Löw und Deschamps: "Wir sind Freunde und halten zusammen"

Heute hätte in München das EM-Gruppenspiel der beiden letzten Weltmeister stattfinden sollen: Deutschland gegen Frankreich bei der EURO 2020. Die Corona-Pandemie verhindert jedoch die Austragung in diesem Jahr. Auf DFB.de sprechen Bundestrainer Joachim Löw und Frankreichs Coach Didier Deschamps über das aufgeschobene Duell und die Vorbereitung auf das Turnier im kommenden Jahr.

Das Doppelinterview ist auch auf der Webseite des Französischen Fußball-Verbandes (FFF) und auf der französischen DFB-Site erschienen.

Frage: Monsieur Deschamps, Herr Löw, normalerweise wären Sie sich am heutigen Abend bei der EURO begegnet, in München hätten Frankreich und Deutschland gegeneinander gespielt. Durch die Corona-Krise kam alles anders. Wie erleben Sie die aktuellen Tage?

Joachim Löw: Keiner von uns hätte Anfang des Jahres für möglich gehalten, was nun seit Wochen und Monaten Realität ist. Nicht nur in Frankreich, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Ich hoffe sehr, dass es den Menschen in Frankreich gut geht, zu Frankreich haben wir Deutschen ja eine besondere Beziehung, nicht nur im Fußball. Wir haben eine starke Verbindung, bei aller sportlicher Rivalität, die dazu gehört. Die Corona-Pandemie hält die Welt noch immer in Atem. So wichtig der Fußball für viele Menschen auch ist: Was die EURO betrifft, musste er einfach für diesen Sommer zurückstehen. Die Gesundheit steht über allem.

Didier Deschamps: Wir machen eine sehr schwierige Zeit durch. Fußball ist für viele Menschen in verschiedener Weise und aus verschiedenen Gründen sehr wichtig. Aber in einer Situation wie die, in der wir uns befinden, ist es ganz normal, dass die Gesundheit die Priorität haben sollte. Die Entscheidung, die Europameisterschaft um ein Jahr zu verschieben, ist daher logisch. Dieser Wettbewerb erfordert, unter normalen Bedingungen ausgetragen zu werden. Das heißt, mit Fans aller Mannschaften im Stadion und mit einer Begeisterung, die sich überall äußern kann.

Frage: Sie werden also beide auf Ihr achtes Aufeinandertreffen als Nationaltrainer Frankreichs und Deutschlands warten müssen…

Löw: Es schmerzt schon, heute nicht dieses Kribbeln zu spüren, das ein EM-Spiel gegen Frankreich, den amtierenden Weltmeister, mit sich bringen würde. Das Stadion wäre ausverkauft, ein ganzer Kontinent blickt auf dieses Spiel. Solche Spiele genieße ich, noch dazu gegen ein Weltklasseteam, das von einem Weltklassetrainer trainiert wird. Wie gerne würde ich Didier, den ich fußballerisch wie menschlich wahnsinnig schätze, zur Begrüßung in den Arm nehmen. Bei aller sportlichen Rivalität kann man sich doch nur freuen, wenn man gegen eine der besten Mannschaften der Welt spielt.

Deschamps: Wir hatten uns alle auf diese Veranstaltung vorbereitet, aber wir müssen jetzt ein weiteres Jahr darauf warten, bis wir uns wieder begegnen. Es wäre unanständig, sich darüber zu beschweren, wenn man betrachtet, was Menschen auf der ganzen Welt wegen des Virus ertragen haben oder weiterhin ertragen müssen. Diese Verschiebung beeinträchtigt auf keinen Fall meinen Respekt für Joachim. Er wurde nach der Weltmeisterschaft 2018 kritisiert, wie es einem Trainer nach einem Rückschlag oft passiert. Glauben Sie wirklich, dass Joachim, der 2014 der Beste war, vier Jahre später der Schlechteste geworden ist? Ich glaube das persönlich nicht. Seine Karriere spricht zu seinen Gunsten. Joachim ist sehr kompetent, daran gibt es keinen Zweifel. Ich bin voller Bewunderung für seine Karriere, vor allem für seinen Weltmeistertitel 2014. Auf menschlicher Ebene ist er ein offener und freundlicher Mensch, der immer Demut gezeigt hat. Das Freundschaftsspiel am 13. November 2015 hat unsere Beziehung verstärkt. In den Stunden nach den Anschlägen in der Nähe des Stade de France und in Paris haben wir uns mit dem französischen Verbandspräsidenten Le Graët darauf geeinigt, mit der deutschen Mannschaft in der Umkleidekabine zu bleiben, bis sie nach Hause zurückkehren konnte. Wir haben dieses dramatische Ereignis gemeinsam erlebt. Ich vergesse das nicht, und ich weiß, dass Joachim es auch nicht vergisst. Die Stunden und Minuten waren sehr lang. Wir waren keine Gegner mehr. Wir waren zusammen und teilten unsere Sorge. Mit Deutschland haben wir ein Verhältnis der sportlichen Rivalität, aber auch ein Verhältnis der Brüderlichkeit.

