Heute vor 25 Jahren: Der Triumph von Rom

Heute vor 25 Jahren wurde Deutschland zum dritten Mal Fußball-Weltmeister. Die Erinnerung sind noch präsent: Lothar Matthäus' Sololauf gegen Jugoslawien. Rudi Völlers Fehde mit Frank Rijkaard. Bodo Illgners Paraden gegen England. Guido Buchwalds Duelle mit Diego Maradona. Andreas Brehmes Elfmeter gegen Sergio Goycoechea. Für DFB.de blickt der Historiker und Autor Udo Muras auf die WM 1990 in Italien zurück

Die 14. WM-Endrunde wurde in ein Land vergeben, das den Titel schon drei Mal gewonnen hatte: Italien. Quasi über Nacht wurde die Squadra Azzurra, die 1986 in Mexiko noch ein schwaches Bild abgegeben hatte und bei der EM 1988 im Halbfinale gescheitert war, zum WM-Favoriten. Diese Bürde trug sie „wie Atlas die Weltkugel im Genick“, schrieb die Süddeutsche Zeitung treffend. Alle Italiener wollten nicht weniger als den Titel. Zunächst aber galt es, die Voraussetzungen für eine globale Sport-Veranstaltung zu schaffen, an die immer höhere Ansprüche gestellt wurden.

24 Mannschaften sollten in zwölf Stadien den Weltmeister ausspielen. Stadien, die erstmals nur Sitzplätze anbieten durften. Das erforderte teure Neu- und Umbauten in Höhe von umgerechnet rund 800 Millionen D-Mark. In Bari und Turin standen neue Stadien, acht weitere wurden renoviert. Aber als OK-Präsident Hermann Neuberger im März zu seiner Inspektionsreise aufbrach, sagte er skeptisch: „Ihr Italiener müsst wirklich sehr tüchtig sein, wenn ihr in drei Monaten das fertig bringt, wozu wir Deutsche mindestens zwei Jahre nötig hätten.“ Nun, es wurde alles fertig bis zum 8. Juni 1990, doch die Hast forderte Opfer. 24 Tote gab es auf den Baustellen, noch am Morgen des Eröffnungsspiels stürzte in Palermo ein Gerüst ein und riss fünf Männer in den Tod.

Frankreich und Polen verpassen Turnier

Die Anzahl der Bewerber ging erstmals zurück und blieb im zweistelligen Bereich (98). Prominenteste WM-Verpasser waren Frankreich, das zuvor zwei Mal in Folge ins Halbfinale gekommen war, und Polen, das seit 1974 stets die Vorrunde überstanden hatte. Die beiden deutschen Vertreter erlebten in den Tagen des Mauerfalls auch sportlich hochdramatische Momente. Während die Auswahl der DDR sechs Tage nach der innerdeutschen Grenzöffnung Österreich in Wien im entscheidenden Spiel mit 0:3 unterlag, schaffte die Bundesrepublik am gleichen Tag die Qualifikation.

Teamchef Franz Beckenbauer hat oft betont, es sei für ihn „die schwierigste Woche überhaupt“ gewesen, „denn die Mauer fiel und es war unmöglich, die Konzentration hoch zu halten“. Im Falle des Scheiterns wäre er zurückgetreten. Aber die 21 Nationalspieler, die sich in der Sportschule Hennef auf das letzte Spiel gegen Wales vorbereiteten, spürten den Windhauch der Geschichte auch, der von Berlin übers ganze Land wehte. Stürmer Rudi Völler fragte damals: „Das Spiel gegen Wales, was ist das schon gegen dieses Ereignis?“ Thomas Häßler, im Berliner Wedding groß geworden, kannte die Mauer aus eigener Anschauung und gab zu: „Ich wäre jetzt gern in Berlin gewesen, um dies alles ganz persönlich mitzuerleben.“

Häßler schießt Deutschland zur WM

Für sein Land war es dann doch besser, dass er an diesem November-Mittwoch 1989 in Köln geblieben war. Denn Thomas Häßler wurde zum Retter der Nation, sein Volley-Tor entschied das nervenaufreibende Spiel gegen Wales (2:1). Was heute fast niemand mehr weiß: Der spätere Weltmeister gewann nicht mal seine Qualifikationsgruppe – Erzrivale Holland holte einen Zähler mehr – und kam nur durch den Umstand, bester Zweiter in den beiden Vierer-Gruppen geworden zu sein, nach Italien. Dafür blieb Dänemark auf der Strecke.

In der deutschen WM-Qualifikations-Geschichte ist es nie spannender gewesen als 1989, aber das muss kein schlechtes Omen sein, wie sich zeigen sollte. Es wäre auch fatal gewesen, hätten die Deutschen gefehlt, denn Italien sah eine Heerschau des Fußball-Adels: Alle bisherigen Weltmeister hatten sich qualifiziert. Brasilien wieder einmal ungeschlagen, wenngleich skandalumwittert. Im letzten Spiel gegen Chile flogen Raketen auf den Rasen und Gästetorwart Rojas brach scheinbar schwer getroffen zusammen. Die Chilenen, die 0:1 zurücklagen, verließen den Rasen und der Schiedsrichter brach die Partie ab. Chile hoffte nun auf die Punkte am Grünen Tisch, doch TV-Aufnahmen enthüllten, dass Rojas gar nicht getroffen worden war. Nun galten die Chilenen als Verursacher des Abbruchs und Brasilien bekam die Punkte mitsamt WM-Ticket. Chile wurde von der Fifa sogar für die WM 1994 ausgeschlossen.



