Heynckes zur EM 1972: "Wir haben traumhaften Fußball gespielt"

Große Trainer, so die Erfahrung, waren nur sehr selten zuvor große Spieler. Dass das eine das andere nicht ausschließt, beweist Jupp Heynckes. Der Meistertrainer, der als Höhepunkte 1998 mit Real Madrid die Champions League und 2013 mit Bayern München das historische, weil bislang in Deutschland einzigartige Triple gewann, gehörte als Topstürmer zu Deutschlands erfolgreichsten Spielern. Viermal wurde er mit Borussia Mönchengladbach Deutscher Meister, gewann zudem den DFB-Pokal und den UEFA-Cup und ist nach Gerd Müller (365 Tore) und Klaus Fischer (268) bis heute der erfolgreichste Bundesliga-Torjäger (220). Vor allem: Mit der Nationalmannschaft wurde er 1974 Weltmeister und krönte beim Gewinn des EM-Titels 1972 mit dem so genannten "Jahrhundertteam" seine Spielerkarriere.

Im Interview auf DFB.de mit Wolfgang Tobien blickt Heynckes (70) zurück auf jenes denkwürdige Turnier in Belgien, verweist auf die Bedeutung des damaligen ersten EM-Titelgewinns für die Entwicklung des deutschen Fußballs sowie für seine Spielerkarriere und beurteilt zudem die Chancen von Joachim Löws Weltmeister-Team bei der bevorstehenden EURO 2016 in Frankreich.

DFB.de: Herr Heynckes, 1972 konnte sich die deutsche Nationalmannschaft erstmals für eine EM-Endrunde qualifizieren – und ist mit Ihnen auf Anhieb Europameister geworden. Welche Resonanz fand dieser Erfolg damals in der Öffentlichkeit?

Jupp Heynckes: Neulich habe ich mal wieder Bilder von jenem Ereignis gesehen, als beim Finale eine große Menschenmenge rund um das Spielfeld stand und den Schlusspfiff herbeisehnte. Dabei habe ich erstmals erlebt, wie die Fans voller Begeisterung in großen Scharen das Spielfeld erstürmten, was absolut ungewöhnlich war zu jener Zeit. Das zeigt schon, wie groß damals die Freude über den ersten EM-Titel war.

DFB.de: Wie wurde intern im Mannschaftskreis und dann in der Heimat gefeiert?

Heynckes: Nachdem wir in die Kabine geflüchtet waren, wurde auf der Tribüne in einem ziemlichen Durcheinander ein Mannschaftsfoto geschossen. In Deutschland fand gar nichts statt. Fan-Meilen und Ähnliches waren damals noch total unbekannt. Ich ging zusammen mit meiner Frau und zwei befreundeten Ehepaaren in Brüssel noch zum Essen in ein Restaurant und fuhr danach in knapp zwei Stunden heim nach Mönchengladbach. Das war’s mit der EM für mich.

DFB.de: Wegen seines ungemein hohen spieltechnischen Niveaus genießt das damalige Team auch heute noch den Ruf einer "Jahrhundertmannschaft". Zu Recht?

Heynckes: Grundsätzlich kann man den damaligen Fußball nicht mit heutigen Maßstäben bewerten. Das sollte man angesichts der rasanten Entwicklung des Spiels vermeiden. Trotzdem, um 1972 Europameister zu werden und zwei Jahre später Weltmeister, brauchte man eine hochkarätige, eine wahnsinnig talentierte Mannschaft und große Spieler. Die haben wir in jener Dekade zweifellos gehabt. Mit den Bayern um Franz Beckenbauer und Gerd Müller, mit den Gladbachern um Günter Netzer, Berti Vogts und Hacki Wimmer, mit den beiden Frankfurtern Grabowski und Hölzenbein, mit Erwin Kremers und all den anderen.

DFB.de: Also doch ein "Jahrhundertteam"?

Heynckes: Klar und unbestritten ist, dass wir zu der Zeit einen wunderbaren, einen traumhaften Fußball gespielt haben. Mit ganz außergewöhnlichen Spielern.

DFB.de: Welche Bedeutung hatte dieser EM-Titelgewinn 18 Jahre nach dem "Wunder von Bern" für die weitere Entwicklung des deutschen Fußballs?