Löw: Diesen Tag und diese Stunden, die wir gemeinsam in den Katakomben des Stadions verbracht haben, werden auch wir nie vergessen. Das war ein großartiges Zeichen, welche verbindende Kraft der Fußball hat. Auf dem Platz sind wir Gegner, doch in Situationen wie diesen sind wir Freunde und halten zusammen. So wie jetzt im Kampf gegen Corona. Das ist selbstverständlich.

Frage: Was erwarten Sie für die kommenden Monate?

Löw: Wichtig ist, dass wir alle gemeinsam diese Krise meistern. Ich finde, dass der Fußball insgesamt zeigt, dass er sich seiner Verantwortung und Rolle in der Gesellschaft bewusst ist. Eines steht für mich fest: Wir werden es umso mehr zu schätzen wissen, wenn wir uns eines Tages wieder im Stadion begegnen, um sportliche Highlights wie Spiele einer Europameisterschaft zu feiern. Ich kann es eigentlich kaum erwarten, selbst wieder mit der Mannschaft auf dem Platz zu stehen. Unsere Mannschaft wird auch 2021 mit einer großen Begeisterung und einem großen Hunger in das Turnier gehen. Wir haben ein junges Team, setzen den Neuaufbau konsequent fort. Wir wollen weiter reifen und uns hoffentlich weiter einspielen. Und für mich ist klar: Frankreich wird auch 2021 weiter zu den besten Mannschaften der Welt zählen.

Deschamps: Wir wissen immer noch nicht, welche vierte Mannschaft sich unserer Gruppe anschließen wird, aber mit Deutschland und Portugal sind wir schon gut bedient. Ein erstes Spiel ist in einem Wettbewerb immer wichtig; nicht immer entscheidend, aber wichtig. Wenn man in der ersten Partie gegen Deutschland spielt, ist es nicht so leicht. Noch schlimmer, wenn man gegen Deutschland in Deutschland spielt… Wir sprechen von einer großartigen Mannschaft, die sich seit 2018 mit einer neuen Generation weiterentwickelt hat.

Frage: Sie sprechen die sportlichen Komponenten an. Es wäre heute auch das Aufeinandertreffen der Weltmeister 2014 und 2018 gewesen. Inwieweit hatten Sie sich schon mit dem Gegner beschäftigt?

Löw: Nachdem im November 2019 die EM-Gruppen ausgelost worden waren, haben wir uns konkret mit den Gegnern befasst. Mit Frankreich aber muss man sich nicht im Detail beschäftigen. Frankreich ist Frankreich. Absolute Weltklasse. Frankreich hat immer eine sehr starke Mannschaft und zählt immer zu den Topteams, in Europa und weltweit. Schon die Namen sagen alles. Von Fontaine über Platini, Giresse, Tigana, Vieira, Henry, Lizarazu, Pogba bis hin zu Kanté, Griezmann, Coman oder Mbappé. Und natürlich Deschamps. (lacht) Didier war ein außergewöhnlicher Spieler. Ein Leader, der immer gewinnen wollte. Und wie kaum ein anderer diese Siegermentalität ausgestrahlt hat. Das ist seiner Mannschaft anzumerken. All diese großen Fußballnamen stehen weltweit für Leidenschaft, Leichtigkeit, Wucht, Tempo, Dynamik und Präzision. Ich liebe es, sie zu sehen. Unter anderem durch die UEFA Nations League trafen wir zuletzt auch häufiger aufeinander. Frankreich hätte sich heute nicht vor uns versteckt, ganz im Gegenteil. Da bin ich ganz sicher.

