Marcel Neuer: "Wichtig ist immer die Kommunikation"

Sein Bruder ist der beste Torhüter in der Familie Neuer, er selbst ist der beste Schiedsrichter. Marcel Neuer hat einen grundverschiedenen Lebensweg eingeschlagen als Deutschlands Nummer eins. Während Manuel Neuer in der Bundesliga und in der Champions League sowie bei Welt- und Europameisterschaften zuhause ist, studiert Marcel Neuer katholische Theologie.

Dem Fußball sind sie durch verschiedene Blickwinkel verbunden - Manuel ist Torhüter, Marcel Schiedsrichter. Mittlerweile amtiert er auch als Lehrwart. Über Sorgen und Nöte aber auch über den Spaß am Pfeifen hat Marcel Neuer im Interview mit DFB.de-Redakteur Steffen Lüdeke gesprochen.

DFB.de: Herr Neuer, wer ist für Sie der beste Fußballer der Welt?

Marcel Neuer: Das ist schwierig. Für mich ist dabei weniger entscheidend, wer wie viele Tore schießt. Oft werden Messi und Ronaldo genannt. Ich sehe das anders. Ich schätze Spieler höher ein, die einen größeren Einfluss auf das Spielgeschehen haben, Spieler, die einen Plan im Kopf haben. So wie beispielsweise Andres Iniesta. Es imponiert mir, wie er ein Spiel lesen kann.

DFB.de: Bei der Frage nach dem besten Torhüter dürfte Ihnen die Antwort leichter fallen.

Neuer: Nicht unbedingt. Ich sträube mich dagegen, jetzt sofort meinen Bruder zu nennen. Es ist ganz klar, dass er zu den Besten der Welt gehört, aber es gibt noch viele andere, die ebenfalls fantastische Leistungen bringen. Es steht mir nicht zu, da eine Rangfolge festzulegen, da gibt es genug andere, die meinen, dazu berufen zu sein.

DFB.de: Und wer ist für Sie der beste Schiedsrichter der Welt?

Neuer: Auch das finde ich schwierig. (überlegt) Es gibt ja einige Schiedsrichter, die im Rampenlicht stehen. Aber daneben gibt es ganz viele Schiedsrichter, die 40 Jahre lang auf Kreisebene pfeifen und Woche für Woche auf dem Platz stehen und ihre Aufgaben erfüllen. Diesen Schiedsrichtern gebührt mindestens genau so viel Respekt und Anerkennung, wie den wenigen, die es bis an die Spitze geschafft haben. Ganz oben pfeifen die qualifiziertesten Schiedsrichter, aber die Leistungen an der Basis sind für den Fußball nicht weniger wert.

Ich bin gerne Schiedsrichter, weil...

DFB.de: Warum Sind Sie eigentlich Schiedsrichter geworden?

Neuer: Weil ich dem Fußball verfallen bin. Es ist eine Sportart, die mir sehr viel Spaß macht. Meine technischen Fähigkeiten im Umgang mit dem Ball sind leider sehr begrenzt. Als ich das eingesehen hatte, habe ich mir gesagt, "komm, dann wirst du Schiedsrichter". Für mich war das eine tolle Möglichkeit, den Fußball noch von einer anderen Seite kennen zu lernen.

DFB.de: Zuletzt wurde häufig über Gewalt gegen Schiedsrichter berichtet. Haben Sie auch schon Erfahrungen mit Gewalt machen müssen?

Neuer: Leider ja. Aber zum Glück hat es sich im Rahmen gehalten. Insbesondere in meinen Anfangszeiten, als ich 16, 17 Jahre alt war, habe ich es erlebt, dass Trainer und Eltern außerhalb des Platzes viel Theater gemacht haben. Das gipfelte einmal darin, dass nach dem Spiel ein Familienangehöriger eines Spielers zu mir in die Schiedsrichter-Kabine gekommen ist und mir eine Ohrfeige verpasst hat.

DFB.de: Wie ging es dann weiter, wie haben Sie die Situation gelöst?