Heynckes: Jeder große Erfolg bringt den Fußball in einem Land weiter. Mit Verbesserungen der taktischen Spielsysteme, mit Erkenntnissen im athletischen und spieltechnischen Bereich. Zudem hat unser EM-Erfolg damals, wie ich meine, auch international eine deutliche Duftmarke, ein kräftiges Ausrufezeichen in Sachen weltweitem Renommee gesetzt, was auch für die Bundesliga ungemein wichtig war. Mit einer Spielweise, wie man es damals noch nicht erlebt hatte, mit diesen Tempowechseln und dem so genannten Ramba-Zamba-Fußball, einem außergewöhnlich innovativen Fußball. Vor allem kannst du aber nur eine außergewöhnliche Mannschaftsleistung bringen, wenn du auch Topspieler, Weltklassespieler zur Verfügung hast. Die hatten wir damals in jenen Jahren in allen Mannschaftsteilen.



Große Trainer, so die Erfahrung, waren nur sehr selten zuvor große Spieler. Dass das eine das andere nicht ausschließt, beweist Jupp Heynckes. Der Meistertrainer, der als Höhepunkte 1998 mit Real Madrid die Champions League und 2013 mit Bayern München das historische, weil bislang in Deutschland einzigartige Triple gewann, gehörte als Topstürmer zu Deutschlands erfolgreichsten Spielern. Viermal wurde er mit Borussia Mönchengladbach Deutscher Meister, gewann zudem den DFB-Pokal und den UEFA-Cup und ist nach Gerd Müller (365 Tore) und Klaus Fischer (268) bis heute der erfolgreichste Bundesliga-Torjäger (220). Vor allem: Mit der Nationalmannschaft wurde er 1974 Weltmeister und krönte beim Gewinn des EM-Titels 1972 mit dem so genannten "Jahrhundertteam" seine Spielerkarriere.

Im Interview auf DFB.de mit Wolfgang Tobien blickt Heynckes (70) zurück auf jenes denkwürdige Turnier in Belgien, verweist auf die Bedeutung des damaligen ersten EM-Titelgewinns für die Entwicklung des deutschen Fußballs sowie für seine Spielerkarriere und beurteilt zudem die Chancen von Joachim Löws Weltmeister-Team bei der bevorstehenden EURO 2016 in Frankreich.

DFB.de: Herr Heynckes, 1972 konnte sich die deutsche Nationalmannschaft erstmals für eine EM-Endrunde qualifizieren – und ist mit Ihnen auf Anhieb Europameister geworden. Welche Resonanz fand dieser Erfolg damals in der Öffentlichkeit?

Jupp Heynckes: Neulich habe ich mal wieder Bilder von jenem Ereignis gesehen, als beim Finale eine große Menschenmenge rund um das Spielfeld stand und den Schlusspfiff herbeisehnte. Dabei habe ich erstmals erlebt, wie die Fans voller Begeisterung in großen Scharen das Spielfeld erstürmten, was absolut ungewöhnlich war zu jener Zeit. Das zeigt schon, wie groß damals die Freude über den ersten EM-Titel war.

DFB.de: Wie wurde intern im Mannschaftskreis und dann in der Heimat gefeiert?

Heynckes: Nachdem wir in die Kabine geflüchtet waren, wurde auf der Tribüne in einem ziemlichen Durcheinander ein Mannschaftsfoto geschossen. In Deutschland fand gar nichts statt. Fan-Meilen und Ähnliches waren damals noch total unbekannt. Ich ging zusammen mit meiner Frau und zwei befreundeten Ehepaaren in Brüssel noch zum Essen in ein Restaurant und fuhr danach in knapp zwei Stunden heim nach Mönchengladbach. Das war’s mit der EM für mich.

DFB.de: Wegen seines ungemein hohen spieltechnischen Niveaus genießt das damalige Team auch heute noch den Ruf einer "Jahrhundertmannschaft". Zu Recht?

Heynckes: Grundsätzlich kann man den damaligen Fußball nicht mit heutigen Maßstäben bewerten. Das sollte man angesichts der rasanten Entwicklung des Spiels vermeiden. Trotzdem, um 1972 Europameister zu werden und zwei Jahre später Weltmeister, brauchte man eine hochkarätige, eine wahnsinnig talentierte Mannschaft und große Spieler. Die haben wir in jener Dekade zweifellos gehabt. Mit den Bayern um Franz Beckenbauer und Gerd Müller, mit den Gladbachern um Günter Netzer, Berti Vogts und Hacki Wimmer, mit den beiden Frankfurtern Grabowski und Hölzenbein, mit Erwin Kremers und all den anderen.

DFB.de: Also doch ein "Jahrhundertteam"?

Heynckes: Klar und unbestritten ist, dass wir zu der Zeit einen wunderbaren, einen traumhaften Fußball gespielt haben. Mit ganz außergewöhnlichen Spielern.

DFB.de: Welche Bedeutung hatte dieser EM-Titelgewinn 18 Jahre nach dem "Wunder von Bern" für die weitere Entwicklung des deutschen Fußballs?