Deschamps: Die deutsche Nationalmannschaft hat sich weiterentwickelt. Joachim traf einige starke und mutige Entscheidungen, indem er beschlossen hat, eine Mannschaft zu erneuern, die viel gewonnen hatte. Er hat gespürt, dass sein Team frischen Wind brauchte. Es ist nie leicht, auf Spieler zu verzichten, die noch aktiv sind und die in ihren Vereinen immer noch gute Leistungen bringen. Er musste einige harte menschliche Entscheidungen treffen. Ich habe gesehen, dass die Deutschen ein wenig an Erfahrung verloren haben, aber nicht an Qualität. Deutschland ist immer noch Deutschland, mit großen Spielern, die für wichtige Vereine spielen. Körperbetontes Spiel ist immer noch eine der großen Stärken dieser Mannschaft, aber nun bietet sie vielleicht mehr Abwechslung und Kreativität in ihrer Spielweise.

Frage: Auf dem Rasen konnten Sie in den vergangenen Wochen nicht arbeiten. Konzeptionell und analytisch schon. Wie sah das aus? Können Sie Einblicke geben?

Löw: Wir haben ja das Glück, dass wir unsere Nationalspieler, die in der Bundesliga spielen, wieder auf dem Platz sehen können. Und ich freue mich, dass die meisten einen extrem frischen und fitten Eindruck machen, sie versprühen geradezu große Lust und brennen darauf, wieder zu spielen. Natürlich tauschen wir uns im Trainerteam intensiv über diese Spieler aus. Immer aber auch über unsere Spielphilosophie, unsere Idee, die die Grundlage von allem bildet. Ich habe schon des Öfteren betont, dass wir nicht mehr nur über Kampf, Einsatz und Fleiß zum Erfolg kommen wollen. Dafür standen wir Deutschen ja früher. Didier wird das bestätigen. Wir hatten aber den Anspruch, dass zu den deutschen Tugenden auch Spielfreude und Eleganz gehören. Wir wollen Tore erzielen, Ballbesitz haben, aktiv und mutig sein, wir wollen das Spiel gewinnen. Daran arbeiten wir permanent. Natürlich hoffen wir nun vor allem darauf, dass im Herbst auch wieder Länderspiele stattfinden. Dazu machen wir uns viele Gedanken. 

Deschamps:  Mehrere Wochen lang gab es keine Spiele. Unsere Hauptaufgabe besteht aber darin, die Spieler in allen Vereinen und Ligen zu beobachten. Wir bleiben mit unserem Trainerteam in Kontakt, um uns auf die Nations League vorzubereiten, da die EM 2020 erst danach stattfinden wird. Wir machen weiter und schließen nichts aus. Die Frage ist immer dieselbe, wenn man es geschafft hat, auf eine bestimmte Art und Weise zu gewinnen: Können wir weiterhin gewinnen, wenn wir mit denselben Spielern auf dieselbe Art und Weise spielen? Ja, aber es ist keine Selbstverständlichkeit. Ein Trainer denkt immer darüber nach, was er verändern und was er entwickeln kann, um weiterhin gute Leistungen zu bringen. Es gibt nicht einen einzigen Weg zum Sieg. Man muss sich zwar nicht zur Veränderung zwingen, aber man muss immer darüber nachdenken. Ich denke ständig nach, um bereit zu sein, sollte ich eine andere Lösung aktivieren müssen.

Frage: Es ist kein Geheimnis, dass Deutschland sehr anerkennend auf die Entwicklung des französischen Fußballs schaut. In Clairefontaine hat der französische Verband ein eigenes Leistungszentrum geschaffen, der DFB baut gerade ein solches Kompetenzzentrum auf, es soll Ende 2021 fertiggestellt sein. Welche Vorteile hat dies für die sportliche Entwicklung?

