Kahn: "Ich habe viel über das Leben gelernt"

Oliver Kahn hat alles erlebt: Titel und Triumphe, Tränen und Tragödien. Über zwei Jahrzehnte prägte er die Bundesliga wie kaum ein zweiter Torwart vor und nach ihm. Er war Rückhalt des FC Bayern München und lange die Nummer 1 der Nationalmannschaft. Doch Kahn war immer mehr als ein Ausnahmesportler. Er war und ist einer, der die Augen und den Mund aufmacht, der sich kümmert, der sich unter anderem für die Sepp Herberger-Stiftung engagiert. Mit DFB.de-Redakteur Gereon Tönnihsen hat sich der 40-Jährige darüber unterhalten, was ihm außer dem Fußball wichtig ist. Und das ist so einiges.

DFB.de: Herr Kahn, Sie sind Botschafter der Sepp Herberger-Stiftung, arbeiten mit dem Kinderschutzbund zusammen, haben einen Teil der Einnahmen aus Ihrem Abschiedsspiel gespendet. Bedeutet in der Öffentlichkeit zu stehen für Sie auch, soziale Verantwortung zu übernehmen?

Oliver Kahn: Ja, selbstverständlich. Es geht ja darum, einer Vorbildfunktion gerecht zu werden. Ich hatte sehr viel Glück, diesen Beruf so lange ausüben zu dürfen. Gerade im Austausch mit jungen Menschen stelle ich immer wieder fest, dass sie sehr viel Interesse an einem Sportler, an einer Figur in der Öffentlichkeit haben. Und ich habe gemerkt, dass ich viel zurück- und den Kindern und Jugendlichen etwas mitgeben kann. Soziales Engagement sollte keine imagepflegende Geschichte sein, sondern von Herzen kommen und auch etwas bewirken.

DFB.de: Wieso steht bei Ihnen das Engagement für junge Menschen im Vordergrund?

Kahn: Es ist wichtig, diese Menschen zu animieren, ihnen zu sagen: Der Sport kann dir viel geben. Das habe ich wieder während meiner „Ich schaff’s“-Tour gespürt, bei der ich zwölf bayerische Schulen besucht und mit Schülern gesprochen habe. Aber nicht nur der Sport, sondern all die geistigen und mentalen Dinge, die man im Sport fürs Leben lernt – sie sind wichtig und wertvoll. Man wird Teamplayer, muss aber darauf achten, man selbst zu bleiben.

DFB.de: Sie sind Botschafter für die Sepp Herberger-Stiftung bei der Aktion „Anstoß für ein neues Leben“, haben auch junge Gefängnisinsassen besucht. Was bewirkt so ein Besuch bei Ihnen?

Kahn: Nach dem Besuch war ich den ganzen Tag ergriffen. Ich habe mich gefragt: Warum musste es bei diesen jungen Leuten so kommen? Diese ganzen Schicksale, die dort vereint sind – das macht einen nachdenklich. Aber es gibt einem auch Mut, sich zu kümmern, wenn man sieht, was die Menschen in den Gefängnissen dort machen, um diese jungen Leute wieder auf die Spur zu bringen.

DFB.de: Welche Rolle spielt an solch einem Ort der Fußball?

Kahn: Eine typische Rolle, die der Fußball immer wieder einnimmt: Er verbindet die Häftlinge, er gibt Halt, er macht Spaß und gibt Sinn. Ich weiß nicht, ob die Leute das auch reflektieren. Aber sie spüren es. Wenn sie solche Erfahrungen mitnehmen können und lernen, sich zu integrieren, den Sinn des Sports zu begreifen, dann hilft ihnen das womöglich auch, wenn sie in Freiheit sind. Dann kann der Fußball eine reintegrative Kraft sein. Wie gesagt: kann. Zu viel darf man vom Fußball auch nicht verlangen.

DFB.de: Was lernen Sie bei Treffen mit jungen Leuten, etwa bei Ihrer „Ich schaff’s“-Tour?

Kahn: Man macht viele Erfahrungen über sie: Was ihre Ziele sind, ihre Träume, was sie unter Motivation verstehen, wie sie mit Niederlagen umgehen, dass manche aber auch gar keine Ziele besitzen. An einer Schule hat ein Junge gesagt: Mein Ziel ist es, meine Mitschüler zu verprügeln. Da bin ich zu ihm hin und habe ihn gefragt, ob er nicht glaubt, dass es auch andere Dinge gibt, die ihm Spaß machen und die ihm wichtig sind. Nur dadurch, dass ich ihm zugehört, mich um ihn gekümmert habe, war das innerhalb von ein paar Minuten ein ganz anderer junger Mann. Er hat angefangen, kluge Sachen zu sagen. Er hat sich respektiert gefühlt, wertgeschätzt, ernst genommen. Dann gehst du heim und fühlst dich fantastisch.