Neuer: So dramatisch war es ja nicht. Ich hatte keine Gehirnerschütterung, auch keine Hämatome oder so. Auf der Sportanlage haben damals mehrere Jugendspiele stattgefunden, so dass wir mit mehreren Schiedsrichtern vor Ort waren. Mir sind die Kollegen zur Seite gesprungen. Einer der Kollegen ist körperlich sehr viel kräftiger als ich, der hat den "Angreifer" dann weggedrückt und der Kabine verwiesen. Ich habe den Vorfall im Spielbericht festgehalten. Es gab eine Spruchkammersitzung, weil der Angreifer auch Spieler war. Er wurde dann gesperrt. Zivilrechtlich und strafrechtlich habe ich nichts unternommen, weil er sich später sehr reuig gezeigt und sich aufrichtig und offiziell bei mir entschuldigt hat. Ich wollte das auch nicht zu hoch hängen. Es war eine Ohrfeige, schlimm, aber andere Kollegen haben viel Schlimmeres erleben müssen.

DFB.de: Haben Sie auch den Eindruck, dass die Gewalt zugenommen hat. Oder hat nur die Berichterstattung zugenommen?

Neuer: Ich muss leider sagen, dass ich glaube, dass es tatsächlich mehr Vorfälle gibt. Wir reden immer noch von Einzelfällen, aber ich fürchte schon, dass es eine Häufung gibt. Wir haben schon vor zwei Jahren bei uns im Kreis in Gelsenkirchen mit den Vereinsvertretern ein Gespräch geführt. Wir hatten feststellen müssen, dass wir viel zu viele Spielabbrüche haben, viel zu viele Rote Karten und viel zu viele Spruchkammersitzungen. Dagegen wollten wir angehen. Damals war ein Deeskalationsbeauftragter dabei, der hat darauf gedrungen, dass die Kommunikation zwischen Vereinen und Schiedsrichtern verbessert wird. Da hat sich auch einiges getan. Aber wenn man heute auf die Statistik schaut, dann stellen wir fest, dass leider keine Verbesserung eingetreten ist. Im Gegenteil, die Zahl der Spielabbrüche und Roten Karten ist gestiegen.

DFB.de: In den Niederlanden wurde ein Linienrichter von Jugendlichen totgeprügelt. Was haben Sie gedacht, als Sie von diesem Verbrechen gehört haben?

Neuer: Dass das nicht wahr sein kann. Ich war fassungslos. Die Spiele auf Amateurebene sind Hobbyspiele, das soll Spaß machen. Es ist unglaublich, dass so etwas passieren kann.

DFB.de: Gehen Sie dennoch ohne Angst und mit derselben Freude auf den Platz?

Neuer: Ja. Ich fahre nie mit irgendwelchen negativen Gedanken oder mit einem mulmigen Gefühl zu meinen Spielen. Ich kann mittlerweile auf eine gewisse Erfahrung zurückblicken. Deshalb weiß ich, dass es fast nie größere Zwischenfälle gibt. Es kommt vielleicht bei einem von 100 Spielen zu einer brenzligen Situation, aber ich habe gelernt, damit umzugehen und die Dinge zu regeln. Aber ich kann verstehen, dass es bei jüngeren Kollegen anders ist. Einen größeren Erfahrungsschatz und ein dickeres Fell muss man sich erwerben.

DFB.de: Lutz Michael Fröhlich, der Abteilungsleiter Schiedsrichter beim DFB, sagt, dass die Schiedsrichtergruppe gefordert ist, wenn ein Schiedsrichter Opfer von Gewalt wurde. Wird das bei Ihnen so gelebt?

Neuer: Ja, wir versuchen das. Ich bin seit Mai dieses Jahres Lehrwart in unserer Schiedsrichtergruppe. Dabei setze ich sehr auf Dialog und Austausch. Mir widerstrebt es, vorne im Seminarraum Frontalunterricht zu geben. Mir ist es wichtig, dass wir nah an der Praxis sind. Deswegen lasse ich meine Schiedsrichter immer von ihren Erfahrungen berichten. Ich will wissen, was sie beschäftigt. Die Szenen aus der Bundesliga sind hilfreich, um eine einheitliche Bewertung von Zweikämpfen zu erreichen. Genauso wichtig ist es aber, zu wissen, was auf den Ascheplätzen in Gelsenkirchen abgeht. Bei welcher Mannschaft gab es Probleme, welche Spielertypen muss man besonders im Auge behalten? Das ist unser tägliches Geschäft. Ich habe mir deswegen vorgenommen, dass wir auf den Schulungsabenden immer Raum haben, über die tatsächlichen Probleme der Schiedsrichter zu reden und uns nicht nur die ganze Zeit mit Regelfragen befassen.

