Köpke: "Kein Torwart kann mehr abschalten"

Erfahrung - auf keiner Position im Fußball ist sie wichtiger als beim Torwart. Das hat nun auch die Forschung von Dr. Florian Schultz von der Universität Tübingen ergeben, der auf dem 3. DFB-Wissenschaftskongress in Frankfurt heute vom 1. DFB-Vizepräsidenten Dr. Rainer Koch den mit 30.000 Euro dotierten DFB-Wissenschaftspreis 2016 erhalten hat.

Andreas Köpke ist in seiner aktiven Karriere Weltmeister 1990, Europameister und Welttorhüter des Jahres 1996 geworden. Der Torwarttrainer der deutschen Nationalmannschaft und als solcher Weltmeister 2014 erzählt im DFB.de-Interview mit Redakteur Thomas Hackbarth, welche Hinweisgeber Torwarte nutzen, weshalb junge Keeper heute so viel erfahrener sind und was er über "Eye-Tracking-Brillen" denkt.

DFB.de: Andreas Köpke, warum ist Erfahrung gerade auf der Torwartposition so wichtig?

Andreas Köpke: Ich glaube, dass man das als junger Torwart gar nicht so wahrhaben will. Dabei ist es einfach so: Je häufiger man gewisse Situationen erlebt hat, desto besser geht man damit um. Natürlich erkenne ich mit Erfahrung früher, wohin der Schütze schießt, natürlich erkenne ich früher, ob ich beim nächsten langen Ball raus muss. Einfach weil ich schon viel mehr erlebt habe. Erfahrung ist ein enorm wichtiger Faktor, aber auch unsere jungen Torwarte heutzutage haben schon relativ große Erfahrung.

DFB.de: 2006 hatten Sie mit Jens Lehmann und Oliver Kahn zwei Torhüter, die 36 Jahre alt waren. Bei der WM 2014 in Brasilien waren Manuel Neuer und Ron-Robert Zieler im Vergleich 28 beziehungsweise 25 Jahre jung.

Köpke: Dennoch waren beide, Manu und Ron, schon sehr ehrfahren. Durch die Nachwuchsleistungszentren, den frühzeitigen Beginn des professionellen Torwarttrainings und die Junioren-Bundesligen sammelt ein junger Torwart heute viel früher wertvolle Erfahrungen. Auch in der Summe bestreiten junge Torwarte heute mehr Spiele als ich damals. Ich hatte meine besten Jahre, da war ich über 30 Jahre. Diese Phase beginnt heute früher. Kann ein Torwart besser Situationen antizipieren, als Manu im WM-Achtelfinale gegen Algerien? Es waren so viele Szenen dabei, das waren 50:50-Aktionen. Entweder ist man der Held - oder aber es fällt ein Gegentor. Hätte er bei seiner Einschätzung auch nur einmal gezögert und wäre eine Zehntelsekunde zu spät gekommen, hätte er Rot bekommen. Manu hat alle Situationen perfekt eingeschätzt und keine einzige Schwäche gezeigt. Außerdem: Manu war erst 24 Jahre, als wir ihn 2010 in Südafrika zur Nummer eins gemacht haben und er sein erstes großes Turnier gespielt hat.



Erfahrung - auf keiner Position im Fußball ist sie wichtiger als beim Torwart. Das hat nun auch die Forschung von Dr. Florian Schultz von der Universität Tübingen ergeben, der auf dem 3. DFB-Wissenschaftskongress in Frankfurt heute vom 1. DFB-Vizepräsidenten Dr. Rainer Koch den mit 30.000 Euro dotierten DFB-Wissenschaftspreis 2016 erhalten hat.

Andreas Köpke ist in seiner aktiven Karriere Weltmeister 1990, Europameister und Welttorhüter des Jahres 1996 geworden. Der Torwarttrainer der deutschen Nationalmannschaft und als solcher Weltmeister 2014 erzählt im DFB.de-Interview mit Redakteur Thomas Hackbarth, welche Hinweisgeber Torwarte nutzen, weshalb junge Keeper heute so viel erfahrener sind und was er über "Eye-Tracking-Brillen" denkt.

DFB.de: Andreas Köpke, warum ist Erfahrung gerade auf der Torwartposition so wichtig?

Andreas Köpke: Ich glaube, dass man das als junger Torwart gar nicht so wahrhaben will. Dabei ist es einfach so: Je häufiger man gewisse Situationen erlebt hat, desto besser geht man damit um. Natürlich erkenne ich mit Erfahrung früher, wohin der Schütze schießt, natürlich erkenne ich früher, ob ich beim nächsten langen Ball raus muss. Einfach weil ich schon viel mehr erlebt habe. Erfahrung ist ein enorm wichtiger Faktor, aber auch unsere jungen Torwarte heutzutage haben schon relativ große Erfahrung.

DFB.de: 2006 hatten Sie mit Jens Lehmann und Oliver Kahn zwei Torhüter, die 36 Jahre alt waren. Bei der WM 2014 in Brasilien waren Manuel Neuer und Ron-Robert Zieler im Vergleich 28 beziehungsweise 25 Jahre jung.

