Per Mertesacker: Der Tower von London

Alles größer, alles bunter, alles schön, na gut, fast alles. Per Mertesacker ist in der britischen Hauptstadt heimisch geworden. Fußballerisch beim FC Arsenal, privat im Stadtteil Hampstead. Okay, das Wetter sei etwas schlechter als daheim in Hannover, wo es auch nicht gerade tropisch ist, aber sonst, sagt er, fühlt er sich wohl. Zumal es auch sportlich gerade richtig gut läuft für den langen Abwehrspieler.

Der freie Journalist Raphael Honigstein hat sich vor dem ersten deutschen WM-Qualifikationsspiel heute (ab 20.45 Uhr, live im ZDF) in "seinem" ehemaligen Hannoveraner Stadion gegen die Färöer mit Mertesacker in dessen neuer Heimat getroffen.

Der Stau ist neu

Per Mertesackers Arbeitsweg in London führt an der afrikanischen Steppe und dem Regenwald vorbei. Im Rückspiegel kann er manchmal sogar noch ein paar Kahlkopfgeier und Giraffen erspähen: Es ist eine abwechslungsreiche, aber manchmal auch sehr lange Fahrt von seiner Wohnung im Nordwesten der Stadt vorbei am Zoo im Regent’s Park zum Emirates Stadion. „In Bremen und Hannover war ich in 15 Minuten überall”, erinnert der 27-Jährige sich mit einer Spur von Wehmut. „Hier kann man schon mal ein, zwei Stunden im Stau stehen.”

In der ständig verstopften, hektischen Acht-Millionen-Metropole von A nach B zu kommen, ist tatsächlich nicht so leicht, selbst wenn man vom Linksverkehr und dem labyrinthartigen Straßennetzwerk einmal absieht. London ist keine Stadt, die es seinen Bewohnern einfach macht, Zugereisten schon gar nicht. Mertesacker ahnte, dass nach seinem Last-Minute-Wechsel von Werder Bremen zum FC Arsenal im August 2011 ein „Abenteuer” auf ihn und seine junge Familie zukommen würde. Er bestand jedoch darauf, sich weitgehend alleine einen Weg durch das urbane Dickicht an der Themse zu schlagen.

Auf eigenen Beinen

„Natürlich hatten wir am Anfang ein bisschen Hilfe von Arsenal“, erzählt er über seine Ankunft auf der Insel. „Aber wir brauchen kein Kindermädchen, das auf uns aufpasst. Wir hatten den Ehrgeiz, in der neuen Situation und mit der Sprache zurechtzukommen. Diese Erfahrungen wollten wir unbedingt machen. Wenn man sich selbst immer wieder um die Dinge kümmert, erweitert man seinen Wortschatz. Man lernt neue Vokabeln, die Wohnungen betreffen oder Rechnungen oder Anmeldungen bei der Stadtverwaltung.” Vielen Fußballprofis – und auch Normalbürgern – wäre dieser Kampf mit der Alltagsbürokratie an einem fremden Ort ein Graus. Mertesacker aber sieht die Integration als Teil der sportlichen Herausforderung. „Es macht Spaß, in dieses Leben richtig reinzukommen und sich an die vielen kleinen Unterschiede zu gewöhnen“, sagt er. „Ich genieße das.“

Man glaubt es ihm sofort. Ein gutes Jahr nach seinem Umzug spricht er ein feines Englisch, die Entdeckungsreise durch London, die Stadt der unendlichen Möglichkeiten und Angebote, hat aber gerade erst angefangen. Zu Beginn hatte er mit Freundin Ulrike und Baby Paul auf Anraten des Vereins ein Haus in Hampstead Garden Suburb bezogen; ein gutbürgerlicher, aber auch ziemlich langweiliger Vorort, mit anderen Worten: ein Fehler. Die junge Familie fühlte sich in der grünen Idylle isoliert, man musste ins Auto steigen, um zum nächsten Café zu kommen.