DFB.de: Sie selbst haben in Ihrer Autobiografie „Ich. Erfolg kommt von innen“ geschrieben, dass Sie als Spieler an einem Burnout-Syndrom litten. Mit solchen und anderen psychischen Erkrankungen befasst sich nun die Robert-Enke-Stiftung. Sehen Sie das als ein Gebot der Zeit an?

Kahn: Ja, es wird Zeit, dass man mit dem Thema Belastung und Druck im Leistungssport offener umgeht. Ich glaube, dass auch die Fußballbranche dabei ist, dieses einst machohafte Gehabe abzulegen und zu akzeptieren, dass viele Menschen solche Probleme haben: Depressionen, Angst, Burnout. Dazu hat man ja mitunter auch eine genetische Veranlagung. Wie wichtig ein offener Umgang ist, zeigt ja auch das dramatische Beispiel Robert Enke.

DFB.de: Hat der Druck in Ihrer Karriere zugenommen?

Kahn: Der einzige Druck, der zugenommen hat, war der, den ich mir selbst gemacht habe. Immer gewinnen wollen, immer der Beste sein. Diesem Druck habe ich nur durch mentale Techniken standhalten können. Ich habe dazu einen Coach in Anspruch genommen. Das hat mir sehr geholfen.

DFB.de: Auch, als Sie erfahren haben, dass Sie bei der WM 2006 nur die Nummer zwei sein würden?

Kahn: Ich war schon ein, zwei Tage am Boden zerstört. Aber ich habe mich dann entschieden, trotzdem mitzufahren. Alles andere wäre nur ein Davonlaufen gewesen. Es gibt immer einen Ausweg, wenn man bereit ist, anders auf die Dinge zu schauen. Aber oft kann man das allein nicht. Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Und auch Angehörige können dir dann kaum helfen, weil sie ja emotional mit dir verbunden sind. Leute, die sich professionell mit dir befassen, können dir Perspektiven eröffnen, von denen du nicht mal geträumt hast. Das ist sehr interessant und hilft, vieles gelassener zu sehen.

DFB.de: Sie fahren jetzt zum ersten Mal nach Ihrer Karriere als TV-Experte zur WM. Wie bereiten Sie sich vor?

Kahn: (Lacht) Diesmal gibt es auf jeden Fall kein Trainingslager, aber ich studiere sämtliche Mannschaften: Was sind ihre Stärken, ihre Schwächen, was macht sie aus? Spieler, Taktik, Trainer – das muss man ja wissen.

DFB.de: Und wie steht Deutschland in Ihrer Voranalyse da?

Kahn: Deutschland wird Weltmeister, weil es eine tolle Mischung hat aus jungen Spielern, die aber schon viel erlebt haben wie Schweinsteiger, Podolski, Mertesacker und erfahrenen Leuten wie Ballack oder Klose. Dann kommt auch noch das Klima hinzu, es ist schön kühl abends, das ist für die Deutschen wie gemacht. Die Spanier, die Italiener, die Franzosen, die Brasilianer, die Argentinier werden es aber auch versuchen, vielleicht auch ein Team aus Afrika.

DFB.de: Bisher waren Sie immer nur als Spieler dabei.

Kahn: Ja, viermal, 2002 als Stammtorhüter. Diese Turniere sind das Gigantischste, was es überhaupt gibt. Das ist weltweit das größte Turnier. Wenn du da deine Leistung abrufst, gehörst du zu den besten Spielern der Welt.

DFB.de: Wie Sie 2002, als Sie als bislang einziger Torwart zum besten Spieler des Turniers gekürt wurden.

Kahn: Ja, das war etwas Besonderes. Auch wenn ich im Finale diesen Fehler gemacht habe. Das ist das Leid eines Torhüters. Innerhalb einer Hundertstelsekunde läuft alles anders. Im Nachhinein hat mir dieser Fehler jedoch mehr gebracht als er mir geschadet hat. Das sieht man im ersten Moment nicht, dann denkt man, die Welt geht unter. Es hat auch eineinhalb Jahre gedauert, bis ich das weggesteckt hatte. Heute sage ich: Es war gut so, wie es gelaufen ist. Ich habe viel über das Leben gelernt und darüber, wie man mit Rückschlägen umgeht, wie sie einen auch stärker machen können. Außerdem haben mir Leute gesagt: Wenn du Weltmeister geworden wärst, wäre das als Mensch vielleicht nicht gut gewesen für dich.