Heynckes: Jeder große Erfolg bringt den Fußball in einem Land weiter. Mit Verbesserungen der taktischen Spielsysteme, mit Erkenntnissen im athletischen und spieltechnischen Bereich. Zudem hat unser EM-Erfolg damals, wie ich meine, auch international eine deutliche Duftmarke, ein kräftiges Ausrufezeichen in Sachen weltweitem Renommee gesetzt, was auch für die Bundesliga ungemein wichtig war. Mit einer Spielweise, wie man es damals noch nicht erlebt hatte, mit diesen Tempowechseln und dem so genannten Ramba-Zamba-Fußball, einem außergewöhnlich innovativen Fußball. Vor allem kannst du aber nur eine außergewöhnliche Mannschaftsleistung bringen, wenn du auch Topspieler, Weltklassespieler zur Verfügung hast. Die hatten wir damals in jenen Jahren in allen Mannschaftsteilen.

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DFB.de: Daneben hat dieser EM-Triumph wohl auch einen Bedeutungszuwachs für die Sportart Fußball in Deutschland mit sich gebracht?

Heynckes: Zweifellos verstärkten dieser Erfolg und der WM-Gewinn danach die Entwicklung des Fußballs zur dominierenden Sportart in Deutschland. Der DFB konnte einen deutlichen Mitgliederzuwachs registrieren. Und er bekam ein größeres Gewicht und mehr Anerkennung in den Gremien der FIFA und der UEFA, die zu jener Zeit von den südländischen Verbänden beherrscht wurden.

DFB.de: Welcher Eindruck der damaligen EM-Endrunde ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Heynckes: Vor allem der absolut ungewöhnliche Modus. Das Viertelfinale gegen England wurde mit Hin- und Rückspiel durchgeführt. Und die Endrunde selbst fand dann mit Halbfinale und Finale vier, fünf Wochen später innerhalb von vier Tagen statt. Das wäre heute schon aus kommerziellen Gründen unvorstellbar.

DFB.de: Nach dem 2:1-Sieg im Halbfinale gegen Belgien spielten im Finale gegen die UdSSR auch Sie eine Hauptrolle, als Sie die ersten beiden Treffer von Gerd Müller und Wimmer direkt vorbereiteten und auch den 3:0-Endstand über Schwarzenbeck zu Müllers zweiten Treffer eingeleitet haben. Wie stolz sind Sie heute noch, Teil dieses Dream-Teams gewesen zu sein?

Heynckes: Stolz ist ein großes Wort. Doch wenn du in dieser Epoche Nationalspieler gewesen bist und einer der Topspieler der Bundesliga, dann hast du einfach dazugehört. Und wenn im Zusammenhang mit der 72er-Mannschaft auch dein Name genannt wird, dann registriert man das mit großer Freude.

DFB.de: Zumal Sie am Ende des Turniers von der FIFA in das All-Star-Team der EM auserwählt wurden.

Heynckes: Tatsächlich? Das höre ich jetzt zum ersten Mal.

DFB.de: Jupp Heynckes, Gerd Müller, Raoul Lambert – so lautete der Angriff im Team der elf Auserwählten.

Heynckes: Okay, jetzt weiß ich es.

DFB.de: Als eigentliche Geburtsstunde jenes "Jahrhundertteams" gilt das Hinspiel im Viertelfinale am 29. April 1972 in London, als in Wembley mit dem 3:1 der erste deutsche Länderspielsieg auf englischem Boden gelang. Was machte dieses Spiel so besonders?

Heynckes: Wegen etlicher Verletzungen, Sperren und aktueller Formkrisen mussten wir ja angeblich mit einer Rumpfmannschaft, so hieß es, dort antreten. Alles wurde vorher sehr düster und negativ dargestellt. Doch was wir dann in Wembley erlebten, war die Wiedergeburt des deutschen Nationalteams. Dieser Paukenschlag in Wembley und die tolle Moral, mit der wir allen Widrigkeiten getrotzt und die hoch favorisierten Engländer bezwangen, hatten wahnsinniges Gewicht. Mit Schwerstarbeit und natürlich auch dank der herausragenden Spielweise mit der Sternstunde von Günter Netzer.

DFB.de: Weshalb kamen Sie eigentlich bei jenem historischen Spiel in Wembley nicht zum Einsatz?

Heynckes: Vor der EM gehörte ich zwar immer zum Aufgebot, war aber noch kein Stammspieler und saß in London auf der Bank.