DFB.de: Aus welcher Motivation heraus haben Sie die Aufgabe des Lehrwartes übernommen?

Neuer: Es war so, dass ich vom Vorsitzenden des Schiedsrichterausschusses des Kreises Gelsenkirchen gefragt worden bin, ob ich diese Aufgabe übernehmen will. Ich habe zugestimmt, ganz einfach, weil ich mir es zutraue. Ich habe bei den Regeltests immer gut abgeschnitten und fühle mich auch menschlich dieser Aufgabe gewachsen. Ich finde es spannend, junge Schiedsrichter an meinem Erfahrungsschatz teilhaben zu lassen. Mir macht es Spaß, gemeinsam mit anderen Menschen, Dinge zu entwickeln.

DFB.de: Wie erleben Sie die Schiedsrichter-Anwärter? Wie regelfest sind diese, wie motiviert sind sie?

Neuer: Wenn wir ehrlich sind, sind viele Anwärter zu Beginn überhaupt nicht regelfest und noch weniger motiviert. Im Zuge der Verpflichtung, einen Schiedsrichter stellen zu müssen, schicken die Vereine oftmals Spieler zu den Kursen, die auf den Job eigentlich überhaupt keine Lust haben. Es ist oft so, dass wir 70 Anmeldungen haben und nach vier Terminen gerade einmal 30 Personen den Schein absolvieren. Ich kann das teilweise nachvollziehen. Es sind vier Termine mit vier Stunden, in denen die 17 Regeln besprochen werden. Das ist anstrengend, insbesondere für Leute, die auf den Schein eigentlich keine große Lust haben. Aber da müssen wir durch, eine Alternative haben wir nicht.

DFB.de: Dann ist eine Ihrer Aufgaben, aus unmotivierten motivierte Anwärter und Schiedsrichter zu machen?

Neuer: Ja. Und das ist nicht leicht. Umso schöner ist es, wenn dies gelingt. Deswegen ist es wichtig, die Schulungen spannend und abwechslungsreich zu gestalten. Es ist wenig motivierend, den Anwärter einfach nur das Regelwerk in die Hand zu drücken und ihn zum Lernen aufzufordern. Wie gesagt: Deswegen versuche ich, die Lehrabende immer so praxisnah und anschaulich wie möglich zu gestalten und auf Augenhöhe zu kommunizieren. Man muss den Anwärtern die Tätigkeit schmackhaft machen und ihnen vermitteln, was man alles an Positivem für sich und die eigene Entwicklung aus der Tätigkeit als Schiedsrichter ziehen kann.

DFB.de: In der Statistik der Schiedsrichter gibt es einen Knick bei den Endzwanzigern. Viele hören mit dem Pfeifen auf, wenn sie eine Familie gründen oder mit dem Studium fertig sind. Sie kommen bald in diese Situation. Wie sicher sind Sie, dass Sie auch noch in fünf Jahren Schiedsrichter sind?

Neuer: Der Zusammenhang erschließt sich mir nicht zwingend. Ich bin so lange und so gerne Schiedsrichter, dass mir kein Szenario einfällt, das mich veranlassen könnte, damit aufzuhören. Ich werde in einem Jahr mit dem Referendariat beginnen. Wenn es dabei Phasen gibt, in denen ich sehr gefordert bin, dann werde ich sehen, wo und wie ich meine Einsätze als Schiedsrichter vorübergehend reduziere. Da hätte bei uns auch jeder Verständnis für.

DFB.de: Wenn Sie einen Wunsch an den DFB äußern könnten - irgendetwas das Schiedsrichtern wie Ihnen das Leben erleichtern würde, was fiele Ihnen da ein?