Podolski als Nachbar

Nach Weihnachten zogen sie deshalb eine Ecke weiter südlich, nach Hampstead. In dem früheren Bohème-Viertel der Dichter (Charles Dickens, Agatha Christie), Maler (Lucian Freud) und Architekten (Walter Gropius) ist das Tempo langsamer, der märchenhaft-schöne „Hampstead Heath“-Park, in dem einst Karl Marx lustwandelte, macht zudem die Luft besser. Hier fanden die Mertesackers auch sozialen Anschluss. „Man zieht die Kontakte nicht unbedingt aus dem Fußball, sondern aus der Krabbelgruppe oder vom Babyschwimmen“, sagt er, neulich hätten ihn die Nachbarn zum Essen eingeladen. Das Glück war perfekt, als seine Freundin, die in Deutschland beim HC Leipzig Profi war, nach längerer Suche auch eine Londoner Handball-Mannschaft fand.

Neu-Gunner Lukas Podolski gefällt es zwischen den viktorianischen Puppenhäusern und Kopfsteinpflasterstraßen in Hampstead ebenfalls sehr gut. Der ehemalige Kölner hat sich in der unmittelbaren Nachbarschaft von Mertesacker niedergelassen und bildet mit dem Kollegen aus Verein und Nationalmannschaft seit diesem Sommer öfters eine Fahrgemeinschaft zum Trainingszentrum in London-Colney. „Und er besteht nicht darauf, dass die Höhner im Auto laufen”, sagt Mertesacker und lacht. „Lukas ist da zum Glück liberal.”

Sightseeing nur mit den Verwandten

London ist so groß und sein Puls so irrwitzig schnell, dass Eingesessene sich meistens nur in bestimmten Gegenden rund um den Arbeitsplatz und Wohnort bewegen. Auch Mertesacker hat es in dreizehn Monaten „keine zehnmal” in die Innenstadt geschafft, sein Leben spielt sich hauptsächlich im Nordwesten ab. „Am Anfang, als die Freunde und Verwandten kamen, sind wir mit ihnen die Sehenswürdigkeiten – Big Ben, Tower Bridge und so weiter – anschauen gegangen, aber diese harte Tour schaffst du nur ein paar Mal”, sagt er.

Das war in seiner Heimatstadt Hannover natürlich anders: „Dort kannte ich alles, jede Ecke und jeden, und man kannte auch mich überall.“ Stets zurückhaltend und respektvoll sei man mit ihm dort umgegangen, betont er; in London lässt man ihn allerdings noch mehr in Ruhe. „Obwohl der Bekanntheitsgrad wächst, erkennt dich nicht jeder”, erzählt er. „Und selbst wenn man dich erkennt, halten die Leute die Distanz. Sie sind größere Stars gewöhnt, glaube ich. Man kann sich freier bewegen.” Frühere England-Profis wie Jens Lehmann oder Michael Ballack hatten die gleiche Erfahrung gemacht, allerdings straft der Abend mit „DFB-aktuell” in einem stimmungsvollen Pub-Restaurant in Hampstead Mertesacker am Ende doch ein wenig Lügen. Ein Mann kommt zögerlich an den Tisch und fragt unendlich höflich, ob er vielleicht ein Handy-Foto mit ihm machen könne? Er sei ein riesiger Arsenal-Fan.

Fünf Erstligisten in einer Stadt

Mertesacker hat sich noch nicht an solche Erlebnisse gewöhnt, sie sind noch nicht Routine für ihn. Auf die Frage, wie seine Wahlheimat auf ihn wirkt, hat er so auch noch keine fertige Antwort parat. Das Essen sei bedeutend besser, das Wetter eher nicht, soviel weiß er schon, immerhin. „Man macht so viele Erfahrungen, dass man das alles nach einem Jahr noch nicht Revue passieren lässt”, sagt er, „vielleicht kann ich das nach der Karriere besser reflektieren. Bis dahin versuche ich, jeden Moment mitzunehmen.”