Köpke: Dennoch waren beide, Manu und Ron, schon sehr ehrfahren. Durch die Nachwuchsleistungszentren, den frühzeitigen Beginn des professionellen Torwarttrainings und die Junioren-Bundesligen sammelt ein junger Torwart heute viel früher wertvolle Erfahrungen. Auch in der Summe bestreiten junge Torwarte heute mehr Spiele als ich damals. Ich hatte meine besten Jahre, da war ich über 30 Jahre. Diese Phase beginnt heute früher. Kann ein Torwart besser Situationen antizipieren, als Manu im WM-Achtelfinale gegen Algerien? Es waren so viele Szenen dabei, das waren 50:50-Aktionen. Entweder ist man der Held - oder aber es fällt ein Gegentor. Hätte er bei seiner Einschätzung auch nur einmal gezögert und wäre eine Zehntelsekunde zu spät gekommen, hätte er Rot bekommen. Manu hat alle Situationen perfekt eingeschätzt und keine einzige Schwäche gezeigt. Außerdem: Manu war erst 24 Jahre, als wir ihn 2010 in Südafrika zur Nummer eins gemacht haben und er sein erstes großes Turnier gespielt hat.

###more###

DFB.de: Roland Wohlfahrt, Anthony Yeboah und Ulf Kirsten stürmten Anfang der 90er-Jahre in der Bundesliga. Konnten Sie einen von ihnen besonders gut "lesen"?

Köpke: Ich möchte nicht über einzelne Stürmer reden. Aber klar ist, je erfahrener der Torwart ist, desto früher erkennt er schon durch das Platzieren des Standbeins oder die Ausholbewegung, wohin der Schuss gehen wird. Das sind entscheidende Millisekunden. Beim Elfmeter ist es am offensichtlichsten. Zu einem hohen Prozentsatz kann ich sagen, wohin der Schuss geht. Hinweisgeber sind für mich der Anlauf, die Haltung des Oberkörpers und schließlich das Standbein. Entscheidend ist auch, wo der Schütze steht, ist er Rechts- oder Linksfuß. Alles spielt eine Rolle. Und manchmal hält man einen, da weiß man selbst nicht, weshalb man da noch dran kam. Wie dieser Reflex noch möglich war. Mich macht es wahnsinnig, wenn ein Torwart beim Torschuss hinterherschaut und gar nicht reagiert. Wir wollen agieren, wollen einen Schritt auf den Ball zugehen. Wenn man so spielt, gelingt es einem auch eher, eine Hand, die Fingerspitzen oder den Fuß an den Ball zu bekommen. Wenn ich nur schaue und gar nicht erst versuche zu reagieren, kann ich weder Hand noch Fuß an den Ball bekommen, um ein Tor zu verhindern.

DFB.de: Der DFB-Wissenschaftspreis wird heute an Dr. Florian Schultz verliehen, der untersucht hat, wie Torwarte Schüsse antizipieren. Sein Ergebnis: Erfahrene Torwarte erkennen früher und häufiger richtig, wohin der Schuss geht. Ist Erfahrung denn vermittelbar? Können Sie einem jungen Torwart beibringen, wie man richtig antizipiert?

Köpke: Wir haben heute viel stärker die Möglichkeit, mit Videos zu arbeiten. Zuerst mal wollen wir unser eigenes Spiel analysieren. Wie ist mein Stellungsspiel, wie gehe ich zum Ball? Aber auch beim Entschlüsseln des Stürmerverhaltens erreichen wir mit hocheffizienten Videoanalysen sehr viel. Jeder Stürmer hat doch seine Lieblingsschüsse. Unser Scoutingteam und unser Team an der Sporthochschule Köln sehen das Spiel inzwischen mit unseren Augen. Das sind Leute, die wissen exakt, worauf es uns ankommt. So entstehen kurze Videosequenzen, vielleicht zehn oder 15 Minuten lang, die sich unsere Torwarte mehrmals anschauen. Manu muss sich nicht fünf oder sechs Länderspiele von unserem EM-Gruppengegner Ukraine anschauen. Sondern er schaut sich Zusammenschnitte an, um dann hocheffizient die gegnerischen Offensivspieler kennenzulernen. Dazu gehören Standardsituation, Elfmeter, viele Torabschlüsse. Wissenschaft und Praxis arbeiten heute immer enger zusammen. Ich bin ein großer Befürworter des Kongresses - und ich bin mir sicher, dass einige theoretische Erkenntnisse bald in die Praxis übertragen werden können.

DFB.de: Haben Sie die deutschen Torhüter schon mit Eye-Tracking-Brillen trainieren lassen?

Köpke: Unser Problem ist die Zeit. Jede Trainingseinheit der Nationalmannschaft ist unendlich kostbar. Wir haben einen sehr, sehr straffen Zeitplan. Wir haben etwa auch schon mit kinetischen Übungen experimentiert. Ich bin an vielen neuen Ansätzen der Leistungsoptimierung interessiert, aber vieles funktioniert nicht bei der ersten oder dritten Einheit. Man braucht Zeit. Das sind Dinge, die man eher bei den Vereinen umsetzen muss.

DFB.de: Für den Wissenschaftspreis hat Dr. Florian Schultz die Torwart-Antizipation speziell beim Schuss untersucht. Müssen Torwarte heutzutage aber nicht ununterbrochen mitdenken?

Köpke: Ganz genau. Du kannst nicht mehr abschalten. Deshalb ist ja auch die Laufleistung des Torwarts so angewachsen. Zu meiner Zeit lag die Laufleistung bei etwa drei Kilometern pro Spiel, inzwischen liegt sie bei über sechs Kilometern. Ich muss immer total aufmerksam sein, ich muss ständig die Position verändern, vertikal wie horizontal. Das Spiel ist so viel schneller geworden.

###more###