Heute vor 25 Jahren wurde Deutschland zum dritten Mal Fußball-Weltmeister. Die Erinnerung sind noch präsent: Lothar Matthäus' Sololauf gegen Jugoslawien. Rudi Völlers Fehde mit Frank Rijkaard. Bodo Illgners Paraden gegen England. Guido Buchwalds Duelle mit Diego Maradona. Andreas Brehmes Elfmeter gegen Sergio Goycoechea. Für DFB.de blickt der Historiker und Autor Udo Muras auf die WM 1990 in Italien zurück

Die 14. WM-Endrunde wurde in ein Land vergeben, das den Titel schon drei Mal gewonnen hatte: Italien. Quasi über Nacht wurde die Squadra Azzurra, die 1986 in Mexiko noch ein schwaches Bild abgegeben hatte und bei der EM 1988 im Halbfinale gescheitert war, zum WM-Favoriten. Diese Bürde trug sie „wie Atlas die Weltkugel im Genick“, schrieb die Süddeutsche Zeitung treffend. Alle Italiener wollten nicht weniger als den Titel. Zunächst aber galt es, die Voraussetzungen für eine globale Sport-Veranstaltung zu schaffen, an die immer höhere Ansprüche gestellt wurden.

24 Mannschaften sollten in zwölf Stadien den Weltmeister ausspielen. Stadien, die erstmals nur Sitzplätze anbieten durften. Das erforderte teure Neu- und Umbauten in Höhe von umgerechnet rund 800 Millionen D-Mark. In Bari und Turin standen neue Stadien, acht weitere wurden renoviert. Aber als OK-Präsident Hermann Neuberger im März zu seiner Inspektionsreise aufbrach, sagte er skeptisch: „Ihr Italiener müsst wirklich sehr tüchtig sein, wenn ihr in drei Monaten das fertig bringt, wozu wir Deutsche mindestens zwei Jahre nötig hätten.“ Nun, es wurde alles fertig bis zum 8. Juni 1990, doch die Hast forderte Opfer. 24 Tote gab es auf den Baustellen, noch am Morgen des Eröffnungsspiels stürzte in Palermo ein Gerüst ein und riss fünf Männer in den Tod.

Frankreich und Polen verpassen Turnier

Die Anzahl der Bewerber ging erstmals zurück und blieb im zweistelligen Bereich (98). Prominenteste WM-Verpasser waren Frankreich, das zuvor zwei Mal in Folge ins Halbfinale gekommen war, und Polen, das seit 1974 stets die Vorrunde überstanden hatte. Die beiden deutschen Vertreter erlebten in den Tagen des Mauerfalls auch sportlich hochdramatische Momente. Während die Auswahl der DDR sechs Tage nach der innerdeutschen Grenzöffnung Österreich in Wien im entscheidenden Spiel mit 0:3 unterlag, schaffte die Bundesrepublik am gleichen Tag die Qualifikation.

Teamchef Franz Beckenbauer hat oft betont, es sei für ihn „die schwierigste Woche überhaupt“ gewesen, „denn die Mauer fiel und es war unmöglich, die Konzentration hoch zu halten“. Im Falle des Scheiterns wäre er zurückgetreten. Aber die 21 Nationalspieler, die sich in der Sportschule Hennef auf das letzte Spiel gegen Wales vorbereiteten, spürten den Windhauch der Geschichte auch, der von Berlin übers ganze Land wehte. Stürmer Rudi Völler fragte damals: „Das Spiel gegen Wales, was ist das schon gegen dieses Ereignis?“ Thomas Häßler, im Berliner Wedding groß geworden, kannte die Mauer aus eigener Anschauung und gab zu: „Ich wäre jetzt gern in Berlin gewesen, um dies alles ganz persönlich mitzuerleben.“

Häßler schießt Deutschland zur WM

Für sein Land war es dann doch besser, dass er an diesem November-Mittwoch 1989 in Köln geblieben war. Denn Thomas Häßler wurde zum Retter der Nation, sein Volley-Tor entschied das nervenaufreibende Spiel gegen Wales (2:1). Was heute fast niemand mehr weiß: Der spätere Weltmeister gewann nicht mal seine Qualifikationsgruppe – Erzrivale Holland holte einen Zähler mehr – und kam nur durch den Umstand, bester Zweiter in den beiden Vierer-Gruppen geworden zu sein, nach Italien. Dafür blieb Dänemark auf der Strecke.

In der deutschen WM-Qualifikations-Geschichte ist es nie spannender gewesen als 1989, aber das muss kein schlechtes Omen sein, wie sich zeigen sollte. Es wäre auch fatal gewesen, hätten die Deutschen gefehlt, denn Italien sah eine Heerschau des Fußball-Adels: Alle bisherigen Weltmeister hatten sich qualifiziert. Brasilien wieder einmal ungeschlagen, wenngleich skandalumwittert. Im letzten Spiel gegen Chile flogen Raketen auf den Rasen und Gästetorwart Rojas brach scheinbar schwer getroffen zusammen. Die Chilenen, die 0:1 zurücklagen, verließen den Rasen und der Schiedsrichter brach die Partie ab. Chile hoffte nun auf die Punkte am Grünen Tisch, doch TV-Aufnahmen enthüllten, dass Rojas gar nicht getroffen worden war. Nun galten die Chilenen als Verursacher des Abbruchs und Brasilien bekam die Punkte mitsamt WM-Ticket. Chile wurde von der Fifa sogar für die WM 1994 ausgeschlossen.

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USA und Costa Rica dabei

Die sollte in den USA stattfinden, und der nächste Gastgeber durfte sich in Italien schon mal einspielen, denn die College-Boys aus den Staaten lösten ebenso überraschend wie Neuling Costa Rica eines der beiden Tickets, die Mittelamerika zustanden. Die beiden verdankten ihr Glück auch dem Vergehen Mexikos, das beim Weltjugendpokal ältere Spieler eingesetzt hatte und von der Fifa für die WM 1990 ausgeschlossen worden war.

