Julius-Hirsch-Preisträger: "Eine besondere Verantwortung"

Support in der 6. Liga? Eher ungewöhnlich. Ein Preis für Fans direkt vom DFB-Präsidenten und dem Bundesinnenminister? Noch ungewöhnlicher. Die Supporters Crew des Traditionsklubs SC Göttingen 05, der einstmals in den 70er Jahren 2. Bundesliga spielte, ist halt etwas ganz Besonderes. Sie erhält am Sonntag den Julius Hirsch Preis. FUSSBALL.DE sprach mit zwei Machern der Supporters Crew: dem 48 Jahre alten Streetworker Philipp Rösener und dem 43 Jahre alten Grafiker Dirk Mederer.

FUSSBALL.DE: Euer Grundcharakter ist eher Anti-Establishment. Habt Ihr euch dennoch über den DFB-Preis gefreut, den Ihr am Sonntag in Leipzig überreicht bekommt?

Philipp Rösener: Ganz dolle, wobei es war erstmal weniger Freude, sondern vielmehr ungläubiges Verblüffen. So richtig damit gerechnet, hatte wirklich keiner von uns.

Dirk Mederer: Als wir in der Bewerbungsbroschüre unsere Aktionen und Veranstaltungen gebündelt hatten, wurde mir erst klar, was wir eigentlich alles gemacht haben.

FUSSBALL.DE: Nachdem im Vorjahr die Münchner Ultragruppierung "Schickeria" ausgezeichnet wurde, geht der Julius Hirsch Preis 2015 an die Göttinger Supporters Crew. Ihr habt an jüdische Mitglieder des Klubs erinnert, besonders an Ludolf Katz, der kurz nach Machtübernahme der Nazis aus dem Verein geworfen wurde. Wie und wann kamt Ihr auf die Idee?

Mederer: Der Ort kam auf die Idee. Vor fast drei Jahren haben wir hier in der Göttinger Innenstadt den FanRaum bezogen. Und genau an dieser Stelle stand Göttingens Synagoge, die in der Pogromnacht 1938 niedergebrannt wurde. An dem Ort, wo wir jetzt sitzen, befand sich das hintere Kirchenschiff, hier genau war der Altarraum. Uns war sofort klar, dass wir eine besondere Verantwortung tragen. So begannen wir uns mit der Lebensgeschichte der jüdischen Mitglieder des SC 05 Göttingen auseinanderzusetzen. Das Thema war vorher völlig ignoriert worden.

Rösener: Das Engagement der "Schickeria" für Kurt Landauer war uns natürlich auch präsent.

FUSSBALL.DE: Im Zuge der Aufarbeitung musstet Ihr entdecken, dass die jüdischen Mitglieder in der Vereinschronik nicht erwähnt wurden.

Mederer: Die Vereinschronik des SC 05 Göttingen war in den 50er Jahren geschrieben worden. Damals hat man das Thema einfach unter den Tisch gebügelt. Bei allen künftigen Vereinsjubiläen würde die Chronik um die neuen Ereignisse ergänzt. Die geschichtlichen Kapitel wurden nicht mehr überarbeitet.

Rösener: Man kann nicht mit dem Finger auf einen Verein zeigen. Diese Problematik gab es in allen Vereinen, auch in anderen Sportarten.

Mederer: Oft war man sich sicher auch der Schuld bewusst. Und damit begann die Verdrängung. Der SC 05 hatte sein Vereinsheim Ende der 20er Jahre direkt gegenüber der Synagoge. Man sah sich jeden Tag. Natürlich muss es den nichtjüdischen Spielern klar gewesen sein, was die Umwälzungen der Zeit konkret bedeuten, auch für jüdische Spieler und Vereinsmitglieder, die nun nicht mehr mittun durften. Schuldbewusstsein spielt später bestimmt eine große Rolle. Bloß nicht drüber sprechen.



Support in der 6. Liga? Eher ungewöhnlich. Ein Preis für Fans direkt vom DFB-Präsidenten und dem Bundesinnenminister? Noch ungewöhnlicher. Die Supporters Crew des Traditionsklubs SC Göttingen 05, der einstmals in den 70er Jahren 2. Bundesliga spielte, ist halt etwas ganz Besonderes. Sie erhält am Sonntag den Julius Hirsch Preis. FUSSBALL.DE sprach mit zwei Machern der Supporters Crew: dem 48 Jahre alten Streetworker Philipp Rösener und dem 43 Jahre alten Grafiker Dirk Mederer.