DFB.de: Sehen Sie das mittlerweile auch so?

Kahn: Ja. Ich brauchte vielleicht etwas, das mich auf den Boden holt. Ich musste lernen, dass nicht alles, was ich für die Mannschaft mache, super ist. Man glaubt, man ist der Allergrößte, und alles, was man tut und sagt, sei richtig und wichtig, das ist dieses Hybris-Phänomen. Es besteht die Gefahr, den Bezug zur Realität zu verlieren. Das habe ich auch erlebt, weil es für mich persönlich fast immer nur bergauf ging. Doch man muss sich selbst kritisch gegenüberstehen. Nach der Karriere sieht man das etwas entspannter, weil man merkt, dass das Leben nicht davon abhängt, wie viele Siege oder Titel man erreicht hat. Später kann man sich davon nichts mehr kaufen. Außer, du möchtest, dass dir die Leute ewig auf die Schulter klopfen. Aber was bringt einem das?

DFB.de: Was haben Sie gelernt, seit Sie nicht mehr aktiv sind?

Kahn: Die Welt, in der man als Spieler agiert, ist in gewissem Sinn eine Scheinwelt. Das hat mit der Realität wenig zu tun. Eigentlich sollte jeder für sich überlegen, was er machen würde, wenn er nicht Fußball spielen würde. Es geht am Kern vorbei, wenn es bei den Vereinen heißt: Ihr verdient so gut, wenn ihr aufhört, habt ihr ausgesorgt. Das stimmt natürlich, aber was kommt dann? Man muss erst wieder einen Sinn finden, irgendetwas, was dich aus der Fußballwelt in eine normale Welt wechseln lässt. Otto Rehhagel hat mal zu uns gesagt: „Was machen Sie denn, meine Herren, wenn Sie ausgesorgt haben? Laufen Sie dann den ganzen Tag um Ihre Immobilien und schauen, wie schön die sind?“ Das Geld ist eine tolle Sache, aber eben nur für eine bestimmte Zeit. Irgendwann war man an jedem Strand und in jedem Hotel der Welt. Dann hat man genug genossen und will wieder einer Aufgabe nachgehen. Dann sind die meisten aber kaum noch fähig dazu.

DFB.de: War Ihnen das als Spieler auch schon bewusst?

Kahn: Ja, ich habe schon 1990 an der Fernuniversität Hagen studiert, weil ich wusste: Diese Zeit ist so schnell vorbei. Ich würde nicht sagen, dass ich die Welt jetzt erst kennenlerne. Aber ich entdecke viel. Du musst dich ganz neu beweisen, auf ganz neuen Ebenen Leistung bringen. Als Sportler hält man sich oft für außergewöhnlich, dabei ist man doch nichts weiter als ein Fußballspieler.

DFB.de: Jetzt sind Sie TV-Experte und Student. Wie ist das für Sie, mit 40 auf einmal wieder zu studieren?

Kahn: Am Anfang war es schon schwierig, Dinge wieder zu erlernen. Mit 40 ist es etwas anderes als mit 20, das Gehirn kann einfach nicht mehr so viel bewältigen. Es ist wichtig, dass ich lerne, was für mich von Bedeutung ist. Ich glaube, dass mir dieser Abschluss Sinn gibt, eine Aufgabe, viele Erfahrungen im geschäftlichen Bereich, weil es angewandtes Management ist. Mir steht vieles offen. Ob es dann wieder eine Kerntätigkeit im Fußball gibt, habe ich mir zunächst offen gehalten.

DFB.de: Spielen Sie eigentlich selbst noch?

Kahn: Neulich habe ich mal mit meinem Sohn gespielt, ansonsten mache ich nichts mehr in dem Bereich. Man merkt, dass man sich 30 Jahre auf den Böden dieser Welt herumgeworfen hat. Das geht nicht spurlos am Körper vorbei. Da tut einem nach wenigen Minuten alles weh. So macht es wenig Spaß, so fehlt es einem auch nicht. Man kann sich ja auch durch Laufen oder Einheiten im Fitnesscenter fit halten. Und durch Golf. Ich habe inzwischen ein Handicap von 5,9.

