geht es oft um die Entwicklung von Spielstilen der Mannschaften.

DFB.de: Wie viele Spiele schauen Sie sich in einem durchschnittlichen Monat an?

Siegenthaler: Die Zahl weiß ich nicht, das kann man pauschal nicht sagen. Ich vertrete ohnehin die These, dass man zu viele Spiele sehen kann. Man kann das Hirn überladen an Fußballspielen, so wie man sich als Mensch mit Süßigkeiten und Teigwaren überladen kann. Ich könnte mir jeden Tag ein, zwei oder mehrere Fußballspiele anschauen. Aber wenn es zu viel ist, beginne ich am nächsten Tag zu zweifeln, welche Spiele ich am Vortag gesehen habe. Wenn es zu viel wird, kann man irgendwann völlig desorientiert sein und dann gar nicht mehr wissen, was guter Fußball ist. Wenn es nach der Lust am Fußball ginge, würde ich mir viel mehr Spiele anschauen, aber ich habe erkannt, dass das nicht sinnvoll ist.

DFB.de: Bei der EM haben Sie wegen eines Hörsturzes gefehlt...

Siegenthaler: Ich habe mich selbst ein bisschen überschätzt. Es war wirklich sehr viel. Die Arbeit ist mit der Beobachtung des Spiels ja nicht getan. Man muss das Spiel dann sezieren und auswerten.

DFB.de: Wie schlimm war es für Sie, nicht in Polen und der Ukraine dabei gewesen zu sein?

Siegenthaler: Der Verlauf der Krankheit hat mich geschmerzt. Ich bin eigentlich mit einer Lappalie ins Krankenhaus gegangen. Einen Hörsturz können auch 19-Jährige haben, das hat mit dem Alter nichts zu tun. Zu Beginn haben mir die Ärzte gesagt, dass das nach drei, vier Tagen wieder in Ordnung kommt und ich dann wieder zurück zum Team kann. Leider hat es sich nicht so entwickelt, wie wir uns das vorgestellt hatten. Ich sollte dann noch mal drei oder vier Tage dableiben. Auch danach war es nicht besser. Und so ging es immer weiter.

DFB.de: Wie viel Kontakt hatten Sie während des Turniers zu den Trainern?

Siegenthaler: Die Trainer haben sich natürlich Sorgen gemacht. Es war für mich wahnsinnig schwierig, damit umzugehen und Ihnen zu vermitteln, dass ich als Krankheit eine Lappalie hatte. Das Problem war, dass durch den Hörsturz mein Gleichgewichtssinn ausgefallen ist. Man ist dann wie ein kleines Kind und muss viele Dinge neu lernen. Ich konnte nicht vom Bett aufstehen, ich konnte keine Treppen steigen. Es ging einfach nicht. Aber natürlich hatte ich Kontakt zu den Trainern. Ich habe viel diktiert, meine Frau hat es geschrieben und an den Bundestrainer und an Hansi geschickt.

DFB.de: Das Halbfinale wird für die Heilung nicht förderlich gewesen sein...

Siegenthaler: Es hat wehgetan, natürlich. Das Ausscheiden im Halbfinale war schlimm. Mir geht es ja nicht anders, als vielen Fans zu Hause: Man ist arrogant und ungerecht und überschätzt sich bildet sich ein: Mit mir wäre das nicht passiert. (lacht) Das ist natürlich hypothetisch. Aber vielleicht wäre ich es eines der kleinen Rädchen gewesen, dass... So denkt man halt. Und dann wird man selbstmitleidig, man liegt im Spitalbett und denkt: "Warum muss das gerade mir passieren?!"