Neuer: Spontan fällt mir da nichts ein. Ich bin eigentlich sehr zufrieden mit der Art und Weise, wie es für die Schiedsrichter in Deutschland läuft. Wichtig ist immer die Kommunikation, und die findet auch statt. Das geht auch runter bis in die Verbände, bis in die Kreise. Wenn ich einen Wunsch hätte, dann wäre es ein anderes Verhalten von Spielern und Trainern in der Bundesliga. Wenn die Schiedsrichter in der Bundesliga so massiv verbal attackiert werden, macht dies uns an der Basis das Leben sehr viel schwieriger. Da wünschte ich mir, dass sich einige ihrer Vorbildfunktion mehr bewusst wären. Aber das ist ein Problem, das der DFB nicht lösen kann.

DFB.de: Welche Ambitionen haben Sie noch in Ihrer Schiedsrichterkarriere? Wird es eines Tages die Konstellation geben, dass Marcel Neuer Spiele von Manuel Neuer leitet?

Neuer: Das ist durchaus möglich. (lacht) Dann muss der Manu im Spätherbst seiner Karriere nur irgendwann zurück ins Verbandsgebiet Westfalen kommen. Vielleicht spielt er ja später mal beispielsweise gemeinsam mit Benedikt Höwedes und Christoph Metzelder beim TuS Haltern. Dann könnten wir uns vielleicht mal begegnen.

DFB.de: Und ernsthaft – wo wollen Sie noch hin in Ihrer Karriere? Welche Liga peilen Sie an?

Neuer: Ich bin jetzt in der Oberliga. Man muss realistisch sehen, dass ich noch die Chance hätte, eine Liga höher zu kommen. Dann müsste ich am Ende der Serie in den Beurteilungen auf dem ersten Platz stehen. Das ist schwer genug. Deswegen mache ich mir darüber keine großen Gedanken. Für mich ist wichtig, dass ich in den Spielen meine Leistung bringe. Und bisher ist es so, dass mir die Beobachter positive Resonanz geben. Aber: Ich weiß auch, dass ich mit meinen 28 Jahren wahrscheinlich nicht mehr in die Bundesliga kommen werde.

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Sein Bruder ist der beste Torhüter in der Familie Neuer, er selbst ist der beste Schiedsrichter. Marcel Neuer hat einen grundverschiedenen Lebensweg eingeschlagen als Deutschlands Nummer eins. Während Manuel Neuer in der Bundesliga und in der Champions League sowie bei Welt- und Europameisterschaften zuhause ist, studiert Marcel Neuer katholische Theologie.

Dem Fußball sind sie durch verschiedene Blickwinkel verbunden - Manuel ist Torhüter, Marcel Schiedsrichter. Mittlerweile amtiert er auch als Lehrwart. Über Sorgen und Nöte aber auch über den Spaß am Pfeifen hat Marcel Neuer im Interview mit DFB.de-Redakteur Steffen Lüdeke gesprochen.

DFB.de: Herr Neuer, wer ist für Sie der beste Fußballer der Welt?

Marcel Neuer: Das ist schwierig. Für mich ist dabei weniger entscheidend, wer wie viele Tore schießt. Oft werden Messi und Ronaldo genannt. Ich sehe das anders. Ich schätze Spieler höher ein, die einen größeren Einfluss auf das Spielgeschehen haben, Spieler, die einen Plan im Kopf haben. So wie beispielsweise Andres Iniesta. Es imponiert mir, wie er ein Spiel lesen kann.

DFB.de: Bei der Frage nach dem besten Torhüter dürfte Ihnen die Antwort leichter fallen.

Neuer: Nicht unbedingt. Ich sträube mich dagegen, jetzt sofort meinen Bruder zu nennen. Es ist ganz klar, dass er zu den Besten der Welt gehört, aber es gibt noch viele andere, die ebenfalls fantastische Leistungen bringen. Es steht mir nicht zu, da eine Rangfolge festzulegen, da gibt es genug andere, die meinen, dazu berufen zu sein.

DFB.de: Und wer ist für Sie der beste Schiedsrichter der Welt?