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Oliver Kahn hat alles erlebt: Titel und Triumphe, Tränen und Tragödien. Über zwei Jahrzehnte prägte er die Bundesliga wie kaum ein zweiter Torwart vor und nach ihm. Er war Rückhalt des FC Bayern München und lange die Nummer 1 der Nationalmannschaft. Doch Kahn war immer mehr als ein Ausnahmesportler. Er war und ist einer, der die Augen und den Mund aufmacht, der sich kümmert, der sich unter anderem für die Sepp Herberger-Stiftung engagiert. Mit DFB.de-Redakteur Gereon Tönnihsen hat sich der 40-Jährige darüber unterhalten, was ihm außer dem Fußball wichtig ist. Und das ist so einiges.

DFB.de: Herr Kahn, Sie sind Botschafter der Sepp Herberger-Stiftung, arbeiten mit dem Kinderschutzbund zusammen, haben einen Teil der Einnahmen aus Ihrem Abschiedsspiel gespendet. Bedeutet in der Öffentlichkeit zu stehen für Sie auch, soziale Verantwortung zu übernehmen?

Oliver Kahn: Ja, selbstverständlich. Es geht ja darum, einer Vorbildfunktion gerecht zu werden. Ich hatte sehr viel Glück, diesen Beruf so lange ausüben zu dürfen. Gerade im Austausch mit jungen Menschen stelle ich immer wieder fest, dass sie sehr viel Interesse an einem Sportler, an einer Figur in der Öffentlichkeit haben. Und ich habe gemerkt, dass ich viel zurück- und den Kindern und Jugendlichen etwas mitgeben kann. Soziales Engagement sollte keine imagepflegende Geschichte sein, sondern von Herzen kommen und auch etwas bewirken.

DFB.de: Wieso steht bei Ihnen das Engagement für junge Menschen im Vordergrund?

Kahn: Es ist wichtig, diese Menschen zu animieren, ihnen zu sagen: Der Sport kann dir viel geben. Das habe ich wieder während meiner „Ich schaff’s“-Tour gespürt, bei der ich zwölf bayerische Schulen besucht und mit Schülern gesprochen habe. Aber nicht nur der Sport, sondern all die geistigen und mentalen Dinge, die man im Sport fürs Leben lernt – sie sind wichtig und wertvoll. Man wird Teamplayer, muss aber darauf achten, man selbst zu bleiben.

DFB.de: Sie sind Botschafter für die Sepp Herberger-Stiftung bei der Aktion „Anstoß für ein neues Leben“, haben auch junge Gefängnisinsassen besucht. Was bewirkt so ein Besuch bei Ihnen?

Kahn: Nach dem Besuch war ich den ganzen Tag ergriffen. Ich habe mich gefragt: Warum musste es bei diesen jungen Leuten so kommen? Diese ganzen Schicksale, die dort vereint sind – das macht einen nachdenklich. Aber es gibt einem auch Mut, sich zu kümmern, wenn man sieht, was die Menschen in den Gefängnissen dort machen, um diese jungen Leute wieder auf die Spur zu bringen.

DFB.de: Welche Rolle spielt an solch einem Ort der Fußball?

Kahn: Eine typische Rolle, die der Fußball immer wieder einnimmt: Er verbindet die Häftlinge, er gibt Halt, er macht Spaß und gibt Sinn. Ich weiß nicht, ob die Leute das auch reflektieren. Aber sie spüren es. Wenn sie solche Erfahrungen mitnehmen können und lernen, sich zu integrieren, den Sinn des Sports zu begreifen, dann hilft ihnen das womöglich auch, wenn sie in Freiheit sind. Dann kann der Fußball eine reintegrative Kraft sein. Wie gesagt: kann. Zu viel darf man vom Fußball auch nicht verlangen.

DFB.de: Was lernen Sie bei Treffen mit jungen Leuten, etwa bei Ihrer „Ich schaff’s“-Tour?

Kahn: Man macht viele Erfahrungen über sie: Was ihre Ziele sind, ihre Träume, was sie unter Motivation verstehen, wie sie mit Niederlagen umgehen, dass manche aber auch gar keine Ziele besitzen. An einer Schule hat ein Junge gesagt: Mein Ziel ist es, meine Mitschüler zu verprügeln. Da bin ich zu ihm hin und habe ihn gefragt, ob er nicht glaubt, dass es auch andere Dinge gibt, die ihm Spaß machen und die ihm wichtig sind. Nur dadurch, dass ich ihm zugehört, mich um ihn gekümmert habe, war das innerhalb von ein paar Minuten ein ganz anderer junger Mann. Er hat angefangen, kluge Sachen zu sagen. Er hat sich respektiert gefühlt, wertgeschätzt, ernst genommen. Dann gehst du heim und fühlst dich fantastisch.