Und aufregende Augenblicke liefert die Stadt, die allein fünf Erstligisten aufweist, im Akkord. „Das erste Mal auf dem Rasen im Emirates-Stadion zu stehen, Auswärtsspiele in Stadien wie Anfield (vom FC Liverpool), das Flair von Fußball an Weihnachten – man kommt aus den besonderen Momenten gar nicht raus”, sagt Mertesacker. „Man kann sich gar nicht vorstellen wie der Fußball hier geliebt wird und wie ihn die Stadt lebt. Ich weiß heute schon, dass ich diesen Schritt immer wieder tun würde.” Heimweh habe er trotz der Verbundenheit zu Hannover „noch nicht”, es gäbe auch nichts, was er vermisse. „Dadurch, dass die Eltern oft zu Besuch kommen, bekommt man die deutschen Kochkünste immer wieder geliefert“, sagt er.

Hart, aber fair

London sei, ähnlich wie der Fußball, hart aber fair mit ihm, fügt er hinzu, „man versucht, mit seinem ehrlichen Fußball anzukommen, du bekommst immer ehrliches Feedback“. Bei Auswärtsspielen würde man noch stärker ausgebuht als in Deutschland, aber es gäbe auch schon mal respektvollen Applaus von den gegnerischen Fans. Beim eigenen Anhang erfreut er sich sowieso zunehmender Beliebtheit. Der Saisonauftakt verlief mit drei Partien ohne Gegentor glänzend für ihn, 88 Jahre lang war Arsenal nicht mit einer derart starken Defensive in die Liga gestartet. Als „herausragend” lobte ihn Sky-Experte Jamie Redknapp beispielsweise nach dem 0:0 bei den Hoch-und-weit-Spezialisten von Stoke City, Mertesacker habe „sein bestes Spiel in einem Arsenal-Trikot gemacht”. Man dürfe dem Trainer eben keinen Grund geben, einen draußen zu lassen, sagt er, nicht ohne Stolz.

Der positive Verlauf der jungen Spielzeit steht im Gegensatz zu einem Halbjahr der Rückschläge. Mertesacker hatte nach einer anspruchsvollen Phase der Akklimatisierung seine Leistungen nach Weihnachten stabilisiert, als eine Knöchelverletzung im Februar ihn den Rest der Saison kostete. Die Europameisterschaft erlebte er ebenfalls als Zuschauer – eine völlig neue Situation für den Innenverteidiger, der seit der WM 2006 in den Turnieren für Deutschland stets gesetzt war. „Klar war das für mich bitter”, sagt er. „Ich hatte ja immer das Glück gehabt, dass ich spielen durfte. Man lernt sich in so einem Moment selbst ganz neu kennen, und versteht auch, wie sich andere Kollegen gefühlt haben müssen. Man muss den Teamgedanken auch in so einer Lage leben.”

Erfahrungen des EM-Sommers gut verarbeitet

Mit dem ihm eigenen Optimismus hat er es zwischenzeitlich geschafft, die Enttäuschung des Sommers als charakterbildende Erfahrung und heimlichen Vorteil umzudeuten. „Ich konnte erstmals gesund in den Urlaub gehen, weil ich die Turnierbelastung nicht hatte. Das habe ich genossen”, sagt er. Davon profitiere er nun. „Man sucht sich eben die guten Sachen raus, vielleicht ist das auch ein Schutzmechanismus.” Solche geistigen Umwege muss er bei der Beurteilung der aktuellen Situation zum Glück nicht machen. Gänzlich angekommen ist Per Mertesacker zwar noch nicht in London, aber das schaffen in dieser unerbittlich schnellen Stadt auch nach 20 Jahren sowieso nur die wenigsten. Viel wichtiger ist, dass es entscheidend vorangeht.

„Ich bin froh, dass ich in dieser Saison so gut Fuß fassen konnte bei Arsenal”, sagt er. „So kann es weitergehen, so wünsche ich mir das.” Natürlich auch im Hinblick auf die Nationalmannschaft.

