Knut Kircher: "Respektvoller Umgang ist die Lösung"

Am Freitag beginnt die Rückrunde der Fußball-Bundesliga. Die Teams waren in der Sonne, um sich optimal vorzubereiten. Die Schiedsrichter waren in Mainz, zur traditionellen Halbzeittagung. Im DFB.de-Interview mit Redakteur Steffen Lüdeke berichtet Knut Kircher, Deutschlands Schiedsrichter des Jahres, über seine Eindrücke der Halbzeittagung und die Vorfreude auf die kommenden 17 Spieltage.

DFB.de: Herr Kircher, Sie sind Deutschlands Schiedsrichter des Jahres 2012, vom DFB gewählt. In der Kicker-Umfrage unter den Spielern haben Sie hinter Florian Meyer für die Hinrunde "nur" den zweiten Platz belegt. Wer hat mehr Ahnung: die Schiedsrichter-Kommission oder die Spieler der Bundesliga?

Knut Kircher: Darauf kann ich ja gar nicht richtig antworten - alles, was ich sage, könnte falsch sein. (lacht) Ich habe mich sehr gefreut, dass ich von der Schiedsrichter-Kommission diese Anerkennung erfahren habe. Mich macht die Auszeichnung zum Schiedsrichter des Jahres sehr stolz. Aber ich glaube, dass ich für Florian Meyer sprechen kann, wenn ich sage, dass er es genauso als große Auszeichnung empfindet, von den Profis in diesem hohem Maße wertgeschätzt zu werden.

DFB.de: Wo bewahren Sie die Trophäe zum Schiedsrichter des Jahres auf?

Kircher: Zurzeit steht sie bei mir zu Hause im Büro, wir sind noch auf der Suche nach dem idealen Platz.

DFB.de: Sie haben mal gesagt, dass Ihr Haus nicht wie ein typisches Schiedsrichterhaus aussieht. Wie sieht denn ein typisches Schiedsrichterhaus aus?

Kircher: Oder wie sieht ein typisches Fußballerhaus aus? Ich habe damit nur ausdrücken wollen, dass unser Haus nicht mit Wimpeln, Trophäen und sonstigen Devotionalien aus meiner Schiedsrichterzeit übersäht ist. Von meinen internationalen Spielen habe ich viele Andenken, die bewahre ich alle auf, es sind ja schöne Erinnerungen. Aber ich muss sie nicht ungefragt jedem präsentieren, der uns besucht. Wobei der Pokal für den Schiedsrichter des Jahres auf jeden Fall einen Ehrenplatz bekommen wird. Diese Auszeichnung ist schließlich etwas ganz Besonderes.

DFB.de: Am vergangenen Wochenende haben sich die deutschen Schiedsrichter zur Vorbereitung auf die Rückrunde zur Halbzeittagung in Mainz getroffen. Sind die Auszeichnungen dort ein Thema gewesen, haben die Kollegen Ihnen gratuliert? Oder haben Sie und Florian Meyer vielleicht sogar Neid der anderen Schiedsrichter zu spüren bekommen?

Kircher: Ich bin ja nicht erst gestern zum Schiedsrichter des Jahres gewählt worden, von daher haben mir die Kollegen schon vorher gratuliert. Neid? Nein, unter den Schiedsrichtern existiert so etwas nicht. Auch nicht bei der Wahl durch die Profis. Jeder weiß, wie schwer der Job der Schiedsrichter ist, von daher gönnt jeder dem anderen die Erfolge.

DFB.de: Sie gehören zu den erfahrensten Schiedsrichtern in Deutschland und haben schon zahlreiche Stützpunkte absolviert. Haben Sie bei der Tagung der Schiedsrichter in Mainz dennoch etwas Neues gelernt?

Kircher: Es gibt bei jeden Treffen etwas Neues. Nicht unbedingt regeltechnisch, aber in vielen anderen Bereichen. Wir haben immer wieder neue Schwerpunkte, die wir in der kommenden Halbserie ganz besonders im Fokus haben. Außerdem hilft auch den Schiedsrichtern, die schon lange dabei sind, die Analyse und Aufarbeitung der Hinserie anhand von Videosequenzen. Dabei erhalten wir immer wieder Impulse, wie wir uns in welcher Situation anders hätten verhalten können. Auch, was die verbale Kommunikation und die Körpersprache betrifft. Als Schiedsrichter lernt man nie aus. Bei dieser Tagung gab es außerdem schon deswegen neue Inhalte, weil wir beispielsweise ein externes Referat gehört haben, dass die Verletzungsprävention speziell von Schiedsrichtern zum Inhalt hatte. Es gab da durchaus einige Anregungen, die ich künftig in meinen Trainingsablauf integrieren werde.

DFB.de: Es gab auch eine interne Besprechung der Schiedsrichter. Über welche Themen wurde geredet?