DFB.de: Sie selbst haben in Ihrer Autobiografie „Ich. Erfolg kommt von innen“ geschrieben, dass Sie als Spieler an einem Burnout-Syndrom litten. Mit solchen und anderen psychischen Erkrankungen befasst sich nun die Robert-Enke-Stiftung. Sehen Sie das als ein Gebot der Zeit an?

Kahn: Ja, es wird Zeit, dass man mit dem Thema Belastung und Druck im Leistungssport offener umgeht. Ich glaube, dass auch die Fußballbranche dabei ist, dieses einst machohafte Gehabe abzulegen und zu akzeptieren, dass viele Menschen solche Probleme haben: Depressionen, Angst, Burnout. Dazu hat man ja mitunter auch eine genetische Veranlagung. Wie wichtig ein offener Umgang ist, zeigt ja auch das dramatische Beispiel Robert Enke.

DFB.de: Hat der Druck in Ihrer Karriere zugenommen?

Kahn: Der einzige Druck, der zugenommen hat, war der, den ich mir selbst gemacht habe. Immer gewinnen wollen, immer der Beste sein. Diesem Druck habe ich nur durch mentale Techniken standhalten können. Ich habe dazu einen Coach in Anspruch genommen. Das hat mir sehr geholfen.

DFB.de: Auch, als Sie erfahren haben, dass Sie bei der WM 2006 nur die Nummer zwei sein würden?

Kahn: Ich war schon ein, zwei Tage am Boden zerstört. Aber ich habe mich dann entschieden, trotzdem mitzufahren. Alles andere wäre nur ein Davonlaufen gewesen. Es gibt immer einen Ausweg, wenn man bereit ist, anders auf die Dinge zu schauen. Aber oft kann man das allein nicht. Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Und auch Angehörige können dir dann kaum helfen, weil sie ja emotional mit dir verbunden sind. Leute, die sich professionell mit dir befassen, können dir Perspektiven eröffnen, von denen du nicht mal geträumt hast. Das ist sehr interessant und hilft, vieles gelassener zu sehen.

DFB.de: Sie fahren jetzt zum ersten Mal nach Ihrer Karriere als TV-Experte zur WM. Wie bereiten Sie sich vor?

Kahn: (Lacht) Diesmal gibt es auf jeden Fall kein Trainingslager, aber ich studiere sämtliche Mannschaften: Was sind ihre Stärken, ihre Schwächen, was macht sie aus? Spieler, Taktik, Trainer – das muss man ja wissen.

DFB.de: Und wie steht Deutschland in Ihrer Voranalyse da?

Kahn: Deutschland wird Weltmeister, weil es eine tolle Mischung hat aus jungen Spielern, die aber schon viel erlebt haben wie Schweinsteiger, Podolski, Mertesacker und erfahrenen Leuten wie Ballack oder Klose. Dann kommt auch noch das Klima hinzu, es ist schön kühl abends, das ist für die Deutschen wie gemacht. Die Spanier, die Italiener, die Franzosen, die Brasilianer, die Argentinier werden es aber auch versuchen, vielleicht auch ein Team aus Afrika.

DFB.de: Bisher waren Sie immer nur als Spieler dabei.

Kahn: Ja, viermal, 2002 als Stammtorhüter. Diese Turniere sind das Gigantischste, was es überhaupt gibt. Das ist weltweit das größte Turnier. Wenn du da deine Leistung abrufst, gehörst du zu den besten Spielern der Welt.

DFB.de: Wie Sie 2002, als Sie als bislang einziger Torwart zum besten Spieler des Turniers gekürt wurden.

Kahn: Ja, das war etwas Besonderes. Auch wenn ich im Finale diesen Fehler gemacht habe. Das ist das Leid eines Torhüters. Innerhalb einer Hundertstelsekunde läuft alles anders. Im Nachhinein hat mir dieser Fehler jedoch mehr gebracht als er mir geschadet hat. Das sieht man im ersten Moment nicht, dann denkt man, die Welt geht unter. Es hat auch eineinhalb Jahre gedauert, bis ich das weggesteckt hatte. Heute sage ich: Es war gut so, wie es gelaufen ist. Ich habe viel über das Leben gelernt und darüber, wie man mit Rückschlägen umgeht, wie sie einen auch stärker machen können. Außerdem haben mir Leute gesagt: Wenn du Weltmeister geworden wärst, wäre das als Mensch vielleicht nicht gut gewesen für dich.