Ganz Afrika bekam auch nur zwei Plätze, Ägypten (erstmals seit 1934) und Kamerun (nach 1982) setzten sich durch. Die größten Exoten kamen diesmal aus Asien: die Vereinigten Arabischen Emirate schafften es, in der Finalrunde mit sechs Mannschaften nur ein Spiel (2:1 gegen China) zu gewinnen. Weil sie aber ungeschlagen blieben, reichte es zum zweiten Platz hinter Südkorea, das schon 1986 dabei gewesen war.

Losen mit Loren

Über die Verteilung des Feldes wurde am 9. Dezember 1989 in Rom entschieden. Im Rahmen einer bunten Show, der die Schauspielerin Sophia Loren einen ganz eigenen Charme verlieh und zu der jeder bisherige Weltmeister eine lebende Legende auf die Bühne schickte – Deutschland wurde durch Karl-Heinz Rummenigge vertreten – wurden die Lose gezogen.

Sechs Mannschaft wurden als „Gruppenköpfe“ gesetzt, womit automatisch die Favoriten benannt wurden: Italien, Argentinien, Brasilien, Deutschland, England und der WM-Vierte Belgien.

Die Deutschen verließen den Sportpalast mit einem Lächeln auf den Lippen, ihre Gegner waren durchaus schlagbar: Wie so oft Jugoslawien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kolumbien. Franz Beckenbauer sagte: „Wir haben diesmal wirklich Glück gehabt.“ Quartier bezog die DFB-Delegation inErba am Comer See, wo sich einige Nationalspieler schon längst zuhause fühlten. Denn kennzeichnend für die Weltmeister von 1990 war das italienische Element. Fünf Spieler waren bereits vor der WM in das Gastgeberland gezogen: die Mailänder Matthäus, Brehme, Klinsmann (alle bei Inter) und die Römer Rudi Völler und Thomas Berthold (AS Rom). Sie alle erlebten dort die schönsten Jahre ihrer Karriere und waren ebenso beliebt wie erfolgreich.

Deutsche begehrt in Italien

Die Roma-Fans wählten Völler zum besten Spieler der Saison 89/90. Inter wurde mit seinen Deutschen 1989 Meister und 1990 Supercup-Sieger Italiens. Brehme hatte man schon in seiner ersten Saison 88/89 zum besten Ausländer der Liga gewählt. „Du hast gar kein Geld gebraucht, wenn du ausgegangen bist. Wenn du da in ein Lokal kamst, haben sich alle noch bedankt, dass du da warst.“, berichtete Brehme von seiner Popularität. Jürgen Klinsmann, der 1989 über den Brenner gezogen war, sagte kurz vor der WM: „In Deutschland habe ich sehr gerne Fußball gespielt, in Italien genieße ich es.“ Rudi Völler, bereits seit 1987 Wahl-Italiener hatte, hatte sich schon assimiliert: „Ich fühle mich hier einfach heimisch. Wenn ich den Fernseher einschalte, höre ich keine fremde, sondern eine mir längst vertraute Sprache.“

Die Präsenz der Legionäre trug wesentlich dazu bei, dass die deutsche Mannschaft in Italien quasi sieben Heimspiele hatte. Jürgen Klinsmann hatte das vorausgesehen. Nach den Vorteilen einer WM in Italien befragt, antwortete er: „Zum einen kennen wir hier jedes Stadion in Italien und die Leute kennen uns. In Mailand, wenn wir nicht gerade gegen Italien spielen, stehen die Tifosi voll hinter uns.“

"Ihr kommt unter die ersten Vier"

Teamchef Franz Beckenbauer setzte voll auf seine Legionäre: „Sie haben ein höheres Niveau und professionelleres Verhalten, spielerische Fortschritte und Ernsthaftigkeit erreicht. Italien ist der Bundesliga in allen Belangen überlegen“, sagte er. Das zeigte sich auch im April, als alle drei Halbfinalduelle in den Europacup-Wettbewerben zu Gunsten der italienischen Klubs ausgegangen waren. Das weckte eher den Ehrgeiz im deutschen Lager. Als Franz Beckenbauer die Spieler am 14. Mai in Malente erstmals zusammenrief, begrüßte er sie angeblich so: „Dass eins klar ist – ihr kommt unter die ersten Vier. Und unser Ziel ist der Titel.“

Seiner Mannschaft traute man das zu, aber als Top-Favorit fuhr sie nicht gerade in den Süden. Bei den Wettbüros und Umfragen lag sie auf Platz drei oder vier. Doch im Vergleich zur WM 1986 in Mexiko war alles besser: die Qualität, das Selbstbewusstsein, das interne Klima, die Unterbringung, das Ansehen des Trainers Beckenbauer innerhalb der Mannschaft – obwohl es derselbe war.

Beckenbauer ließ Spieler gewähren

Jürgen Kohler schrieb in seiner Autobiographie: „Es war die beste Stimmung, die ich mit der Nationalmannschaft je erlebt habe. Der Franz hatte uns gewähren lassen und ist nicht wie ein Schießhund hinter uns her gerannt, um uns zu kontrollieren. Es war ihm egal, ob einer fünf Minuten früher oder später ins Bett ging oder mal ein, zwei Bierchen trank. Er hatte die nötige Lässigkeit, über den Dingen zu stehen.“

Die Dinge waren aber auch nicht weiter schlimm. Als das Team am 8. Juni im Castello di Casiglio in Erba eintraf, standen die Rahmenbedingungen für eine nahezu perfekte WM. Die Prämienfrage war vorab geklärt (125.000 Mark pro Kopf für den Titel), die meisten Frauen waren in einem benachbarten Hotel einquartiert und durften jeden Tag zu Besuch kommen. Die Italien-Legionäre ließ Beckenbauer auch mal im eigenen Bett schlafen – und so lud Klinsmann den einstigen Stuttgarter Klub-Kameraden Guido Buchwald in sein Haus am Comer See ein. Brehme und Matthäus zeigten den Kollegen ihre Lieblingsrestaurants in ihrem Wohnort Carimate, der nur 24 Kilometer von Erba entfernt war. So konnte Matthäus am freien Tag zum Stamm-Friseur gehen.