Kircher: Man kann diese Besprechung mit einer Mannschaftsbesprechung vergleichen. Fußballer machen es ja auch so, dass sie sich hin und wieder ohne Trainer besprechen. Jeder erzählt von seinen Sorgen und Nöten, auch von positiven Erfahrungen. Ganz wesentliches Kriterium von internen Besprechungen ist aber, dass die Dinge intern bleiben. Ich werde also nicht aus dem Nähkästchen plaudern.

DFB.de: Ein Schiedsrichterthema der Hinrunde war das zum Teil zu aggressive Verhalten der Trainer den Vierten Offiziellen und den Schiedsrichtern gegenüber. Wurde dieses Thema in Mainz erörtert?

Kircher: Nicht in der internen Besprechung, aber es war auf der Tagung allgemein ein Thema. Wir plädieren ja immer wieder für einen respektvollen Umgang miteinander, das muss auch in einem emotionalen Spannungsfeld möglich sein. Und das werden wir in der Rückrunde auch verstärkt einfordern und entsprechend reagieren.

DFB.de: Sie haben einen Trainer mal zum Schweigen gebracht, in dem Sie ihn gefragt haben, wie er es finden würde, wenn Sie in der Öffentlichkeit über seine Taktik und seine Wechsel herziehen würden.

Kircher: Das hat funktioniert, stimmt. Aber das kann nicht der allgemeine Weg sein, respektvoller Umgang ist die Lösung!

DFB.de: Und doch ist es fast Gang und Gäbe, dass der Schiedsrichter Blitzableiter ist. Wie lässt sich da ein Bewusstseinswandel schaffen?

Kircher: Ich bin optimistisch, dass wir wieder dahin kommen, wo wir mal waren. Emotionen sind gut, Trainer und Spieler sollen sie auch ausleben können. Und die Schiedsrichter sind die Letzten, die empfindlich reagieren, wenn es mal etwas lauter wird. Aber eine gewisse Grenze darf nicht überschritten werden. Ich bin allerdings zuversichtlich, dass es uns gelingt, hier mehr Sensibilität bei den Beteiligten zu erreichen. Herbert Fandel wird dieses Thema auch auf der Trainertagung am kommenden Wochenende sehr deutlich ansprechen. Ich habe großes Vertrauen, dass es ihm gelingt, bei den Trainern nachhaltig Einsicht zu erzeugen.

DFB.de: Lutz Fröhlich hat in seiner Analyse der Hinrunde gesagt, dass es Verbesserungsmöglichkeiten gibt, was die Einheitlichkeit in der Bewertung des Armeinsatzes bei Laufduellen und im Luftkampf gibt. Wie wurde daran in Mainz gearbeitet?

Kircher: Letztendlich mit bewegten Bildern. Uns wurden Videosequenzen aus der Hinrunde vorgeführt. Wir haben versucht, eine Art Schablone über die Aktionen zu legen, die uns einheitliche Bewertungsmaßstäbe erlaubt. Welche Aktion gehört in welche Kategorie? Wir haben versucht, ein Idealbild zu erarbeiten, an dem sich die Schiedsrichter und die Schiedsrichter-Assistenten orientieren können. Jetzt gilt es, dies in die Praxis umzusetzen.

DFB.de: Wenn DFB-Schiedsrichterabteilungsleiter Fröhlich Szenen vorführt - sind die Unparteiischen dann immer einer Meinung? Oder kommt es vor, dass kein Konsens erzielt wird bei der Bewertung einer Spielszene?

Kircher: Es gibt immer Situationen, über die auch wir Schiedsrichter lange diskutieren. Oft ist ja mehr als ein Weg in der Entscheidung begründbar. Es sind genau diese Szenen im Graubereich, die wir diskutieren. Dabei sind wir immer bestrebt, diesen Graubereich zu verringern. Und am Ende ist es immer so, dass wir einen Konsens erzielen, an dem sich künftig alle orientieren können.

DFB.de: Wurden auf der Tagung Szenen vorgeführt, an denen Sie beteiligt waren?

Kircher: Da muss ich nachdenken. Nein, ich glaube diesmal nicht. (lacht) Wobei es ja nicht nur so ist, dass ausschließlich negative Szenen gezeigt werden. Und ich will betonen, dass auf den Tagungen Szenen vorgeführt werden, aber keine Schiedsrichter. Es geht nie darum, jemanden für eine Fehlentscheidung an den Pranger zu stellen. Es geht immer um die Sache: um die einheitliche Regelauslegung.

DFB.de: DFL-Schiedsrichterchef Hellmut Krug hat Potenzial für Verbesserung bei der Teamarbeit innerhalb des Schiedsrichtergespanns ausgemacht. Was meint er konkret? Und wie kann es künftig besser werden?