Löw: Das sind tolle Bedingungen. Frankreich hat bei seinem WM-Sieg 2018 ganz sicher auch von der Ausbildung und den Möglichkeiten in Clairefontaine profitiert. Wir können uns sehr glücklich schätzen, dass wir mit dem deutschen Fußball einen ähnlichen Weg gehen. Wir bekommen mit dem Neubau eine sportliche Heimat, der Austausch wird noch enger werden. Für Deutschland ist auch wichtig, dass davon Spitze und Basis gleichermaßen profitieren, der Fußball insgesamt weiterentwickelt wird. Mit dem neuen DFB und seiner Akademie bekommen wir zudem ein kompaktes Kompetenzzentrum, das den Mannschaften und der Praxis helfen soll. Schon jetzt versuchen wir, einige Inhalte davon bereits zu leben. Man merkt, dass wir im Aufbruch sind.

Deschamps: Clairefontaine ist das Zuhause des französischen Fußballs, nicht nur der A-Nationalmannschaft. Unser medizinisches Zentrum bietet die beste Versorgung für verletzte Spieler. Wir bilden dort unsere Trainer, unsere Schiedsrichter und unsere jungen Spieler im Nationalen Fußballinstitut INF aus. Ausbildung ist unerlässlich, und in Frankreich ist sie erfolgreich. Joachim wird mir nicht widersprechen, da die deutschen Vereine immer mehr junge französische Spieler verpflichten. Das Überleben der französischen Klubs hängt von der Ausbildung ab. Deutschland hat diese Sorge nicht, aber das hindert die Deutschen nicht daran, sich über Ausbildung Gedanken zu machen. Wenn Deutschland schaut, was wir tun, dann heißt es, dass wir gute Arbeit geleistet haben. Im Allgemeinen gibt es immer gute Ideen, die man sich von anderswo holen kann. Man muss immer gucken, wie woanders gearbeitet wird, und sich davon inspirieren lassen, statt einfach zu kopieren, denn alles ist nicht immer eins zu eins übertragbar.

[dfb/fff]

Heute hätte in München das EM-Gruppenspiel der beiden letzten Weltmeister stattfinden sollen: Deutschland gegen Frankreich bei der EURO 2020. Die Corona-Pandemie verhindert jedoch die Austragung in diesem Jahr. Auf DFB.de sprechen Bundestrainer Joachim Löw und Frankreichs Coach Didier Deschamps über das aufgeschobene Duell und die Vorbereitung auf das Turnier im kommenden Jahr.

Das Doppelinterview ist auch auf der Webseite des Französischen Fußball-Verbandes (FFF) und auf der französischen DFB-Site erschienen.

Frage: Monsieur Deschamps, Herr Löw, normalerweise wären Sie sich am heutigen Abend bei der EURO begegnet, in München hätten Frankreich und Deutschland gegeneinander gespielt. Durch die Corona-Krise kam alles anders. Wie erleben Sie die aktuellen Tage?

Joachim Löw: Keiner von uns hätte Anfang des Jahres für möglich gehalten, was nun seit Wochen und Monaten Realität ist. Nicht nur in Frankreich, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Ich hoffe sehr, dass es den Menschen in Frankreich gut geht, zu Frankreich haben wir Deutschen ja eine besondere Beziehung, nicht nur im Fußball. Wir haben eine starke Verbindung, bei aller sportlicher Rivalität, die dazu gehört. Die Corona-Pandemie hält die Welt noch immer in Atem. So wichtig der Fußball für viele Menschen auch ist: Was die EURO betrifft, musste er einfach für diesen Sommer zurückstehen. Die Gesundheit steht über allem.

Didier Deschamps: Wir machen eine sehr schwierige Zeit durch. Fußball ist für viele Menschen in verschiedener Weise und aus verschiedenen Gründen sehr wichtig. Aber in einer Situation wie die, in der wir uns befinden, ist es ganz normal, dass die Gesundheit die Priorität haben sollte. Die Entscheidung, die Europameisterschaft um ein Jahr zu verschieben, ist daher logisch. Dieser Wettbewerb erfordert, unter normalen Bedingungen ausgetragen zu werden. Das heißt, mit Fans aller Mannschaften im Stadion und mit einer Begeisterung, die sich überall äußern kann.