DFB.de: Jürgen Grabowski und Siggi Held waren in Wembley die Außenstürmer. Jupp Heynckes und Erwin Kremers bildeten dann bei der Endrunde in Belgien die Flügelzange. Wie kam es zu diesem personellen Wechsel auf den Außenpositionen?

Heynckes: Beim letzten EM-Test gegen die UdSSR zur Einweihung des Münchner Olympiastadions war der Grabi verletzt, und Siggi Held stand, wie auch dann bei der Endrunde, wegen der Bundesliga-Aufstiegsrunde mit Kickers Offenbach nicht zur Verfügung. Bei dem überzeugenden 4:1-Testsieg gegen die UdSSR nutzten Erwin Kremers und ich unsere Chance und waren dann auch zwei Wochen später bei der Endrunde erste Wahl.

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DFB.de: Wie wichtig war dieser Erfolg für Sie als Spieler?

Heynckes: Eminent wichtig! Ich war danach absoluter Stammspieler und 1974 für die WM gesetzt, verletzte mich aber am Anfang der WM und kam daher nur bei den ersten zwei Spielen zum Einsatz. Was ich generell betonen muss, ist die Art, wie gut wir uns alle im zwischenmenschlichen Bereich, trotz der großen Rivalität zwischen Bayern München und Borussia Mönchengladbach, verstanden haben.

DFB.de: Nach dieser EM gab es für Sie mit Gladbach Erfolge wie am Fließband. Mit der Borussia wurden sie dreimal in Folge Deutscher Meister, dazu DFB-Pokal- und UEFA-Cup-Sieger und sind nach Gerd Müller und Klaus Fischer bis heute der erfolgreichste Torjäger der Bundesliga-Geschichte. Ein Ausnahmestürmer, der, wie nur wenige, vom Rechtsaußen über den Mittelstürmer bis zum Linksaußen alle Angriffspositionen erfolgreich bespielen konnte.

Heynckes: Auch wenn die EM 72 für mich ein toller Erfolg war, muss ich sagen, dass meine Karriere in der Nationalmannschaft nicht mit der in der Bundesliga mithalten konnte. Als Topstürmer der Bundesliga hat man den Ehrgeiz, der Beste zu sein. Der Beste war allerdings Gerd Müller. An ihn reichte und reicht keiner heran. Ich war allerdings ein ganz anderer Stürmertyp, der am liebsten von der linken Seite kam. Meine Trainer Hennes Weisweiler und Helmut Schön, der auch menschlich ganz großartig war, gaben mir immer alle Freiheiten.

DFB.de: Auffällig war, dass sich an Ihnen trotz Ihrer überragenden Erfolge und spektakulären Leistungen nur ganz selten die schwärmerischen Gefühle der Fans entzünden konnten. Warum waren Sie, zumal am Bökelberg, nie ein Lokalmatador?

Heynckes: Ich war ein sehr ehrgeiziger Spieler, aber auch ein sehr reservierter und nachdenklicher Mensch und habe meinen Beruf sehr seriös ausgeübt. Außerhalb des Spielfelds wollte ich mich nie in den Vordergrund spielen. Populistische Aktionen waren nicht mein Ding. Extrovertiert war ich nur auf dem Spielfeld.

DFB.de: Mit Ihren 39 Länderspielen konnten Sie zwischen 1966 und 1976 das Goldene Jahrzehnt der Nationalmannschaft miterleben. Welchen Einfluss hatte diese Zeit auf Ihre spätere Karriere als Trainer?

Heynckes: Wichtig war, dass man in dieser Epoche der großen Erfolge mit und in der Elite Fußball gespielt hat. Das ist zwar für einen Trainer nicht unbedingt notwendig. Doch ein Vorteil ist es schon, wenn man das alles miterlebt und mitgestaltet hat, was deine Spieler später mal vor der Brust haben. Diese Erfahrung eines einst erfolgreichen Spielers spielt eine wesentliche Rolle, wenn man vor der Mannschaft steht und mit seinen Spielern kommuniziert. Darüber hinaus prägen einen erfolgreichen Trainer aber noch viele andere Erfahrungen, benötigt er noch wichtige andere Bausteine.

DFB.de: Was Themen für ein ganz anderes Interview wären. An dieser Stelle sei nur nachgefragt, ob es einen fundamentalen Unterschied zwischen dem früheren Topspieler und dem späteren Erfolgstrainer Jupp Heynckes gibt?

Heynckes: Ich habe in beiden Bereichen immer versucht, Perfektionist zu sein. Dabei waren großer Ehrgeiz und Engagement, Selbstdisziplin und Respekt, Fleiß, Leidenschaft und die schon erwähnte Priorität des Teamgeists die Grundpfeiler beider Karrieren. Ganz wichtig aber war, dass ich immer großen Spaß und viel Freude an meiner Arbeit gehabt habe, als Spieler wie als Trainer. Ich habe für mein Leben gern Fußball gespielt und wahnsinnig gern als Trainer vor allem mit jungen Spielern gearbeitet.