FUSSBALL.DE: Euer Grundcharakter ist eher Anti-Establishment. Habt Ihr euch dennoch über den DFB-Preis gefreut, den Ihr am Sonntag in Leipzig überreicht bekommt?

Philipp Rösener: Ganz dolle, wobei es war erstmal weniger Freude, sondern vielmehr ungläubiges Verblüffen. So richtig damit gerechnet, hatte wirklich keiner von uns.

Dirk Mederer: Als wir in der Bewerbungsbroschüre unsere Aktionen und Veranstaltungen gebündelt hatten, wurde mir erst klar, was wir eigentlich alles gemacht haben.

FUSSBALL.DE: Nachdem im Vorjahr die Münchner Ultragruppierung "Schickeria" ausgezeichnet wurde, geht der Julius Hirsch Preis 2015 an die Göttinger Supporters Crew. Ihr habt an jüdische Mitglieder des Klubs erinnert, besonders an Ludolf Katz, der kurz nach Machtübernahme der Nazis aus dem Verein geworfen wurde. Wie und wann kamt Ihr auf die Idee?

Mederer: Der Ort kam auf die Idee. Vor fast drei Jahren haben wir hier in der Göttinger Innenstadt den FanRaum bezogen. Und genau an dieser Stelle stand Göttingens Synagoge, die in der Pogromnacht 1938 niedergebrannt wurde. An dem Ort, wo wir jetzt sitzen, befand sich das hintere Kirchenschiff, hier genau war der Altarraum. Uns war sofort klar, dass wir eine besondere Verantwortung tragen. So begannen wir uns mit der Lebensgeschichte der jüdischen Mitglieder des SC 05 Göttingen auseinanderzusetzen. Das Thema war vorher völlig ignoriert worden.

Rösener: Das Engagement der "Schickeria" für Kurt Landauer war uns natürlich auch präsent.

FUSSBALL.DE: Im Zuge der Aufarbeitung musstet Ihr entdecken, dass die jüdischen Mitglieder in der Vereinschronik nicht erwähnt wurden.

Mederer: Die Vereinschronik des SC 05 Göttingen war in den 50er Jahren geschrieben worden. Damals hat man das Thema einfach unter den Tisch gebügelt. Bei allen künftigen Vereinsjubiläen würde die Chronik um die neuen Ereignisse ergänzt. Die geschichtlichen Kapitel wurden nicht mehr überarbeitet.

Rösener: Man kann nicht mit dem Finger auf einen Verein zeigen. Diese Problematik gab es in allen Vereinen, auch in anderen Sportarten.

Mederer: Oft war man sich sicher auch der Schuld bewusst. Und damit begann die Verdrängung. Der SC 05 hatte sein Vereinsheim Ende der 20er Jahre direkt gegenüber der Synagoge. Man sah sich jeden Tag. Natürlich muss es den nichtjüdischen Spielern klar gewesen sein, was die Umwälzungen der Zeit konkret bedeuten, auch für jüdische Spieler und Vereinsmitglieder, die nun nicht mehr mittun durften. Schuldbewusstsein spielt später bestimmt eine große Rolle. Bloß nicht drüber sprechen.

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FUSSBALL.DE: Nach 15 Jahren Mitgliedschaft warf der SC Göttingen Ludolf Katz 1933 aus dem Verein. Der Fußballklub folgte damit einer Vorgabe der Nazis, nämlich dem sogenannten Arierparagraphen. 1938 gelang Katz mit seiner Frau Reneé die Flucht in die USA. Seine Eltern verkauften das Geschäft für Herrenkonfektion zu spät und kamen nicht mehr raus. Sie wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Mederer: Wir sind im Laufe der Recherche etwa mit Verwandten in Argentinien in Kontakt gekommen, die überhaupt nichts über die damaligen Vorgänge wussten, weil die Großeltern damals gerade noch aus Nazi-Deutschland flüchten konnten, und später nie etwas erzählt haben. Sie haben alles komplett verschwiegen. Es wurde alles begraben. Das fand ich erschreckend, dass Familienviten komplett sterben, ausgelöst durch die Naziherrschaft in Deutschland.