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Alles größer, alles bunter, alles schön, na gut, fast alles. Per Mertesacker ist in der britischen Hauptstadt heimisch geworden. Fußballerisch beim FC Arsenal, privat im Stadtteil Hampstead. Okay, das Wetter sei etwas schlechter als daheim in Hannover, wo es auch nicht gerade tropisch ist, aber sonst, sagt er, fühlt er sich wohl. Zumal es auch sportlich gerade richtig gut läuft für den langen Abwehrspieler.

Der freie Journalist Raphael Honigstein hat sich vor dem ersten deutschen WM-Qualifikationsspiel heute (ab 20.45 Uhr, live im ZDF) in "seinem" ehemaligen Hannoveraner Stadion gegen die Färöer mit Mertesacker in dessen neuer Heimat getroffen.

Der Stau ist neu

Per Mertesackers Arbeitsweg in London führt an der afrikanischen Steppe und dem Regenwald vorbei. Im Rückspiegel kann er manchmal sogar noch ein paar Kahlkopfgeier und Giraffen erspähen: Es ist eine abwechslungsreiche, aber manchmal auch sehr lange Fahrt von seiner Wohnung im Nordwesten der Stadt vorbei am Zoo im Regent’s Park zum Emirates Stadion. „In Bremen und Hannover war ich in 15 Minuten überall”, erinnert der 27-Jährige sich mit einer Spur von Wehmut. „Hier kann man schon mal ein, zwei Stunden im Stau stehen.”

In der ständig verstopften, hektischen Acht-Millionen-Metropole von A nach B zu kommen, ist tatsächlich nicht so leicht, selbst wenn man vom Linksverkehr und dem labyrinthartigen Straßennetzwerk einmal absieht. London ist keine Stadt, die es seinen Bewohnern einfach macht, Zugereisten schon gar nicht. Mertesacker ahnte, dass nach seinem Last-Minute-Wechsel von Werder Bremen zum FC Arsenal im August 2011 ein „Abenteuer” auf ihn und seine junge Familie zukommen würde. Er bestand jedoch darauf, sich weitgehend alleine einen Weg durch das urbane Dickicht an der Themse zu schlagen.

Auf eigenen Beinen

„Natürlich hatten wir am Anfang ein bisschen Hilfe von Arsenal“, erzählt er über seine Ankunft auf der Insel. „Aber wir brauchen kein Kindermädchen, das auf uns aufpasst. Wir hatten den Ehrgeiz, in der neuen Situation und mit der Sprache zurechtzukommen. Diese Erfahrungen wollten wir unbedingt machen. Wenn man sich selbst immer wieder um die Dinge kümmert, erweitert man seinen Wortschatz. Man lernt neue Vokabeln, die Wohnungen betreffen oder Rechnungen oder Anmeldungen bei der Stadtverwaltung.” Vielen Fußballprofis – und auch Normalbürgern – wäre dieser Kampf mit der Alltagsbürokratie an einem fremden Ort ein Graus. Mertesacker aber sieht die Integration als Teil der sportlichen Herausforderung. „Es macht Spaß, in dieses Leben richtig reinzukommen und sich an die vielen kleinen Unterschiede zu gewöhnen“, sagt er. „Ich genieße das.“

Man glaubt es ihm sofort. Ein gutes Jahr nach seinem Umzug spricht er ein feines Englisch, die Entdeckungsreise durch London, die Stadt der unendlichen Möglichkeiten und Angebote, hat aber gerade erst angefangen. Zu Beginn hatte er mit Freundin Ulrike und Baby Paul auf Anraten des Vereins ein Haus in Hampstead Garden Suburb bezogen; ein gutbürgerlicher, aber auch ziemlich langweiliger Vorort, mit anderen Worten: ein Fehler. Die junge Familie fühlte sich in der grünen Idylle isoliert, man musste ins Auto steigen, um zum nächsten Café zu kommen.