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Stamm-Formation stand schon recht früh fest

Auch sportlich lief es von Beginn an reibungslos. Die Stamm-Formation stand schon seit Monaten ziemlich fest. Bodo Illgner im Tor, in der Abwehr Libero Klaus Augenthaler, Thomas Berthold, Jürgen Kohler und Andreas Brehme. Kapitän Lothar Matthäus und Guido Buchwald standen im defensiven Mittelfeld, Jürgen Klinsmann und Rudi Völler waren der Parade-Sturm, der auch privat harmonierte.

Nur im offensiven Mittelfeld hatte der deutsche Fußball-Kaiser die Qual der Wahl. Das Motto hieß: zwei aus vier. Die Kandidaten waren Thomas Häßler, Pierre Littbarski, Olaf Thon und Uwe Bein. Andreas Möller wurden Außenseiterchancen eingeräumt.

Wo einst Barbarossa nächtigte

Nach einem Zwischenstopp in Kaltern, wo eine Südtirol-Auswahl 13:0 abgefertigt wurde, bezog die Mannschaft schließlich im herrlichen Quartier Castello di Castiglio in Erba am Comer See Quartier. Für das weitläufige Gelände, witzelte Thomas Berthold, „benötigt man einen Kompass um den Weg aus den Zimmern zum Essen zu finden“. Hier hatte schon 800 Jahre zuvor Kaiser Barbarossa residiert, nun zog für drei Wochen der deutsche Fußball-Kaiser mit Gefolge ein.

Das Turnier begann am 8. Juni 1990 mit einem Paukenschlag. Wieder sah die Welt ein torarmes Eröffnungsspiel, aber doch kein torloses. Und der Ball, den ein gewisser Oman Biyik in der 66. Minute in Mailands San Siro-Stadion über die Torlinie bugsierte, erschütterte die Säulen der Fußballwelt. Das vermeintlich kleine Kamerun, das schon 1982 ungeschlagen geblieben war (drei Unentschieden), kam zu seinem historischen ersten WM-Sieg überhaupt. Der Gegner war kein Geringerer als Titelverteidiger Argentinien um Welt-Star Diego Maradona. Selbst als die zuweilen rustikalen Afrikaner in der Schlussphase auf neun Mann dezimiert worden waren, kam Argentinien nicht zu einem Tor.

Kamerun - der Stolz Afrikas

Sechs Tage später war ganz Afrika unermesslich stolz auf seinen bis dahin besten Vertreter aller Zeiten, stand Kamerun doch nach dem 2:1 über Rumänien als erster der 24 Teilnehmer als Achtelfinalist fest. Das Wunder machte ein 38-Jähriger wahr, der auf der Insel Reunion die Reservebank drückte. Roger Milla wurde vom Staatspräsidenten persönlich in den WM-Kader befördert und erzielte nach seiner Einwechslung beide Tore. Auf der Strecke in dieser Gruppe blieb überraschend Vize-Europameister Sowjetunion, während sich Rumänien und Argentinien ebenfalls für die nächste Runde qualifizierten.

Auch andere Favoriten hatten Mühe. Italien gewann zwar alle Spiele der Gruppe A und blieb ohne Gegentor, doch während das 1:0 über Österreich noch einer guten Leistung entsprang, hagelte es nach dem gleichen Ergebnis gegen Außenseiter USA Pfiffe im Olympiastadion von Rom. Die Versöhnung mit seinem kritischen Publikum feierte die Squadra Azzura beim 2:0 gegen die Tschechoslowakei, als Trainer Azeglio Vicini erstmals Toto Schillaci in die Startelf stellte. Der kleine Sizilianer war Italiens erster WM-Held, weil er gegen Österreich schon vier Minuten nach seiner Einwechslung das erlösende 1:0 erzielte. Gegen die Tschechoslowakei brauchte er neun Minuten.

Österreich nach Vorrunde draußen

Die Tschechen konnten es verkraften: Sie und Italien standen schon als Achtelfinalisten fest. Ihr Trainer Dr. Josef Venglos hatte nach dem triumphalen 5:1 über die Amerikaner die Erwartungen dämpfen müssen: „Wir sind kein Eilzug, aber wir wissen, wo wir hinwollen.“ Dabei halfen auch zwei Spieler von Bundesligist FC St. Pauli, Jan Kocian und Ivo Knoflicek. Österreich dagegen musste wie die USA die Heimreise antreten.

In der Gruppe C setzte sich erwartungsgemäß Brasilien durch, aber das Wie ließ die Experten aufhorchen. Drei knappe Siege über Schweden (2:1), Costa Rica und Schottland (je 1:0) stellten die Heimat nicht zufrieden. Pelé sagte: „Man hat den Eindruck, Brasilien habe Angst. Das sind die Leute nicht gewohnt.“ Was aber waren die Sorgen der Brasilianer gegen die der Schotten? Die ewigen WM-Pechvögel fuhren auch nach ihrer sechsten Vorrunde heim – als einer von zwei Dritten, die im Quervergleich mit den anderen fünf Gruppen zu wenige Punkte hatten. Und mit ihnen die Schweden, die sogar sämtliche Spiele verloren.