Kircher: Auf Schiedsrichterseite sind vier Personen an einem Spiel beteiligt. Jeder von ihnen nimmt das Spielgeschehen aus einem anderen Blickwinkel wahr. Und jeder sieht damit auch eine andere, eine eigene Realität. Es muss deswegen gewisse Verhaltensmuster geben, damit beispielsweise die Assistenten wissen, in welchen Situationen sie dem Schiedsrichter mit ihrer Wahrnehmung helfen sollten und in welchen nicht. Da war in der Hinrunde nicht immer alles optimal.

DFB.de: Ein Beispiel, bitte!

Kircher: Es ist schwierig, dies an Beispielen festzumachen. Am plakativsten sind wohl die Situationen, in der die Entscheidung sehr spät kam, weil die Kommunikation vom Assistenten an den Schiedsrichter zu lange gedauert hat. Wichtig ist auch, dass sich alle im Team in die Rolle des anderen hineinversetzen können. Ein Schiedsrichter muss beispielsweise ein Gespür dafür entwickeln, ob ein Assistent eine Spielszene, die sich vor dessen Augen abspielt, wahrnehmen kann. Oder ob der Assistent in dieser Situation den Fokus auf Grund seiner Aufgabe schon wieder auf etwas anderem haben muss. Beispielsweise, weil er sich schon wieder auf eine Abseitsentscheidung einstellen muss. Das gilt auch umgekehrt. Es kann auch Situationen geben, in denen der Schiedsrichter direkt neben dem Spielgeschehen steht, er aber mit seinen Augen schon wieder den Ball und die nächste Aktion im Fokus haben muss. Dann muss er sich darauf verlassen können, dass der Assistent seine Augen weiter auf dem Zweikampf hat, der sich unmittelbar vor dem Schiedsrichter abspielt.

DFB.de: Bei der letzten Tagung der Schiedsrichter waren die Fußangriffe mit offener Sohle ein Schwerpunkt. Genau in diesem Bereich hat es eine signifikante Verbesserung gegeben.

Kircher: Das stimmt, das ist ja auch Sinn und Zweck der Stützpunkte.

DFB.de: Was bleibt denn noch übrig, wenn künftig die "Schwachpunke" Armeinsatz und Teamarbeit beseitigt sind? Sind dann alle Schiedsrichter perfekt?

Kircher: Eine schöne Vorstellung. (lacht) Wir wären schon froh, wenn in der öffentlichen Wahrnehmung die Zahl der fehlerfreien Spielleitungen steigen würde. Es wird im Fußball immer wieder Strömungen geben, auf die wir Schiedsrichter reagieren müssen. Ich habe wirklich keine Sorge, es wird nicht so sein, dass wir uns auf künftigen Stützpunkten gegenseitig nur auf die Schultern klopfen und uns gegenseitig versichern, wie toll wir alle sind. Solange es Schiedsrichter gibt, werden diese Fehler machen. Das gehört dazu, es schließt aber nicht aus, dass wir immer bestrebt sein werden, die Anzahl der Fehler zu reduzieren.

DFB.de: Wie gehen Sie mit Fehlentscheidungen um?

Kircher: Das hängt immer von den konkreten Umständen ab. Es gibt Fehler, die erklärbar sind. Vielleicht weil ein Spieler im entscheidenden Moment das Blickfeld gekreuzt hat. Oder weil sich die Szene völlig abseits des Spielgeschehens abgespielt hat. Solche Fälle sind ärgerlich, keine Frage. Aber das muss man als Schiedsrichter akzeptieren. Schwieriger sind Fälle, in denen einem ein drastischer Wahrnehmungsfehler unterlaufen ist. Es kommt schon vor, dass ich mir dann tagelang Gedanken mache, wie mir das passieren konnte. Ich glaube, dass das ähnlich ist wie bei einem Stürmer, der eine Großchance liegen lässt. Oder einem Torhüter, der daneben gegriffen hat.

DFB.de: Wie wichtig ist das Selbstbewusstsein für einen Schiedsrichter?

Kircher: Es geht nicht ohne. Wenn man im Geschäft Profifußball tätig ist, dann muss man mit einem gesunden Selbstvertrauen ausgestattet sein. Ansonsten ist man viel zu leicht beeinflussbar und nicht fähig, unabhängig Entscheidungen treffen zu können. Das gilt aber auch für die Schiedsrichter im Amateur- und Jugendbereich. Als Schiedsrichter übernimmt man Verantwortung, Selbstzweifel sind da ein schlechter Ratgeber.

DFB.de: Sind Sie nach Spielen mehr psychisch als physisch erschöpft?