Frage: Sie werden also beide auf Ihr achtes Aufeinandertreffen als Nationaltrainer Frankreichs und Deutschlands warten müssen…

Löw: Es schmerzt schon, heute nicht dieses Kribbeln zu spüren, das ein EM-Spiel gegen Frankreich, den amtierenden Weltmeister, mit sich bringen würde. Das Stadion wäre ausverkauft, ein ganzer Kontinent blickt auf dieses Spiel. Solche Spiele genieße ich, noch dazu gegen ein Weltklasseteam, das von einem Weltklassetrainer trainiert wird. Wie gerne würde ich Didier, den ich fußballerisch wie menschlich wahnsinnig schätze, zur Begrüßung in den Arm nehmen. Bei aller sportlichen Rivalität kann man sich doch nur freuen, wenn man gegen eine der besten Mannschaften der Welt spielt.

Deschamps: Wir hatten uns alle auf diese Veranstaltung vorbereitet, aber wir müssen jetzt ein weiteres Jahr darauf warten, bis wir uns wieder begegnen. Es wäre unanständig, sich darüber zu beschweren, wenn man betrachtet, was Menschen auf der ganzen Welt wegen des Virus ertragen haben oder weiterhin ertragen müssen. Diese Verschiebung beeinträchtigt auf keinen Fall meinen Respekt für Joachim. Er wurde nach der Weltmeisterschaft 2018 kritisiert, wie es einem Trainer nach einem Rückschlag oft passiert. Glauben Sie wirklich, dass Joachim, der 2014 der Beste war, vier Jahre später der Schlechteste geworden ist? Ich glaube das persönlich nicht. Seine Karriere spricht zu seinen Gunsten. Joachim ist sehr kompetent, daran gibt es keinen Zweifel. Ich bin voller Bewunderung für seine Karriere, vor allem für seinen Weltmeistertitel 2014. Auf menschlicher Ebene ist er ein offener und freundlicher Mensch, der immer Demut gezeigt hat. Das Freundschaftsspiel am 13. November 2015 hat unsere Beziehung verstärkt. In den Stunden nach den Anschlägen in der Nähe des Stade de France und in Paris haben wir uns mit dem französischen Verbandspräsidenten Le Graët darauf geeinigt, mit der deutschen Mannschaft in der Umkleidekabine zu bleiben, bis sie nach Hause zurückkehren konnte. Wir haben dieses dramatische Ereignis gemeinsam erlebt. Ich vergesse das nicht, und ich weiß, dass Joachim es auch nicht vergisst. Die Stunden und Minuten waren sehr lang. Wir waren keine Gegner mehr. Wir waren zusammen und teilten unsere Sorge. Mit Deutschland haben wir ein Verhältnis der sportlichen Rivalität, aber auch ein Verhältnis der Brüderlichkeit.

Löw: Diesen Tag und diese Stunden, die wir gemeinsam in den Katakomben des Stadions verbracht haben, werden auch wir nie vergessen. Das war ein großartiges Zeichen, welche verbindende Kraft der Fußball hat. Auf dem Platz sind wir Gegner, doch in Situationen wie diesen sind wir Freunde und halten zusammen. So wie jetzt im Kampf gegen Corona. Das ist selbstverständlich.

Frage: Was erwarten Sie für die kommenden Monate?

Löw: Wichtig ist, dass wir alle gemeinsam diese Krise meistern. Ich finde, dass der Fußball insgesamt zeigt, dass er sich seiner Verantwortung und Rolle in der Gesellschaft bewusst ist. Eines steht für mich fest: Wir werden es umso mehr zu schätzen wissen, wenn wir uns eines Tages wieder im Stadion begegnen, um sportliche Highlights wie Spiele einer Europameisterschaft zu feiern. Ich kann es eigentlich kaum erwarten, selbst wieder mit der Mannschaft auf dem Platz zu stehen. Unsere Mannschaft wird auch 2021 mit einer großen Begeisterung und einem großen Hunger in das Turnier gehen. Wir haben ein junges Team, setzen den Neuaufbau konsequent fort. Wir wollen weiter reifen und uns hoffentlich weiter einspielen. Und für mich ist klar: Frankreich wird auch 2021 weiter zu den besten Mannschaften der Welt zählen.