Neuer: Auch das finde ich schwierig. (überlegt) Es gibt ja einige Schiedsrichter, die im Rampenlicht stehen. Aber daneben gibt es ganz viele Schiedsrichter, die 40 Jahre lang auf Kreisebene pfeifen und Woche für Woche auf dem Platz stehen und ihre Aufgaben erfüllen. Diesen Schiedsrichtern gebührt mindestens genau so viel Respekt und Anerkennung, wie den wenigen, die es bis an die Spitze geschafft haben. Ganz oben pfeifen die qualifiziertesten Schiedsrichter, aber die Leistungen an der Basis sind für den Fußball nicht weniger wert.

Ich bin gerne Schiedsrichter, weil...

DFB.de: Warum Sind Sie eigentlich Schiedsrichter geworden?

Neuer: Weil ich dem Fußball verfallen bin. Es ist eine Sportart, die mir sehr viel Spaß macht. Meine technischen Fähigkeiten im Umgang mit dem Ball sind leider sehr begrenzt. Als ich das eingesehen hatte, habe ich mir gesagt, "komm, dann wirst du Schiedsrichter". Für mich war das eine tolle Möglichkeit, den Fußball noch von einer anderen Seite kennen zu lernen.

DFB.de: Zuletzt wurde häufig über Gewalt gegen Schiedsrichter berichtet. Haben Sie auch schon Erfahrungen mit Gewalt machen müssen?

Neuer: Leider ja. Aber zum Glück hat es sich im Rahmen gehalten. Insbesondere in meinen Anfangszeiten, als ich 16, 17 Jahre alt war, habe ich es erlebt, dass Trainer und Eltern außerhalb des Platzes viel Theater gemacht haben. Das gipfelte einmal darin, dass nach dem Spiel ein Familienangehöriger eines Spielers zu mir in die Schiedsrichter-Kabine gekommen ist und mir eine Ohrfeige verpasst hat.

DFB.de: Wie ging es dann weiter, wie haben Sie die Situation gelöst?

Neuer: So dramatisch war es ja nicht. Ich hatte keine Gehirnerschütterung, auch keine Hämatome oder so. Auf der Sportanlage haben damals mehrere Jugendspiele stattgefunden, so dass wir mit mehreren Schiedsrichtern vor Ort waren. Mir sind die Kollegen zur Seite gesprungen. Einer der Kollegen ist körperlich sehr viel kräftiger als ich, der hat den "Angreifer" dann weggedrückt und der Kabine verwiesen. Ich habe den Vorfall im Spielbericht festgehalten. Es gab eine Spruchkammersitzung, weil der Angreifer auch Spieler war. Er wurde dann gesperrt. Zivilrechtlich und strafrechtlich habe ich nichts unternommen, weil er sich später sehr reuig gezeigt und sich aufrichtig und offiziell bei mir entschuldigt hat. Ich wollte das auch nicht zu hoch hängen. Es war eine Ohrfeige, schlimm, aber andere Kollegen haben viel Schlimmeres erleben müssen.

DFB.de: Haben Sie auch den Eindruck, dass die Gewalt zugenommen hat. Oder hat nur die Berichterstattung zugenommen?

Neuer: Ich muss leider sagen, dass ich glaube, dass es tatsächlich mehr Vorfälle gibt. Wir reden immer noch von Einzelfällen, aber ich fürchte schon, dass es eine Häufung gibt. Wir haben schon vor zwei Jahren bei uns im Kreis in Gelsenkirchen mit den Vereinsvertretern ein Gespräch geführt. Wir hatten feststellen müssen, dass wir viel zu viele Spielabbrüche haben, viel zu viele Rote Karten und viel zu viele Spruchkammersitzungen. Dagegen wollten wir angehen. Damals war ein Deeskalationsbeauftragter dabei, der hat darauf gedrungen, dass die Kommunikation zwischen Vereinen und Schiedsrichtern verbessert wird. Da hat sich auch einiges getan. Aber wenn man heute auf die Statistik schaut, dann stellen wir fest, dass leider keine Verbesserung eingetreten ist. Im Gegenteil, die Zahl der Spielabbrüche und Roten Karten ist gestiegen.