Kircher: Das hängt von den Spielen ab. Es gibt Partien, die in wahnsinnig hohem Tempo hin- und hergehen. Dann ist man als Schiedsrichter auch in hohem Maße körperlich gefordert. Dann gibt es Partien, die einen hohen Stellenwert haben, die aber viel weniger intensiv sind, was die Geschwindigkeit des Spiels betrifft. Dann kann es schon sein, dass der Schiedsrichter mehr psychisch als physisch belastet ist.

DFB.de: Und wie trainieren Sie die psychische Belastbarkeit?

Kircher: Es gab bereits Stützpunkte, auf denen die psychische Belastung Thema war. Wir haben uns dabei insbesondere die Frage gestellt, welche Möglichkeiten es in der mentalen Vorbereitung gibt. Aber letztendlich löst jeder Schiedsrichter dies für sich und individuell. Mit autogenem Training beispielsweise oder mit Meditation.

DFB.de: Sie haben Ende des vergangenen Jahres freiwillig als FIFA-Schiedsrichter aufgehört. Warum eigentlich?

Kircher: Ich habe im internationalen Bereich viel erlebt, ich durfte viele tolle Erfahrungen machen und bin viel rumgekommen. Wenn man so will, habe ich dort meinen Zenit erreicht. Es war einfach so, dass ich mich mit dem Familienrat zusammengesetzt und überlegt habe, wo die Reise hin geht. Ich bin dann zum Schluss gekommen, dass ich international nicht mehr sehr viel erreichen kann. Dann war es für mich nur logisch, dass ich für jüngere Schiedsrichter, die ihre internationale Karriere noch vor sich haben, Platz mache.

DFB.de: Das klingt sehr altruistisch. Als Sie im Jahr 2004 die Nachricht erhalten haben, dass Sie auf der FIFA-Liste stehen, haben Sie gesagt: "Ich habe vormittags auf der Fahrt ins Geschäft von der Nominierung erfahren. Ich wäre am liebsten umgedreht, um zu Hause eine Flasche Sekt zu öffnen." Fällt Ihnen der Abschied tatsächlich so leicht? Sie müssen doch wehmütig sein…

Kircher: Überhaupt nicht. Ich habe mich damals wahnsinnig gefreut, das stimmt. Ich habe mich aber auch wahnsinnig gefreut, als ich von der Auszeichnung zum Schiedsrichter des Jahres erfahren habe. Da hätte ich genauso am liebsten umgedreht und eine Flasche Sekt geöffnet. Oder zumindest angehalten und laut gejubelt. Ich bin aber ein Freund davon zu erkennen, wenn Dinge vorbei sind. Wie gesagt: Die Zeit als FIFA-Schiedsrichter war für mich sehr wertvoll. Ich will von ihr nichts missen. Aber jetzt war der Zeitpunkt gekommen, es zu beenden. Wichtig war für mich auch, dass ich den Zeitpunkt selbst bestimmen konnte. Mich hat niemand gedrängt, ich musste nicht aufhören. Deswegen bin ich auch nicht wehmütig.

DFB.de: Am kommenden Wochenende beginnt die zweite Saisonhälfte in der Bundesliga. Sind die Schiedsrichter gut vorbereitet?

Kircher: Absolut. Wir sind fit, wir haben unsere Hausarbeiten gemacht.

DFB.de: Gibt es Dinge, die Sie sich für die zweite Hälfte der Saison vorgenommen haben? Spieler nennen bei dieser Frage oft Titel, Stürmer vielleicht Tore. Wie ist es bei den Schiedsrichtern: nicht mehr als eine bestimmte Zahl Fehlentscheidungen?

Kircher: Ich zähle meine Fehlentscheidungen nicht, das machen andere. (lacht) Für mich und mein Gespann geht es immer darum, die nächste Aufgabe, sprich das nächste Spiel, so gut es geht zu lösen und damit meinen Teil zu einem guten Fußballspiel beizutragen.

DFB.de: Sie werden künftig nicht mehr international agieren. Auch national müssten Ihnen die Ziele ausgehen. Das Finale des DFB-Pokals haben Sie ja schon geleitet.

Kircher: Und doch bleiben viele Ziele. Ich bin ehrgeizig genug zu sagen, dass ich die dreieinhalb Spielzeiten, die vor mir liegen, bis ich die Altersgrenze erreiche, voll auskosten will. In den Profiligen liegen noch ganz viele Spiele vor mir. Dabei gilt jedes Mal aufs Neue: Ich will maximalen Erfolg und minimale Auffälligkeit, aber mit aller notwendigen Konsequenz in der Spielleitung!