Deschamps: Wir wissen immer noch nicht, welche vierte Mannschaft sich unserer Gruppe anschließen wird, aber mit Deutschland und Portugal sind wir schon gut bedient. Ein erstes Spiel ist in einem Wettbewerb immer wichtig; nicht immer entscheidend, aber wichtig. Wenn man in der ersten Partie gegen Deutschland spielt, ist es nicht so leicht. Noch schlimmer, wenn man gegen Deutschland in Deutschland spielt… Wir sprechen von einer großartigen Mannschaft, die sich seit 2018 mit einer neuen Generation weiterentwickelt hat.

Frage: Sie sprechen die sportlichen Komponenten an. Es wäre heute auch das Aufeinandertreffen der Weltmeister 2014 und 2018 gewesen. Inwieweit hatten Sie sich schon mit dem Gegner beschäftigt?

Löw: Nachdem im November 2019 die EM-Gruppen ausgelost worden waren, haben wir uns konkret mit den Gegnern befasst. Mit Frankreich aber muss man sich nicht im Detail beschäftigen. Frankreich ist Frankreich. Absolute Weltklasse. Frankreich hat immer eine sehr starke Mannschaft und zählt immer zu den Topteams, in Europa und weltweit. Schon die Namen sagen alles. Von Fontaine über Platini, Giresse, Tigana, Vieira, Henry, Lizarazu, Pogba bis hin zu Kanté, Griezmann, Coman oder Mbappé. Und natürlich Deschamps. (lacht) Didier war ein außergewöhnlicher Spieler. Ein Leader, der immer gewinnen wollte. Und wie kaum ein anderer diese Siegermentalität ausgestrahlt hat. Das ist seiner Mannschaft anzumerken. All diese großen Fußballnamen stehen weltweit für Leidenschaft, Leichtigkeit, Wucht, Tempo, Dynamik und Präzision. Ich liebe es, sie zu sehen. Unter anderem durch die UEFA Nations League trafen wir zuletzt auch häufiger aufeinander. Frankreich hätte sich heute nicht vor uns versteckt, ganz im Gegenteil. Da bin ich ganz sicher.

Deschamps: Die deutsche Nationalmannschaft hat sich weiterentwickelt. Joachim traf einige starke und mutige Entscheidungen, indem er beschlossen hat, eine Mannschaft zu erneuern, die viel gewonnen hatte. Er hat gespürt, dass sein Team frischen Wind brauchte. Es ist nie leicht, auf Spieler zu verzichten, die noch aktiv sind und die in ihren Vereinen immer noch gute Leistungen bringen. Er musste einige harte menschliche Entscheidungen treffen. Ich habe gesehen, dass die Deutschen ein wenig an Erfahrung verloren haben, aber nicht an Qualität. Deutschland ist immer noch Deutschland, mit großen Spielern, die für wichtige Vereine spielen. Körperbetontes Spiel ist immer noch eine der großen Stärken dieser Mannschaft, aber nun bietet sie vielleicht mehr Abwechslung und Kreativität in ihrer Spielweise.

Frage: Auf dem Rasen konnten Sie in den vergangenen Wochen nicht arbeiten. Konzeptionell und analytisch schon. Wie sah das aus? Können Sie Einblicke geben?