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Noch ein Außenseiter glänzt: Costa Rica

Dagegen konnte Costa Rica sein Glück kaum fassen: Gleich bei ihrer ersten WM-Teilnahme waren die Mittelamerikaner als Gruppenzweiter mit zwei Siegen ins Achtelfinale gekommen. Trainer-Weltenbummler Bora Milutinovic, der 1986 noch Mexiko ins Viertelfinale geführt hatte, machte es möglich. Damit waren die Reisepläne Makulatur, am 23. Juni sollte der Flieger eigentlich nach San José steigen. Nun sorgten sich die Spieler, fast alles Amateure, um ihre Arbeitsplätze, denn länger hatte keiner Urlaub eingereicht. Nur Volksheld Juan Cayasso, der Mann, der die Schotten abschoss, sah es entspannter: Der spätere Profi der Stuttgarter Kickers war selbständig – als Barbesitzer.

Weitere Sensationen brachte die Vorrunde nicht. Es sei denn, man betrachtet die Zahlenspiele der Gruppe F als sensationell. Fünf der sechs Duelle endeten Remis und brachten nur sieben Tore hervor. Englands 1:0 über Ägypten war der höchste, weil einzige Sieg in den Hitzeschlachten auf Sizilien. Den zweiten Platz nahmen die Iren und Europameister Niederlande gemeinsam ein, und weil der Spielplan dies nicht vorsah, musste der Dritte, also Gegner der deutschen Mannschaft, per Los ermittelt werden. Es fiel auf den alten Rivalen, der schon in der Qualifikation in der deutschen Gruppe gewesen war.

„Die Europäer sehen aus wie Wassertropfen"

In Gruppe E setzte sich Europa durch: Spanien und Belgien belegten die ersten beiden Plätze. Uruguay lief als Dritter ein, und Südkorea war nur ein einziges Tor vergönnt. Die Begründung der Asiaten für ihr erneut unbefriedigendes Abschneiden ist übrigens unbedingt erwähnenswert. Trainer Hoe-Taik Lee sagte: „Die Europäer sehen aus wie Wassertropfen – alle gleich.“

Das ist offenbar eine Frage der Perspektive. Jedenfalls spielten sie nicht alle gleich. Und keiner spielte in der Vorrunde besser als die deutsche Mannschaft, die in Mailand quasi drei Heimspiele hatte. Zum einen aufgrund der drei Lokalmatadoren Matthäus, Brehme und Klinsmann, zum anderen aufgrund der Vielzahl deutscher Fans, die sich auf den Weg in Norditaliens Modemetropole gemacht hatten.

Diskussionen in den Medien

Vor dem ersten und zugleich schwersten Spiel gegen Jugoslawien bestimmten die üblichen Diskussionen um die Aufstellung das Geschehen in den Medien und in Erba. Spaßvogel Pierre Littbarski gingen sie dermaßen auf den Geist, dass er eines Tages mit einem aufgeklebten Zettel auf der Brust vor der Presse erschien. Darauf stand: „Ich weigere mich heute, Auskunft über die Mannschaftsaufstellung zu geben. Nähere Informationen beim Pressechef des DFB.“

Am 10. Juni saß der Kölner auf der Bank, Beckenbauer hatte sich für Uwe Bein entschieden. In der Abwehr stand Buchwald für den angeschlagenen Kohler, dafür rückte Stefan Reuter auf die rechte Seite im Mittelfeld. Das war so noch nie geprobt worden, doch die Aufführung in der Mailänder Scala des Fußballs geriet zur Demonstration. Lothar Matthäus machte sein 75. und wohl bestes Länderspiel und eröffnete nach 29 Minuten den deutschen Torreigen mit einem satten Linksschuss. Einen Scorerpunkt verdiente sich Giovanni Trapattoni: der Trainer von Inter Mailand hatte Matthäus dazu verdonnert, intensiv seinen schwächeren Fuß zu trainieren und nun sah man das Ergebnis.

Matthäus' Traumtore

Am Ende stand ein 4:1 (1:0), weil Matthäus noch ein sensationelles Tor nach einem unwiderstehlichen Solo erzielte – gerade als die Partie nach dem jugoslawischen Tor durch Jozic zu kippen drohte. Zum 3:1 nahm er allerdings wieder den „richtigen“ Fuß. Auch die anderen Tore gingen auf das Konto der Italiener: Klinsmann köpfte das 2:0 und Völler drückte Brehmes Schuss zum 4:1-Endstand über die Linie. Kurios: die Fifa hat das Tor Brehme gegeben, der DFB nach interner Zeugenbefragung Völler. „Rudi gab dem Ball den letzten Tick“, verkündete DFB-Pressechef Wolfgang Niersbach, „der Andy steht gerne zurück.“

Teamchef Franz Beckenbauer, der das Spiel durch eine schmale Brille beobachtete, gab den Spielern eineinhalb Tage frei als Lohn für den Start nach Maß. Als sie wieder zurück waren von ihren Ausflügen ins Umland, wartete schon hoher Besuch. Die Ehrenspielführer Fritz Walter und Uwe Seeler machten dem Team ihre Aufwartung. „Seit Jahren habe ich eine deutsche Elf nicht mehr so gut spielen gesehen“, sprach Walter ein Riesenkompliment aus berufenem Munde aus. Alle spürten von Beginn an: Diese WM kann etwas Besonderes werden.

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5:1 gegen die Vereinigten Arabischen Emirate

Bei Blitz und Donner gab es im zweiten Spiel gegen die Vereinigten Arabischen Emirate auch einen Torhagel. Das 5:1 sahen zumindest die Journalisten unter blauen Plastikplanen versteckt, denn ausgerechnet die mit Monitoren ausgestattete Pressetribüne war nicht regengeschützt.