Das meinen die DFB.de User:

Ich selber bin seit 37 Jahren Schiedsrichter und es macht mich stolz, auch als Amateur zur Schiedsrichter-Gilde zu gehören. Knut Kircher ist für jeden Unparteiischen ein absolutes Vorbild. Ich würde mir sehr wünschen, wenn von den Trainern auch so argumentiert würde. (Gerd Basler, Ottmarsheim)

[sl]

[bild1]

Am Freitag beginnt die Rückrunde der Fußball-Bundesliga. Die Teams waren in der Sonne, um sich optimal vorzubereiten. Die Schiedsrichter waren in Mainz, zur traditionellen Halbzeittagung. Im DFB.de-Interview mit Redakteur Steffen Lüdeke berichtet Knut Kircher, Deutschlands Schiedsrichter des Jahres, über seine Eindrücke der Halbzeittagung und die Vorfreude auf die kommenden 17 Spieltage.

DFB.de: Herr Kircher, Sie sind Deutschlands Schiedsrichter des Jahres 2012, vom DFB gewählt. In der Kicker-Umfrage unter den Spielern haben Sie hinter Florian Meyer für die Hinrunde "nur" den zweiten Platz belegt. Wer hat mehr Ahnung: die Schiedsrichter-Kommission oder die Spieler der Bundesliga?

Knut Kircher: Darauf kann ich ja gar nicht richtig antworten - alles, was ich sage, könnte falsch sein. (lacht) Ich habe mich sehr gefreut, dass ich von der Schiedsrichter-Kommission diese Anerkennung erfahren habe. Mich macht die Auszeichnung zum Schiedsrichter des Jahres sehr stolz. Aber ich glaube, dass ich für Florian Meyer sprechen kann, wenn ich sage, dass er es genauso als große Auszeichnung empfindet, von den Profis in diesem hohem Maße wertgeschätzt zu werden.

DFB.de: Wo bewahren Sie die Trophäe zum Schiedsrichter des Jahres auf?

Kircher: Zurzeit steht sie bei mir zu Hause im Büro, wir sind noch auf der Suche nach dem idealen Platz.

DFB.de: Sie haben mal gesagt, dass Ihr Haus nicht wie ein typisches Schiedsrichterhaus aussieht. Wie sieht denn ein typisches Schiedsrichterhaus aus?

Kircher: Oder wie sieht ein typisches Fußballerhaus aus? Ich habe damit nur ausdrücken wollen, dass unser Haus nicht mit Wimpeln, Trophäen und sonstigen Devotionalien aus meiner Schiedsrichterzeit übersäht ist. Von meinen internationalen Spielen habe ich viele Andenken, die bewahre ich alle auf, es sind ja schöne Erinnerungen. Aber ich muss sie nicht ungefragt jedem präsentieren, der uns besucht. Wobei der Pokal für den Schiedsrichter des Jahres auf jeden Fall einen Ehrenplatz bekommen wird. Diese Auszeichnung ist schließlich etwas ganz Besonderes.

DFB.de: Am vergangenen Wochenende haben sich die deutschen Schiedsrichter zur Vorbereitung auf die Rückrunde zur Halbzeittagung in Mainz getroffen. Sind die Auszeichnungen dort ein Thema gewesen, haben die Kollegen Ihnen gratuliert? Oder haben Sie und Florian Meyer vielleicht sogar Neid der anderen Schiedsrichter zu spüren bekommen?

Kircher: Ich bin ja nicht erst gestern zum Schiedsrichter des Jahres gewählt worden, von daher haben mir die Kollegen schon vorher gratuliert. Neid? Nein, unter den Schiedsrichtern existiert so etwas nicht. Auch nicht bei der Wahl durch die Profis. Jeder weiß, wie schwer der Job der Schiedsrichter ist, von daher gönnt jeder dem anderen die Erfolge.

DFB.de: Sie gehören zu den erfahrensten Schiedsrichtern in Deutschland und haben schon zahlreiche Stützpunkte absolviert. Haben Sie bei der Tagung der Schiedsrichter in Mainz dennoch etwas Neues gelernt?

Kircher: Es gibt bei jeden Treffen etwas Neues. Nicht unbedingt regeltechnisch, aber in vielen anderen Bereichen. Wir haben immer wieder neue Schwerpunkte, die wir in der kommenden Halbserie ganz besonders im Fokus haben. Außerdem hilft auch den Schiedsrichtern, die schon lange dabei sind, die Analyse und Aufarbeitung der Hinserie anhand von Videosequenzen. Dabei erhalten wir immer wieder Impulse, wie wir uns in welcher Situation anders hätten verhalten können. Auch, was die verbale Kommunikation und die Körpersprache betrifft. Als Schiedsrichter lernt man nie aus. Bei dieser Tagung gab es außerdem schon deswegen neue Inhalte, weil wir beispielsweise ein externes Referat gehört haben, dass die Verletzungsprävention speziell von Schiedsrichtern zum Inhalt hatte. Es gab da durchaus einige Anregungen, die ich künftig in meinen Trainingsablauf integrieren werde.

DFB.de: Es gab auch eine interne Besprechung der Schiedsrichter. Über welche Themen wurde geredet?