Löw: Wir haben ja das Glück, dass wir unsere Nationalspieler, die in der Bundesliga spielen, wieder auf dem Platz sehen können. Und ich freue mich, dass die meisten einen extrem frischen und fitten Eindruck machen, sie versprühen geradezu große Lust und brennen darauf, wieder zu spielen. Natürlich tauschen wir uns im Trainerteam intensiv über diese Spieler aus. Immer aber auch über unsere Spielphilosophie, unsere Idee, die die Grundlage von allem bildet. Ich habe schon des Öfteren betont, dass wir nicht mehr nur über Kampf, Einsatz und Fleiß zum Erfolg kommen wollen. Dafür standen wir Deutschen ja früher. Didier wird das bestätigen. Wir hatten aber den Anspruch, dass zu den deutschen Tugenden auch Spielfreude und Eleganz gehören. Wir wollen Tore erzielen, Ballbesitz haben, aktiv und mutig sein, wir wollen das Spiel gewinnen. Daran arbeiten wir permanent. Natürlich hoffen wir nun vor allem darauf, dass im Herbst auch wieder Länderspiele stattfinden. Dazu machen wir uns viele Gedanken. 

Deschamps:  Mehrere Wochen lang gab es keine Spiele. Unsere Hauptaufgabe besteht aber darin, die Spieler in allen Vereinen und Ligen zu beobachten. Wir bleiben mit unserem Trainerteam in Kontakt, um uns auf die Nations League vorzubereiten, da die EM 2020 erst danach stattfinden wird. Wir machen weiter und schließen nichts aus. Die Frage ist immer dieselbe, wenn man es geschafft hat, auf eine bestimmte Art und Weise zu gewinnen: Können wir weiterhin gewinnen, wenn wir mit denselben Spielern auf dieselbe Art und Weise spielen? Ja, aber es ist keine Selbstverständlichkeit. Ein Trainer denkt immer darüber nach, was er verändern und was er entwickeln kann, um weiterhin gute Leistungen zu bringen. Es gibt nicht einen einzigen Weg zum Sieg. Man muss sich zwar nicht zur Veränderung zwingen, aber man muss immer darüber nachdenken. Ich denke ständig nach, um bereit zu sein, sollte ich eine andere Lösung aktivieren müssen.

Frage: Es ist kein Geheimnis, dass Deutschland sehr anerkennend auf die Entwicklung des französischen Fußballs schaut. In Clairefontaine hat der französische Verband ein eigenes Leistungszentrum geschaffen, der DFB baut gerade ein solches Kompetenzzentrum auf, es soll Ende 2021 fertiggestellt sein. Welche Vorteile hat dies für die sportliche Entwicklung?

Löw: Das sind tolle Bedingungen. Frankreich hat bei seinem WM-Sieg 2018 ganz sicher auch von der Ausbildung und den Möglichkeiten in Clairefontaine profitiert. Wir können uns sehr glücklich schätzen, dass wir mit dem deutschen Fußball einen ähnlichen Weg gehen. Wir bekommen mit dem Neubau eine sportliche Heimat, der Austausch wird noch enger werden. Für Deutschland ist auch wichtig, dass davon Spitze und Basis gleichermaßen profitieren, der Fußball insgesamt weiterentwickelt wird. Mit dem neuen DFB und seiner Akademie bekommen wir zudem ein kompaktes Kompetenzzentrum, das den Mannschaften und der Praxis helfen soll. Schon jetzt versuchen wir, einige Inhalte davon bereits zu leben. Man merkt, dass wir im Aufbruch sind.

Deschamps: Clairefontaine ist das Zuhause des französischen Fußballs, nicht nur der A-Nationalmannschaft. Unser medizinisches Zentrum bietet die beste Versorgung für verletzte Spieler. Wir bilden dort unsere Trainer, unsere Schiedsrichter und unsere jungen Spieler im Nationalen Fußballinstitut INF aus. Ausbildung ist unerlässlich, und in Frankreich ist sie erfolgreich. Joachim wird mir nicht widersprechen, da die deutschen Vereine immer mehr junge französische Spieler verpflichten. Das Überleben der französischen Klubs hängt von der Ausbildung ab. Deutschland hat diese Sorge nicht, aber das hindert die Deutschen nicht daran, sich über Ausbildung Gedanken zu machen. Wenn Deutschland schaut, was wir tun, dann heißt es, dass wir gute Arbeit geleistet haben. Im Allgemeinen gibt es immer gute Ideen, die man sich von anderswo holen kann. Man muss immer gucken, wie woanders gearbeitet wird, und sich davon inspirieren lassen, statt einfach zu kopieren, denn alles ist nicht immer eins zu eins übertragbar.

###more###