Allzu viel bildeten sich die Deutschen nicht ein auf den zweiten Sieg, der bereits das Achtelfinale bedeutete. Über ihre Treffer durch Klinsmann, Völler, Matthäus, Bein und ein Eigentor freuten sie sich dennoch, aber der Glücklichste stand auf der anderen Seite.

Der Scheich, der dem Fußballverband vorstand, stiftete dem ersten WM-Torschützen eine Luxus-Karosse im Wert von damals 120.000 D-Mark. Gegen Kolumbien (0:2) hatte sie sich noch keiner verdient, doch unmittelbar nach Wiederanpfiff nutzte Khalid Ismail Mubarak die Gunst der Stunde, sprich eine deutsche Unaufmerksamkeit, zum Premieren-Tor der Emirate.

Kolumbien schlägt zurück

Wer hinter Deutschland und Jugoslawien ins Achtelfinale gelangen sollte, entschied sich am 19. Juni erst in der letzten Minute des Spiels gegen Kolumbien, in dem die Deutschen an einem schwülen Nachmittag wieder vor einem Sieg standen. Der eingewechselte Pierre Littbarski hatte in der 87. Minute das fällige 1:0 erzielt, womit Kolumbien hätte ausscheiden müssen. Doch in der Nachspielzeit schickte Spielmacher Valderama, der die bemerkenswerteste Frisur dieser WM trug, Stürmer Rincon auf die Reise und der tunnelte Bodo Illgner. Das heftig umjubelte 1:1 bezeichnete Trainer Francisco Maturana als „das wichtigste Kapitel in der kolumbianischen Fußballgeschichte“ und selbst Franz Beckenbauer rang es ein Lächeln ab: „Es war Freude, dass Kolumbien für seinen prächtigen Fußball mit dem Weiterkommen beloht wurde.“

Im Achtelfinale ging es für beide weiter und für Beckenbauer begann „die Weltmeisterschaft erst jetzt richtig“ - mit dem Duell zwischen Deutschland und den Niederlanden, das der Rivalität der Nachbarn ein neues Kapitel hinzufügen sollte. Es galt wieder mal Revanche zu nehmen. Nun war es an den Deutschen, die 1988 im EM-Halbfinale unterlegen waren. Die Szenen, über die alle Welt am Tag danach sprach, hatte aber wenig mit Sport zu tun. In der 22. Minute stellte der argentinische Schiedsrichter Losteau Rudi Völler und Frank Rijkaard vom Platz. Was Völler, der Torwart van Breukelen gefährlich nahe gekommen war, aber noch ausweichen konnte, zusammengeprallt war, getan hatte, blieb schleierhaft. Rijkaard aber hatte den Römer wegen der Torwart-Attacke an den Ohren gezogen und angespuckt, bereits zum zweiten Mal. Ob der Schiedsrichter wirklich nur „Ruhe haben wollte“, wie Co-Kommentator Karl-Heinz Rummenigge mutmaßte? In diesem Fall war es eher ein skandalöses denn salomonisches Urteil, beide vom Feld zu stellen.

Siegen für Rudi

Die Deutschen hatten fortan eine Zusatzmotivation: Siegen für Rudi. Sturmpartner Jürgen Klinsmann machte an diesem 25. Juni sein vielleicht bestes Länderspiel überhaupt, verausgabte sich nach Kräften, traf den Pfosten und in der 51. Minute nach Buchwalds Linksflanke ins Tor. Weitere Chancen einer entfesselt stürmenden deutschen Mannschaft blieben ungenutzt, aber hinten brannte nichts an. Erstmals stand Jürgen Kohler in der Elf und neben ihm noch fünf Defensive, was Beckenbauer selbst als „etwas konservativere Einstellung“ einschätzte. Pierre Littbarski vertrat seinen Kumpel Thomas Häßler glänzend.

Einer der Defensiven entschied dann den bisher spannendsten Abend von San Siro, das offiziell Giuseppe Meazza-Stadion heißt: Der nach seiner Gelb-Sperre zurückgekehrte Andreas Brehme schlenzte von der linken Strafraumecke herrlich ins lange Eck zum 2:0 (85.) – sehr zur Freude von diesmal rund 40.000 deutschen Fans. Die Niederländer schafften nur noch ein Elfmeter-Tor. Van Basten verwandelte den umstrittenen Strafstoß, der nichts an den Tatsachen änderte: Deutschland stand im Viertelfinale, die Niederlande am nächsten Morgen am Flughafen.

Argentinien schaltet Brasilien aus

Eine Niederlage gab es dann doch: Rudi Völler wurde für ein Spiel gesperrt. Aber diese Mannschaft war stark genug, solche Rückschläge wegzustecken und sonnte sich in ihrer plötzlichen Favoritenrolle. Denn Brasilien, das war nach dem Spektakel von Mailand der zweite Aufreger des Achtelfinals, schied aus – gegen die Argentinier unterlagen sie in Turin mit 0:1. Das goldene Tor von Claudio Caniggia bereitete Maradona vor und stellte den Spielverlauf auf den Kopf. Dabei hatte Brasilien erstmals überzeugt, offensiv gespielt und Chancen "im Dutzend billiger" erwirtschaftet.

Genauso weit wie Argentinien war auch sein bisher einziger Bezwinger schon gekommen: Kamerun setzte sich in Turin gegen Kolumbien in der Verlängerung 2:1 durch und kopierte quasi den Sieg über Rumänien. Wieder wurde beim Stand von 0:0 Senior Roger Milla eingewechselt, wieder schlug er zwei Mal zu (106. und 109. Minute), und das Gegentor störte keinen mehr. Erstmals war Afrika in einem WM-Viertelfinale vertreten und die Welt horchte auf.