Kircher: Man kann diese Besprechung mit einer Mannschaftsbesprechung vergleichen. Fußballer machen es ja auch so, dass sie sich hin und wieder ohne Trainer besprechen. Jeder erzählt von seinen Sorgen und Nöten, auch von positiven Erfahrungen. Ganz wesentliches Kriterium von internen Besprechungen ist aber, dass die Dinge intern bleiben. Ich werde also nicht aus dem Nähkästchen plaudern.

DFB.de: Ein Schiedsrichterthema der Hinrunde war das zum Teil zu aggressive Verhalten der Trainer den Vierten Offiziellen und den Schiedsrichtern gegenüber. Wurde dieses Thema in Mainz erörtert?

Kircher: Nicht in der internen Besprechung, aber es war auf der Tagung allgemein ein Thema. Wir plädieren ja immer wieder für einen respektvollen Umgang miteinander, das muss auch in einem emotionalen Spannungsfeld möglich sein. Und das werden wir in der Rückrunde auch verstärkt einfordern und entsprechend reagieren.

DFB.de: Sie haben einen Trainer mal zum Schweigen gebracht, in dem Sie ihn gefragt haben, wie er es finden würde, wenn Sie in der Öffentlichkeit über seine Taktik und seine Wechsel herziehen würden.

Kircher: Das hat funktioniert, stimmt. Aber das kann nicht der allgemeine Weg sein, respektvoller Umgang ist die Lösung!

DFB.de: Und doch ist es fast Gang und Gäbe, dass der Schiedsrichter Blitzableiter ist. Wie lässt sich da ein Bewusstseinswandel schaffen?

Kircher: Ich bin optimistisch, dass wir wieder dahin kommen, wo wir mal waren. Emotionen sind gut, Trainer und Spieler sollen sie auch ausleben können. Und die Schiedsrichter sind die Letzten, die empfindlich reagieren, wenn es mal etwas lauter wird. Aber eine gewisse Grenze darf nicht überschritten werden. Ich bin allerdings zuversichtlich, dass es uns gelingt, hier mehr Sensibilität bei den Beteiligten zu erreichen. Herbert Fandel wird dieses Thema auch auf der Trainertagung am kommenden Wochenende sehr deutlich ansprechen. Ich habe großes Vertrauen, dass es ihm gelingt, bei den Trainern nachhaltig Einsicht zu erzeugen.

DFB.de: Lutz Fröhlich hat in seiner Analyse der Hinrunde gesagt, dass es Verbesserungsmöglichkeiten gibt, was die Einheitlichkeit in der Bewertung des Armeinsatzes bei Laufduellen und im Luftkampf gibt. Wie wurde daran in Mainz gearbeitet?

Kircher: Letztendlich mit bewegten Bildern. Uns wurden Videosequenzen aus der Hinrunde vorgeführt. Wir haben versucht, eine Art Schablone über die Aktionen zu legen, die uns einheitliche Bewertungsmaßstäbe erlaubt. Welche Aktion gehört in welche Kategorie? Wir haben versucht, ein Idealbild zu erarbeiten, an dem sich die Schiedsrichter und die Schiedsrichter-Assistenten orientieren können. Jetzt gilt es, dies in die Praxis umzusetzen.

DFB.de: Wenn DFB-Schiedsrichterabteilungsleiter Fröhlich Szenen vorführt - sind die Unparteiischen dann immer einer Meinung? Oder kommt es vor, dass kein Konsens erzielt wird bei der Bewertung einer Spielszene?

Kircher: Es gibt immer Situationen, über die auch wir Schiedsrichter lange diskutieren. Oft ist ja mehr als ein Weg in der Entscheidung begründbar. Es sind genau diese Szenen im Graubereich, die wir diskutieren. Dabei sind wir immer bestrebt, diesen Graubereich zu verringern. Und am Ende ist es immer so, dass wir einen Konsens erzielen, an dem sich künftig alle orientieren können.

DFB.de: Wurden auf der Tagung Szenen vorgeführt, an denen Sie beteiligt waren?

Kircher: Da muss ich nachdenken. Nein, ich glaube diesmal nicht. (lacht) Wobei es ja nicht nur so ist, dass ausschließlich negative Szenen gezeigt werden. Und ich will betonen, dass auf den Tagungen Szenen vorgeführt werden, aber keine Schiedsrichter. Es geht nie darum, jemanden für eine Fehlentscheidung an den Pranger zu stellen. Es geht immer um die Sache: um die einheitliche Regelauslegung.

DFB.de: DFL-Schiedsrichterchef Hellmut Krug hat Potenzial für Verbesserung bei der Teamarbeit innerhalb des Schiedsrichtergespanns ausgemacht. Was meint er konkret? Und wie kann es künftig besser werden?