Rösener: 05 damals war ein sehr bürgerlicher Verein, und Göttingen war damals sehr früh sehr braun. Die NSDAP hatte hier früh schon sehr hohe Wahlergebnisse.

Mederer: Ludolf Katz‘ Neffe mit seiner Verlobten hat uns im Rahmen der Verlegung der Stolpersteine besucht. Ein toller Besuch. Das ist die Quintessenz des Engagements in Sachen Erinnerungskultur. Für den Neffen hat der Stadtname Göttingen durch seinen Besuch hier bei der Supporters Crew endlich sein Grauen verloren. Wie nahe es ihnen ging, das war ergreifend.

FUSSBALL.DE: Sprechen wir über Fußball. Fans des SC Göttingen 05 sind hart im Nehmen. Müssen es sein. Immer wieder galt es, Abstiege zu verdauen. Und wenn sie dann in der Bezirksoberliga über scheppernde Lautsprecher als ehemaliger Zweitligist vorgestellt wurden, gesellte sich zur Tristesse die Demütigung. Die schwerste Stunde aber schlug am 18. September 2003. Was war da los?

Rösener: Wir waren gerade in die 5. Liga abgestiegen, da meldete der Verein Insolvenz an. Also begannen wir eine ungewöhnliche Maßnahme. Die Insolvenz war damals gelaufen und für uns stand die Frage im Raum, was machen wir denn jetzt eigentlich. Normalerweise wenden sich doch die Fans vom Verein ab, in unserem Fall hatte sich der Verein von den Zuschauern abgewandt.

FUSSBALL.DE: Und Ihr habt eine ganz ungewöhnliche Maßnahme beschlossen?

Rösener: Um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu erhalten, beschlossen wir, uns woanders anzubieten und eben dorthin zu fahren. Es war eine Witzidee, eigentlich war es eine Schnapsidee. Das Internet steckte damals noch in den Kinderschuhen. Wir stellten einen Flyer ins Internet. Dann war die Hölle los. Heute würde man vom allerfeinsten viralen Marketing sprechen, es gäbe ein Dutzend Hashtags. Es war irre. Wir bekamen auch Anfragen von Vereinen, Handball, Volleyball, von der Deutschen Postfußballmeisterschaft. Die Medienresonanz aber war noch viel krasser. Es ist unglaublich. Wir haben uns jahrelang bemüht, mit ernsthafter Pressearbeit auch in der Lokalpresse aufzutauchen, ohne ein Ergebnis. Und dann kommt man mit so einer Schnapsidee und bum.

FUSSBALL.DE: Wie hat sich das genau geäußert?

Rösener: Wir hatten Radiointerviews in 40 Ländern der Welt, von Indonesien über Finnland bis Kanada. Dann auch das Göttinger Tageblatt. Zur Europameisterschaft 2004 fragte uns dann eine Fußballsendung des englischen Senders ITV an. Vier Leute von uns wurden nach London eingeladen, um dort hinzufliegen. Wir bekamen englische Fanutensilien zugeschickt und sollten die "Three Lions" beim EM-Spiel England gegen Schweiz supporten. Es gab einen Kneipengutschein über 1000 Euro und eine Kamera. War ein lustiger Abend.

FUSSBALL.DE: Weniger lustig sind die Leistungen der Mannschaft. Nach dem Abstieg in die Landesliga steht man jetzt schon wieder unten drin. Könnt Ihr darüber lachen?

Mederer: Wir hätten eine hervorragende Regionalligamannschaft mit Tendenz nach oben verdient (lacht).

Rösener: Die letzten zweieinhalb Jahre sind wirklich schlimm. Bei rund 80 Spielen haben wir in der ganzen Zeit zehn Siege gesehen. Wir leiden nicht mehr und nicht weniger als andere Fußballfans. Und nur weil wir uns hier auch kulturell und politisch betätigen, heißt das nicht, dass uns nicht zuerst einmal die Leidenschaft für den Fußball eint. Es geht um Fußball.