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Sperrstunde in den Londoner Pubs aufgehoben

Für die Exoten von Costa Rica war indes im Achtelfinale Endstation. Weil sie das Weiterkommen nicht eingeplant hatten, hatte ihr Trainer Bora Milutinovic selbst noch kurzfristig auf Quartiersuche in Bari gehen müssen. Der baumlange Tscheche Tomas Skuhravy traf gleich drei Mal beim erst im letzten Spieldrittel gesicherten 4:1-Sieg. England kam 37 Sekunden vor Schluss gegen Belgien um ein Elfmeterschießen herum. Es war 23.23 Uhr, als David Platts Tor die Sperrstunde in den Londoner Pubs aufhob und England zum Feiern brachte.

WM-Debütant Irland quälte sich in Genua nach zwei torlosen Stunden gegen Rumänien sogar bis ins Elfmeterschießen und verwandelte dort jeden Ball. 5:4 hieß es am Ende. Trainer Jackie Charlton trank im Teamquartier in Ruhe ein paar Bierchen und überlegte, „wie wir die Italiener schlagen können“.

Die waren programmgemäß noch im Rennen. Geburtstagskind Aldo Serena, er wurde 30, beschenkte sich und das ganze Land im Spiel gegen Uruguay. In der 65. Minute legte er Nationalheld Schillaci das 1:0 auf, das 2:0 erzielte er selbst (83.). Italien hatte nicht geglänzt, aber es blieb im Rennen und Torwart Walter Zenga nun schon 832 Minuten ohne Gegentor.

Jugoslawien siegt dank Stojkovic

Das Achtelfinale komplettierte das Hitzespiel von Bologna zwischen Spanien und Jugoslawien, das bei 40 Grad ausgetragen wurde und noch in die Verlängerung musste. Dagegen hatten die Zuschauer nichts, sie sahen ein erfreulich attraktives Spiel. Jugoslawien stand nach dem 1:0 von Stojkovic schon dicht vor dem Sieg, doch nach Salinas' Ausgleich in der 84. Minute ging es in die Verlängerung. Wieder schoss Kunstschütze Stojkovic ein herrliches Tor, sein Freistoß bugsierte Spanien aus dem Turnier.

Im Viertelfinale standen nun sechs Europäer, Argentinien und Kamerun. In den beiden Spielen am 30. Juni fiel nur ein Tor und der Schütze wurde hymnisch gefeiert. „Schillacissimo“ titelte die Gazetta dello Sport nach Italiens 1:0 über tapfere Iren und dem vierten WM-Tor von Toto Schillaci. Erstmals wurden bei dieser WM Computer eingesetzt, die die Schussgeschwindigkeit maßen. Hinter Donadonis Schuss steckten 92 km/h, und der arme Pat Bonner im Tor der von 15.000 Fans unterstützten Iren konnte ihn nicht festhalten, so dass Schillaci dankbar abstauben durfte. Italien war nun auf Titelkurs, hatte als einziges Team alle fünf Spiele gewonnen und die Abwehr um die Recken Bergomi und Baresi hatte wieder kein Tor zugelassen. Trainer Vicini sagte dennoch: „Es tut mir leid, dass die Ergebnisse nicht deutlicher ausgefallen sind.“

Goycoechea wird zum Elfmeter-Töter

Argentinien und Jugoslawien landeten nach torlosen 120 Minuten im Elfmeterschießen. Obwohl der große Maradona, von Verletzungen geplagt, sogar kläglich verschoss, jubelte letztlich Argentinien, das zuvor eine neunzigminütige Überzahl nicht ausnutzen konnte. Es brauchte einen überragenden Ersatztorwart namens Sergio Goycoechea, der zwei Elfmeter hielt und Jugoslawien weinen ließ.

Am 1. Juli bekamen die Fans in aller Welt besseren Fußball zu sehen. Obwohl Franz Beckenbauer an diesem Tag zum ersten Mal bei dieser WM aus der Haut fuhr. Gegen die Tschechen verlief auch das fünfte Spiel in Mailand lange nach Plan – jedenfalls als Lothar Matthäus in der 24. Minute einen an Klinsmann verursachten Elfmeter verwandelte. Auch die Umstellungen – Bein kam wieder zurück (für Reuter) und Karl-Heinz Riedle vertrat Völler – störten den Spielfluss nicht. Aber als die Tschechen in der letzten halben Stunde in Unterzahl gerieten, weil Moravcik der Schuh weggeflogen war und das als Attentat auf Littbarski gewertet wurde, schlich sich der Schlendrian ein. Die Mannschaft vermied es, den entscheidenden Stich zu setzen.

Der Kaiser grollt

„Ich habe immer gedacht, ich hätte eine intelligente Mannschaft. Aber die habe ich nicht“, grollte der Kaiser. Kurz danach hatte er sich wieder gefangen, sprach von der besten DFB-Mannschaft, die je bei einem Turnier gewesen sei und dass man „bis zum Platzverweis erkennen konnte, dass wir wie ein WM-Favorit gespielt haben“. Die Heimat war beruhigt, die Spieler aber waren sensibilisiert. Noch mal musste das nicht unbedingt gut gehen.