[bild2]

Kircher: Auf Schiedsrichterseite sind vier Personen an einem Spiel beteiligt. Jeder von ihnen nimmt das Spielgeschehen aus einem anderen Blickwinkel wahr. Und jeder sieht damit auch eine andere, eine eigene Realität. Es muss deswegen gewisse Verhaltensmuster geben, damit beispielsweise die Assistenten wissen, in welchen Situationen sie dem Schiedsrichter mit ihrer Wahrnehmung helfen sollten und in welchen nicht. Da war in der Hinrunde nicht immer alles optimal.

DFB.de: Ein Beispiel, bitte!

Kircher: Es ist schwierig, dies an Beispielen festzumachen. Am plakativsten sind wohl die Situationen, in der die Entscheidung sehr spät kam, weil die Kommunikation vom Assistenten an den Schiedsrichter zu lange gedauert hat. Wichtig ist auch, dass sich alle im Team in die Rolle des anderen hineinversetzen können. Ein Schiedsrichter muss beispielsweise ein Gespür dafür entwickeln, ob ein Assistent eine Spielszene, die sich vor dessen Augen abspielt, wahrnehmen kann. Oder ob der Assistent in dieser Situation den Fokus auf Grund seiner Aufgabe schon wieder auf etwas anderem haben muss. Beispielsweise, weil er sich schon wieder auf eine Abseitsentscheidung einstellen muss. Das gilt auch umgekehrt. Es kann auch Situationen geben, in denen der Schiedsrichter direkt neben dem Spielgeschehen steht, er aber mit seinen Augen schon wieder den Ball und die nächste Aktion im Fokus haben muss. Dann muss er sich darauf verlassen können, dass der Assistent seine Augen weiter auf dem Zweikampf hat, der sich unmittelbar vor dem Schiedsrichter abspielt.

DFB.de: Bei der letzten Tagung der Schiedsrichter waren die Fußangriffe mit offener Sohle ein Schwerpunkt. Genau in diesem Bereich hat es eine signifikante Verbesserung gegeben.

Kircher: Das stimmt, das ist ja auch Sinn und Zweck der Stützpunkte.

DFB.de: Was bleibt denn noch übrig, wenn künftig die "Schwachpunke" Armeinsatz und Teamarbeit beseitigt sind? Sind dann alle Schiedsrichter perfekt?

Kircher: Eine schöne Vorstellung. (lacht) Wir wären schon froh, wenn in der öffentlichen Wahrnehmung die Zahl der fehlerfreien Spielleitungen steigen würde. Es wird im Fußball immer wieder Strömungen geben, auf die wir Schiedsrichter reagieren müssen. Ich habe wirklich keine Sorge, es wird nicht so sein, dass wir uns auf künftigen Stützpunkten gegenseitig nur auf die Schultern klopfen und uns gegenseitig versichern, wie toll wir alle sind. Solange es Schiedsrichter gibt, werden diese Fehler machen. Das gehört dazu, es schließt aber nicht aus, dass wir immer bestrebt sein werden, die Anzahl der Fehler zu reduzieren.

DFB.de: Wie gehen Sie mit Fehlentscheidungen um?

Kircher: Das hängt immer von den konkreten Umständen ab. Es gibt Fehler, die erklärbar sind. Vielleicht weil ein Spieler im entscheidenden Moment das Blickfeld gekreuzt hat. Oder weil sich die Szene völlig abseits des Spielgeschehens abgespielt hat. Solche Fälle sind ärgerlich, keine Frage. Aber das muss man als Schiedsrichter akzeptieren. Schwieriger sind Fälle, in denen einem ein drastischer Wahrnehmungsfehler unterlaufen ist. Es kommt schon vor, dass ich mir dann tagelang Gedanken mache, wie mir das passieren konnte. Ich glaube, dass das ähnlich ist wie bei einem Stürmer, der eine Großchance liegen lässt. Oder einem Torhüter, der daneben gegriffen hat.

DFB.de: Wie wichtig ist das Selbstbewusstsein für einen Schiedsrichter?

Kircher: Es geht nicht ohne. Wenn man im Geschäft Profifußball tätig ist, dann muss man mit einem gesunden Selbstvertrauen ausgestattet sein. Ansonsten ist man viel zu leicht beeinflussbar und nicht fähig, unabhängig Entscheidungen treffen zu können. Das gilt aber auch für die Schiedsrichter im Amateur- und Jugendbereich. Als Schiedsrichter übernimmt man Verantwortung, Selbstzweifel sind da ein schlechter Ratgeber.

DFB.de: Sind Sie nach Spielen mehr psychisch als physisch erschöpft?