DFB.de: In den Niederlanden wurde ein Linienrichter von Jugendlichen totgeprügelt. Was haben Sie gedacht, als Sie von diesem Verbrechen gehört haben?

Neuer: Dass das nicht wahr sein kann. Ich war fassungslos. Die Spiele auf Amateurebene sind Hobbyspiele, das soll Spaß machen. Es ist unglaublich, dass so etwas passieren kann.

DFB.de: Gehen Sie dennoch ohne Angst und mit derselben Freude auf den Platz?

Neuer: Ja. Ich fahre nie mit irgendwelchen negativen Gedanken oder mit einem mulmigen Gefühl zu meinen Spielen. Ich kann mittlerweile auf eine gewisse Erfahrung zurückblicken. Deshalb weiß ich, dass es fast nie größere Zwischenfälle gibt. Es kommt vielleicht bei einem von 100 Spielen zu einer brenzligen Situation, aber ich habe gelernt, damit umzugehen und die Dinge zu regeln. Aber ich kann verstehen, dass es bei jüngeren Kollegen anders ist. Einen größeren Erfahrungsschatz und ein dickeres Fell muss man sich erwerben.

DFB.de: Lutz Michael Fröhlich, der Abteilungsleiter Schiedsrichter beim DFB, sagt, dass die Schiedsrichtergruppe gefordert ist, wenn ein Schiedsrichter Opfer von Gewalt wurde. Wird das bei Ihnen so gelebt?

Neuer: Ja, wir versuchen das. Ich bin seit Mai dieses Jahres Lehrwart in unserer Schiedsrichtergruppe. Dabei setze ich sehr auf Dialog und Austausch. Mir widerstrebt es, vorne im Seminarraum Frontalunterricht zu geben. Mir ist es wichtig, dass wir nah an der Praxis sind. Deswegen lasse ich meine Schiedsrichter immer von ihren Erfahrungen berichten. Ich will wissen, was sie beschäftigt. Die Szenen aus der Bundesliga sind hilfreich, um eine einheitliche Bewertung von Zweikämpfen zu erreichen. Genauso wichtig ist es aber, zu wissen, was auf den Ascheplätzen in Gelsenkirchen abgeht. Bei welcher Mannschaft gab es Probleme, welche Spielertypen muss man besonders im Auge behalten? Das ist unser tägliches Geschäft. Ich habe mir deswegen vorgenommen, dass wir auf den Schulungsabenden immer Raum haben, über die tatsächlichen Probleme der Schiedsrichter zu reden und uns nicht nur die ganze Zeit mit Regelfragen befassen.

DFB.de: Aus welcher Motivation heraus haben Sie die Aufgabe des Lehrwartes übernommen?

Neuer: Es war so, dass ich vom Vorsitzenden des Schiedsrichterausschusses des Kreises Gelsenkirchen gefragt worden bin, ob ich diese Aufgabe übernehmen will. Ich habe zugestimmt, ganz einfach, weil ich mir es zutraue. Ich habe bei den Regeltests immer gut abgeschnitten und fühle mich auch menschlich dieser Aufgabe gewachsen. Ich finde es spannend, junge Schiedsrichter an meinem Erfahrungsschatz teilhaben zu lassen. Mir macht es Spaß, gemeinsam mit anderen Menschen, Dinge zu entwickeln.

DFB.de: Wie erleben Sie die Schiedsrichter-Anwärter? Wie regelfest sind diese, wie motiviert sind sie?

Neuer: Wenn wir ehrlich sind, sind viele Anwärter zu Beginn überhaupt nicht regelfest und noch weniger motiviert. Im Zuge der Verpflichtung, einen Schiedsrichter stellen zu müssen, schicken die Vereine oftmals Spieler zu den Kursen, die auf den Job eigentlich überhaupt keine Lust haben. Es ist oft so, dass wir 70 Anmeldungen haben und nach vier Terminen gerade einmal 30 Personen den Schein absolvieren. Ich kann das teilweise nachvollziehen. Es sind vier Termine mit vier Stunden, in denen die 17 Regeln besprochen werden. Das ist anstrengend, insbesondere für Leute, die auf den Schein eigentlich keine große Lust haben. Aber da müssen wir durch, eine Alternative haben wir nicht.