DFB.de: Sehen Sie das mittlerweile auch so?

Kahn: Ja. Ich brauchte vielleicht etwas, das mich auf den Boden holt. Ich musste lernen, dass nicht alles, was ich für die Mannschaft mache, super ist. Man glaubt, man ist der Allergrößte, und alles, was man tut und sagt, sei richtig und wichtig, das ist dieses Hybris-Phänomen. Es besteht die Gefahr, den Bezug zur Realität zu verlieren. Das habe ich auch erlebt, weil es für mich persönlich fast immer nur bergauf ging. Doch man muss sich selbst kritisch gegenüberstehen. Nach der Karriere sieht man das etwas entspannter, weil man merkt, dass das Leben nicht davon abhängt, wie viele Siege oder Titel man erreicht hat. Später kann man sich davon nichts mehr kaufen. Außer, du möchtest, dass dir die Leute ewig auf die Schulter klopfen. Aber was bringt einem das?

DFB.de: Was haben Sie gelernt, seit Sie nicht mehr aktiv sind?

Kahn: Die Welt, in der man als Spieler agiert, ist in gewissem Sinn eine Scheinwelt. Das hat mit der Realität wenig zu tun. Eigentlich sollte jeder für sich überlegen, was er machen würde, wenn er nicht Fußball spielen würde. Es geht am Kern vorbei, wenn es bei den Vereinen heißt: Ihr verdient so gut, wenn ihr aufhört, habt ihr ausgesorgt. Das stimmt natürlich, aber was kommt dann? Man muss erst wieder einen Sinn finden, irgendetwas, was dich aus der Fußballwelt in eine normale Welt wechseln lässt. Otto Rehhagel hat mal zu uns gesagt: „Was machen Sie denn, meine Herren, wenn Sie ausgesorgt haben? Laufen Sie dann den ganzen Tag um Ihre Immobilien und schauen, wie schön die sind?“ Das Geld ist eine tolle Sache, aber eben nur für eine bestimmte Zeit. Irgendwann war man an jedem Strand und in jedem Hotel der Welt. Dann hat man genug genossen und will wieder einer Aufgabe nachgehen. Dann sind die meisten aber kaum noch fähig dazu. [bild2]

DFB.de: War Ihnen das als Spieler auch schon bewusst?

Kahn: Ja, ich habe schon 1990 an der Fernuniversität Hagen studiert, weil ich wusste: Diese Zeit ist so schnell vorbei. Ich würde nicht sagen, dass ich die Welt jetzt erst kennenlerne. Aber ich entdecke viel. Du musst dich ganz neu beweisen, auf ganz neuen Ebenen Leistung bringen. Als Sportler hält man sich oft für außergewöhnlich, dabei ist man doch nichts weiter als ein Fußballspieler.

DFB.de: Jetzt sind Sie TV-Experte und Student. Wie ist das für Sie, mit 40 auf einmal wieder zu studieren?

Kahn: Am Anfang war es schon schwierig, Dinge wieder zu erlernen. Mit 40 ist es etwas anderes als mit 20, das Gehirn kann einfach nicht mehr so viel bewältigen. Es ist wichtig, dass ich lerne, was für mich von Bedeutung ist. Ich glaube, dass mir dieser Abschluss Sinn gibt, eine Aufgabe, viele Erfahrungen im geschäftlichen Bereich, weil es angewandtes Management ist. Mir steht vieles offen. Ob es dann wieder eine Kerntätigkeit im Fußball gibt, habe ich mir zunächst offen gehalten.

DFB.de: Spielen Sie eigentlich selbst noch?

Kahn: Neulich habe ich mal mit meinem Sohn gespielt, ansonsten mache ich nichts mehr in dem Bereich. Man merkt, dass man sich 30 Jahre auf den Böden dieser Welt herumgeworfen hat. Das geht nicht spurlos am Körper vorbei. Da tut einem nach wenigen Minuten alles weh. So macht es wenig Spaß, so fehlt es einem auch nicht. Man kann sich ja auch durch Laufen oder Einheiten im Fitnesscenter fit halten. Und durch Golf. Ich habe inzwischen ein Handicap von 5,9.