Kircher: Das hängt von den Spielen ab. Es gibt Partien, die in wahnsinnig hohem Tempo hin- und hergehen. Dann ist man als Schiedsrichter auch in hohem Maße körperlich gefordert. Dann gibt es Partien, die einen hohen Stellenwert haben, die aber viel weniger intensiv sind, was die Geschwindigkeit des Spiels betrifft. Dann kann es schon sein, dass der Schiedsrichter mehr psychisch als physisch belastet ist.

DFB.de: Und wie trainieren Sie die psychische Belastbarkeit?

Kircher: Es gab bereits Stützpunkte, auf denen die psychische Belastung Thema war. Wir haben uns dabei insbesondere die Frage gestellt, welche Möglichkeiten es in der mentalen Vorbereitung gibt. Aber letztendlich löst jeder Schiedsrichter dies für sich und individuell. Mit autogenem Training beispielsweise oder mit Meditation.

DFB.de: Sie haben Ende des vergangenen Jahres freiwillig als FIFA-Schiedsrichter aufgehört. Warum eigentlich?

Kircher: Ich habe im internationalen Bereich viel erlebt, ich durfte viele tolle Erfahrungen machen und bin viel rumgekommen. Wenn man so will, habe ich dort meinen Zenit erreicht. Es war einfach so, dass ich mich mit dem Familienrat zusammengesetzt und überlegt habe, wo die Reise hin geht. Ich bin dann zum Schluss gekommen, dass ich international nicht mehr sehr viel erreichen kann. Dann war es für mich nur logisch, dass ich für jüngere Schiedsrichter, die ihre internationale Karriere noch vor sich haben, Platz mache.

DFB.de: Das klingt sehr altruistisch. Als Sie im Jahr 2004 die Nachricht erhalten haben, dass Sie auf der FIFA-Liste stehen, haben Sie gesagt: "Ich habe vormittags auf der Fahrt ins Geschäft von der Nominierung erfahren. Ich wäre am liebsten umgedreht, um zu Hause eine Flasche Sekt zu öffnen." Fällt Ihnen der Abschied tatsächlich so leicht? Sie müssen doch wehmütig sein…

Kircher: Überhaupt nicht. Ich habe mich damals wahnsinnig gefreut, das stimmt. Ich habe mich aber auch wahnsinnig gefreut, als ich von der Auszeichnung zum Schiedsrichter des Jahres erfahren habe. Da hätte ich genauso am liebsten umgedreht und eine Flasche Sekt geöffnet. Oder zumindest angehalten und laut gejubelt. Ich bin aber ein Freund davon zu erkennen, wenn Dinge vorbei sind. Wie gesagt: Die Zeit als FIFA-Schiedsrichter war für mich sehr wertvoll. Ich will von ihr nichts missen. Aber jetzt war der Zeitpunkt gekommen, es zu beenden. Wichtig war für mich auch, dass ich den Zeitpunkt selbst bestimmen konnte. Mich hat niemand gedrängt, ich musste nicht aufhören. Deswegen bin ich auch nicht wehmütig.

DFB.de: Am kommenden Wochenende beginnt die zweite Saisonhälfte in der Bundesliga. Sind die Schiedsrichter gut vorbereitet?

Kircher: Absolut. Wir sind fit, wir haben unsere Hausarbeiten gemacht.

DFB.de: Gibt es Dinge, die Sie sich für die zweite Hälfte der Saison vorgenommen haben? Spieler nennen bei dieser Frage oft Titel, Stürmer vielleicht Tore. Wie ist es bei den Schiedsrichtern: nicht mehr als eine bestimmte Zahl Fehlentscheidungen?

Kircher: Ich zähle meine Fehlentscheidungen nicht, das machen andere. (lacht) Für mich und mein Gespann geht es immer darum, die nächste Aufgabe, sprich das nächste Spiel, so gut es geht zu lösen und damit meinen Teil zu einem guten Fußballspiel beizutragen.

DFB.de: Sie werden künftig nicht mehr international agieren. Auch national müssten Ihnen die Ziele ausgehen. Das Finale des DFB-Pokals haben Sie ja schon geleitet.

Kircher: Und doch bleiben viele Ziele. Ich bin ehrgeizig genug zu sagen, dass ich die dreieinhalb Spielzeiten, die vor mir liegen, bis ich die Altersgrenze erreiche, voll auskosten will. In den Profiligen liegen noch ganz viele Spiele vor mir. Dabei gilt jedes Mal aufs Neue: Ich will maximalen Erfolg und minimale Auffälligkeit, aber mit aller notwendigen Konsequenz in der Spielleitung!

Das meinen die DFB.de User:

Ich selber bin seit 37 Jahren Schiedsrichter und es macht mich stolz, auch als Amateur zur Schiedsrichter-Gilde zu gehören. Knut Kircher ist für jeden Unparteiischen ein absolutes Vorbild. Ich würde mir sehr wünschen, wenn von den Trainern auch so argumentiert würde. (Gerd Basler, Ottmarsheim)