Podolski als Nachbar

Nach Weihnachten zogen sie deshalb eine Ecke weiter südlich, nach Hampstead. In dem früheren Bohème-Viertel der Dichter (Charles Dickens, Agatha Christie), Maler (Lucian Freud) und Architekten (Walter Gropius) ist das Tempo langsamer, der märchenhaft-schöne „Hampstead Heath“-Park, in dem einst Karl Marx lustwandelte, macht zudem die Luft besser. Hier fanden die Mertesackers auch sozialen Anschluss. „Man zieht die Kontakte nicht unbedingt aus dem Fußball, sondern aus der Krabbelgruppe oder vom Babyschwimmen“, sagt er, neulich hätten ihn die Nachbarn zum Essen eingeladen. Das Glück war perfekt, als seine Freundin, die in Deutschland beim HC Leipzig Profi war, nach längerer Suche auch eine Londoner Handball-Mannschaft fand.

Neu-Gunner Lukas Podolski gefällt es zwischen den viktorianischen Puppenhäusern und Kopfsteinpflasterstraßen in Hampstead ebenfalls sehr gut. Der ehemalige Kölner hat sich in der unmittelbaren Nachbarschaft von Mertesacker niedergelassen und bildet mit dem Kollegen aus Verein und Nationalmannschaft seit diesem Sommer öfters eine Fahrgemeinschaft zum Trainingszentrum in London-Colney. „Und er besteht nicht darauf, dass die Höhner im Auto laufen”, sagt Mertesacker und lacht. „Lukas ist da zum Glück liberal.”

Sightseeing nur mit den Verwandten

London ist so groß und sein Puls so irrwitzig schnell, dass Eingesessene sich meistens nur in bestimmten Gegenden rund um den Arbeitsplatz und Wohnort bewegen. Auch Mertesacker hat es in dreizehn Monaten „keine zehnmal” in die Innenstadt geschafft, sein Leben spielt sich hauptsächlich im Nordwesten ab. „Am Anfang, als die Freunde und Verwandten kamen, sind wir mit ihnen die Sehenswürdigkeiten – Big Ben, Tower Bridge und so weiter – anschauen gegangen, aber diese harte Tour schaffst du nur ein paar Mal”, sagt er.

Das war in seiner Heimatstadt Hannover natürlich anders: „Dort kannte ich alles, jede Ecke und jeden, und man kannte auch mich überall.“ Stets zurückhaltend und respektvoll sei man mit ihm dort umgegangen, betont er; in London lässt man ihn allerdings noch mehr in Ruhe. „Obwohl der Bekanntheitsgrad wächst, erkennt dich nicht jeder”, erzählt er. „Und selbst wenn man dich erkennt, halten die Leute die Distanz. Sie sind größere Stars gewöhnt, glaube ich. Man kann sich freier bewegen.” Frühere England-Profis wie Jens Lehmann oder Michael Ballack hatten die gleiche Erfahrung gemacht, allerdings straft der Abend mit „DFB-aktuell” in einem stimmungsvollen Pub-Restaurant in Hampstead Mertesacker am Ende doch ein wenig Lügen. Ein Mann kommt zögerlich an den Tisch und fragt unendlich höflich, ob er vielleicht ein Handy-Foto mit ihm machen könne? Er sei ein riesiger Arsenal-Fan.

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Fünf Erstligisten in einer Stadt

Mertesacker hat sich noch nicht an solche Erlebnisse gewöhnt, sie sind noch nicht Routine für ihn. Auf die Frage, wie seine Wahlheimat auf ihn wirkt, hat er so auch noch keine fertige Antwort parat. Das Essen sei bedeutend besser, das Wetter eher nicht, soviel weiß er schon, immerhin. „Man macht so viele Erfahrungen, dass man das alles nach einem Jahr noch nicht Revue passieren lässt”, sagt er, „vielleicht kann ich das nach der Karriere besser reflektieren. Bis dahin versuche ich, jeden Moment mitzunehmen.”