DFB.de: Dann ist eine Ihrer Aufgaben, aus unmotivierten motivierte Anwärter und Schiedsrichter zu machen?

Neuer: Ja. Und das ist nicht leicht. Umso schöner ist es, wenn dies gelingt. Deswegen ist es wichtig, die Schulungen spannend und abwechslungsreich zu gestalten. Es ist wenig motivierend, den Anwärter einfach nur das Regelwerk in die Hand zu drücken und ihn zum Lernen aufzufordern. Wie gesagt: Deswegen versuche ich, die Lehrabende immer so praxisnah und anschaulich wie möglich zu gestalten und auf Augenhöhe zu kommunizieren. Man muss den Anwärtern die Tätigkeit schmackhaft machen und ihnen vermitteln, was man alles an Positivem für sich und die eigene Entwicklung aus der Tätigkeit als Schiedsrichter ziehen kann.

DFB.de: In der Statistik der Schiedsrichter gibt es einen Knick bei den Endzwanzigern. Viele hören mit dem Pfeifen auf, wenn sie eine Familie gründen oder mit dem Studium fertig sind. Sie kommen bald in diese Situation. Wie sicher sind Sie, dass Sie auch noch in fünf Jahren Schiedsrichter sind?

Neuer: Der Zusammenhang erschließt sich mir nicht zwingend. Ich bin so lange und so gerne Schiedsrichter, dass mir kein Szenario einfällt, das mich veranlassen könnte, damit aufzuhören. Ich werde in einem Jahr mit dem Referendariat beginnen. Wenn es dabei Phasen gibt, in denen ich sehr gefordert bin, dann werde ich sehen, wo und wie ich meine Einsätze als Schiedsrichter vorübergehend reduziere. Da hätte bei uns auch jeder Verständnis für.

DFB.de: Wenn Sie einen Wunsch an den DFB äußern könnten - irgendetwas das Schiedsrichtern wie Ihnen das Leben erleichtern würde, was fiele Ihnen da ein?

Neuer: Spontan fällt mir da nichts ein. Ich bin eigentlich sehr zufrieden mit der Art und Weise, wie es für die Schiedsrichter in Deutschland läuft. Wichtig ist immer die Kommunikation, und die findet auch statt. Das geht auch runter bis in die Verbände, bis in die Kreise. Wenn ich einen Wunsch hätte, dann wäre es ein anderes Verhalten von Spielern und Trainern in der Bundesliga. Wenn die Schiedsrichter in der Bundesliga so massiv verbal attackiert werden, macht dies uns an der Basis das Leben sehr viel schwieriger. Da wünschte ich mir, dass sich einige ihrer Vorbildfunktion mehr bewusst wären. Aber das ist ein Problem, das der DFB nicht lösen kann.

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DFB.de: Welche Ambitionen haben Sie noch in Ihrer Schiedsrichterkarriere? Wird es eines Tages die Konstellation geben, dass Marcel Neuer Spiele von Manuel Neuer leitet?

Neuer: Das ist durchaus möglich. (lacht) Dann muss der Manu im Spätherbst seiner Karriere nur irgendwann zurück ins Verbandsgebiet Westfalen kommen. Vielleicht spielt er ja später mal beispielsweise gemeinsam mit Benedikt Höwedes und Christoph Metzelder beim TuS Haltern. Dann könnten wir uns vielleicht mal begegnen.

DFB.de: Und ernsthaft – wo wollen Sie noch hin in Ihrer Karriere? Welche Liga peilen Sie an?

Neuer: Ich bin jetzt in der Oberliga. Man muss realistisch sehen, dass ich noch die Chance hätte, eine Liga höher zu kommen. Dann müsste ich am Ende der Serie in den Beurteilungen auf dem ersten Platz stehen. Das ist schwer genug. Deswegen mache ich mir darüber keine großen Gedanken. Für mich ist wichtig, dass ich in den Spielen meine Leistung bringe. Und bisher ist es so, dass mir die Beobachter positive Resonanz geben. Aber: Ich weiß auch, dass ich mit meinen 28 Jahren wahrscheinlich nicht mehr in die Bundesliga kommen werde.