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DFB.de: Zurück zur EM. Jene Endrunde 72 fand als Mini-Turnier mit vier Mannschaften statt. In diesem Sommer werden in Frankreich bei der EURO 2016 erstmals 24 Teams am Start sein. Was sagen Sie zu dieser Entwicklung?

Heynckes: Ich denke, die Gründe hierfür sind vor allem Marketing und Kommerz. 24 Teams, das sorgt für Verwässerung und ein zu großes Leistungsgefälle. Ich halte das nicht für sinnvoll.

DFB.de: Wie beurteilen Sie die Chance, dass die deutsche Mannschaft als amtierender Weltmeister mit dem vierten Stern nun auch bei einer EM zum vierten Mal triumphieren kann?

Heynckes: Klar, unsere Mannschaft hat als Weltmeister in der EM-Qualifikation nicht gerade brilliert. Wegen einiger Rücktritte und der Verletzungen von Schweinsteiger und anderen musste der Bundestrainer viel improvisieren und experimentieren. Das haben er und die Mannshaft unter dem Strich aber gut gemacht. Einen absoluten Topfavoriten sehe ich nicht. Imponiert haben mir zuletzt die Engländer, die endlich mal Fußball spielen. Also, wir gehören mit Spanien, Frankreich als Veranstalter, den Italienern, die man immer auf der Rechnung haben muss, und England selbstverständlich zum Kreis der Favoriten.

DFB.de: Auch wenn Quervergleiche hinken – viele Experten sehen das heutige Löw-Team auf einem ähnlich hohen spielerischen Niveau wie die EM-Titelträger von 1972. Haben sie Recht?

Heynckes: Direkt miteinander vergleichen lässt sich das, wie gesagt, natürlich nicht. Fakt ist, dass wir 2010 bei der WM in Südafrika richtig guten Fußball gespielt haben. Spielerisch wirkliche Weltklasse bot unsere Mannschaft zudem 2014 beim 7:1 im Halbfinale gegen Brasilien und hat auch sonst immer wieder spielerische Glanzpunkte gesetzt. Sie hat sich weiterentwickelt und wieder sehr, sehr gute Fußballspieler in ihren Reihen. Letztendlich kommt es darauf an, wie der Bundestrainer die Mannschaft zusammenstellt. Wir haben Fantasie, haben spieltechnische Klasse und bieten attraktiven Fußball. Das unterscheidet uns von den allermeisten Nationen. In Sachen Kreativität ist Deutschland mit Spanien ganz klar führend.

DFB.de: Dennoch, so lange kein weiterer EM-Titel gewonnen wird, bleibt das „Jahrhundertteam“ von 1972 mit seiner großen Spielkunst in Sachen Europameisterschaft das Maß aller Dinge?

Heynckes: Jahrhundertteam, das ist doch nur noch wunderschöne Nostalgie. Natürlich sind Titelgewinne das A und O. Sie sind, wie 2014 der WM-Triumph, die Bestätigung einer vielversprechenden Entwicklung. Dies war auch mit dem Double unserer Titelgewinne 1972 und 1974 so. Ich wünsche Jogi Löw und seinen Jungs, dass ihnen jetzt in Frankreich das Double in umgekehrter Reihenfolge gelingt.

DFB.de: Eine persönliche Frage zum Schluss: Nach 50 Jahren Profifußball auf hohem und höchstem Niveau sind Sie seit Ihrem Abschied mit dem historischen Triple beim FC Bayern 2013 nunmehr "total trocken". Wie groß sind die Entzugserscheinungen nach diesem strikten und abrupten Verzicht auf die "Droge Fußball"?

Heynckes: Wer mich kennt, weiß, dass ich keinerlei Probleme mit meinem Ruhestand und keine Entzugserscheinungen habe. Ich hätte weiterhin Topvereine trainieren können, weil es etliche hoch attraktive Angebote gab und ich mich fit genug fühle. Doch mir ist bewusst, dass man nur ein Leben hat. Und dass es vor allem ein Leben nach der Fußball- und Trainerlaufbahn gibt. Dieses Leben lebe ich jetzt voller Freude mit ganz neuen Schwerpunkten. Mit 68 Jahren habe ich den Einstieg in dieses Leben gut gewählt. Wenn alle bis 68 arbeiten würden oder könnten, wäre die Rente für die Menschen in Deutschland auf Dauer gesichert.