Und aufregende Augenblicke liefert die Stadt, die allein fünf Erstligisten aufweist, im Akkord. „Das erste Mal auf dem Rasen im Emirates-Stadion zu stehen, Auswärtsspiele in Stadien wie Anfield (vom FC Liverpool), das Flair von Fußball an Weihnachten – man kommt aus den besonderen Momenten gar nicht raus”, sagt Mertesacker. „Man kann sich gar nicht vorstellen wie der Fußball hier geliebt wird und wie ihn die Stadt lebt. Ich weiß heute schon, dass ich diesen Schritt immer wieder tun würde.” Heimweh habe er trotz der Verbundenheit zu Hannover „noch nicht”, es gäbe auch nichts, was er vermisse. „Dadurch, dass die Eltern oft zu Besuch kommen, bekommt man die deutschen Kochkünste immer wieder geliefert“, sagt er.

Hart, aber fair

London sei, ähnlich wie der Fußball, hart aber fair mit ihm, fügt er hinzu, „man versucht, mit seinem ehrlichen Fußball anzukommen, du bekommst immer ehrliches Feedback“. Bei Auswärtsspielen würde man noch stärker ausgebuht als in Deutschland, aber es gäbe auch schon mal respektvollen Applaus von den gegnerischen Fans. Beim eigenen Anhang erfreut er sich sowieso zunehmender Beliebtheit. Der Saisonauftakt verlief mit drei Partien ohne Gegentor glänzend für ihn, 88 Jahre lang war Arsenal nicht mit einer derart starken Defensive in die Liga gestartet. Als „herausragend” lobte ihn Sky-Experte Jamie Redknapp beispielsweise nach dem 0:0 bei den Hoch-und-weit-Spezialisten von Stoke City, Mertesacker habe „sein bestes Spiel in einem Arsenal-Trikot gemacht”. Man dürfe dem Trainer eben keinen Grund geben, einen draußen zu lassen, sagt er, nicht ohne Stolz.

Der positive Verlauf der jungen Spielzeit steht im Gegensatz zu einem Halbjahr der Rückschläge. Mertesacker hatte nach einer anspruchsvollen Phase der Akklimatisierung seine Leistungen nach Weihnachten stabilisiert, als eine Knöchelverletzung im Februar ihn den Rest der Saison kostete. Die Europameisterschaft erlebte er ebenfalls als Zuschauer – eine völlig neue Situation für den Innenverteidiger, der seit der WM 2006 in den Turnieren für Deutschland stets gesetzt war. „Klar war das für mich bitter”, sagt er. „Ich hatte ja immer das Glück gehabt, dass ich spielen durfte. Man lernt sich in so einem Moment selbst ganz neu kennen, und versteht auch, wie sich andere Kollegen gefühlt haben müssen. Man muss den Teamgedanken auch in so einer Lage leben.”

Erfahrungen des EM-Sommers gut verarbeitet

Mit dem ihm eigenen Optimismus hat er es zwischenzeitlich geschafft, die Enttäuschung des Sommers als charakterbildende Erfahrung und heimlichen Vorteil umzudeuten. „Ich konnte erstmals gesund in den Urlaub gehen, weil ich die Turnierbelastung nicht hatte. Das habe ich genossen”, sagt er. Davon profitiere er nun. „Man sucht sich eben die guten Sachen raus, vielleicht ist das auch ein Schutzmechanismus.” Solche geistigen Umwege muss er bei der Beurteilung der aktuellen Situation zum Glück nicht machen. Gänzlich angekommen ist Per Mertesacker zwar noch nicht in London, aber das schaffen in dieser unerbittlich schnellen Stadt auch nach 20 Jahren sowieso nur die wenigsten. Viel wichtiger ist, dass es entscheidend vorangeht.

„Ich bin froh, dass ich in dieser Saison so gut Fuß fassen konnte bei Arsenal”, sagt er. „So kann es weitergehen, so wünsche ich mir das.” Natürlich auch im Hinblick auf die Nationalmannschaft.