Im Halbfinale war volle Konzentration angesagt. Dort wartete der alte Rivale England, der sich im besten Viertelfinalspiel gegen Kamerun durchsetzte. In der Verlängerung, nach Rückstand, mit Glück und mit Lineker. 3:2 hieß es für England und Kamerun, dass sich zwischen der 65. und 82. Minute nach Ekekes 2:1 im Halbfinale wähnte, genoss den Beifall für einen großen Kampf und vergab leichtfertig die Entscheidung. „Fünf Minuten nur fehlten ihnen noch, doch sie tanzten in die Niederlage“, heißt es im offiziellen FIFA-Abschlussbericht zur WM 1990. Kamerun ging hoch erhobenen Hauptes, und Roger Milla verhieß: „Das war erst der Anfang einer großen Zukunft. Afrikas Fußball schickt sich an, den Großen in Europa und Südamerika den Kampf anzusagen.“

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Gastgeber Italien: Aus im Halbfinale

Die Halbfinals machten eine Neuauflage des Endspiels von 1986 möglich, aber niemand glaubte daran. Wie sollte Argentinien die Italiener im eigenen Land schlagen? Am 3. Juli bewiesen sie es. Ausgerechnet in Neapel, wo sie Maradona glühend verehrten, platzte der große Traum Italiens. Eines Italiens, das wieder mal ein frühes Schillaci-Tor bejubelte. Aber es kassierte erstmals ein Gegentor, und dieser Hinterkopftreffer Caniggias nach Zengas einzigem Fehler nach insgesamt 999 Ländespiel-Minuten ohne Gegentor führte die Kontrahenten letztlich in die Elfmeter-Lotterie.

Und wieder bewies Sergio Goycoechea seine außergewöhnlichen Fähigkeiten als Elfmetertöter. Er hielt die Schüsse von Serena und Donadoni, der am nächsten Tag als Sinnbild der Katastrophe am Boden kauernd auf einer ganzen Seite der Gazetta dello Sport zu besichtigen war. „Italia Nooo“, schrie das Blatt auf und mit ihm ein ganzes Volk, „verdammte Elfmeter!“

Diegos Tor für die Töchter

Argentinien genoss seine Unbesiegbarkeit und Diego Maradona fand wieder pathetische Worte. „Es war der Wille Argentiniens, der den Sieg ermöglichte.“ Vor seinem Elfmeter habe er große Angst gehabt, weil Zenga ihn ja aus der italienischen Liga kenne, „aber dann habe ich nur an meine Töchter gedacht. Ihnen habe ich das Tor geschenkt.“ Erstmals war ein Land durch zwei Elfmeterschießen ins WM-Endspiel gekommen.

Auch der andere Finalist musste durch dieses Nadelöhr. Am 4. Juli trafen in Turin Deutschland und England aufeinander und konnten alte Rechnungen begleichen. Erstmals spielten die Deutschen nicht in Mailand, was sie ja anstrebten, denn ihr Weg sollte nach Rom führen. Und erstmals trugen sie grüne Hoffnungs-Hemden. Wieder gab es eine andere Aufstellung, das Tschechen-Spiel war doch nicht ohne Folgen geblieben. Beckenbauer gab unerwartet Olaf Thon eine Chance im Mittelfeld, der erst vier Minuten gespielt hatte. Auch Häßler kam zurück, nun saßen die Konkurrenten Bein und Littbarski nicht mal auf der Bank.

Dramatisches Spiel gegen England

Rudi Völlers Sperre war abgelaufen, sein Comeback war nur logisch. Und doch bald wieder zu Ende, nach 38 Minuten musste er verletzt ausgewechselt werden, Riedle löste ihn ab. Die Partie wogte hin und her und verdiente sich Bestnoten. Nach 60 Minuten ging Deutschland durch einen abgefälschten Brehme-Freistoß in Führung, Weltrekordspieler Peter Shilton in seinem 124. Länderspiel sah unglücklich dabei aus und war doch chancenlos.

England aber gab nicht auf und profitierte von einem Missverständnis zwischen Bodo Illgner und Klaus Augenthaler. „Torwart, wo bist Du?“, rief ZDF-Reporter Dieter Kürten Illgner noch zu, doch es half nichts: Gary Lineker erzielte mit seinem vierten Turnier-Tor den verdienten Ausgleich. In der Verlängerung trafen beide Teams den Pfosten, aber keiner ins Tor. Es kam zum vierten Elfmeterschießen dieser WM. Eine Disziplin, die spätestens ab diesem Abend zur deutschen Domäne und zum fast unheilbaren englischen Leiden wurde.

Illgner hält gegen Pearce, Waddle schießt drüber

Während vier Deutsche verwandelten (Brehme, Matthäus Riedle, Thon), scheiterte Stuart Pearce an Bodo Illgner, der erstmals in diesem Turnier beschäftigt worden war. Für Chris Waddle war der Druck vor dem fünften englischen Elfmeter zu groß, er schoss über die Latte und ersparte Thomas Berthold einen Nervenkrimi. Es war vollbracht, zum dritten Mal in Folge und zum sechsten Mal überhaupt stand Deutschland im Finale.

Die Bild-Zeitung titelte angesichts der starken Leistung: „Wir lieben diese Elf!“. Die jetzt den Titel heim holen und Revanche an Argentinien nehmen sollte. Am Vortag des Finales tröstete sich Italien noch mit dem dritten Platz und Toto Schillaci dank eines verwandelten Elfmeters zum 2:1 über England mit der Torjägerkrone. Wenigstens ein Titel für Italien, das 50.000 Zuschauern in Bari eine passable Abschiedsvorstellung bot. Sogar ein Feuerwerk wurde entzündet, als Engländer und Italiener Arm in Arm eine Ehrenrunde liefen.

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Deutschland klarer Favorit im Finale

Dann kam der 8. Juli 1990. Dieser Tag sollte das einseitigste Finale der WM-Geschichte sehen. Die Vorzeichen ähnelten denen von 1986, nur umgekehrt. Damals war Deutschland glanzlos ins Finale eingedrungen, und Argentinien hatte begeistert. Beckenbauers Elf also war Favorit im Kampf von Rom. Er entschied sich im Mittelfeld für das Kölner Duo Littbarski/Häßler. Häßler erfuhr Dankbarkeit für sein Tor gegen Wales, wie Beckenbauer später zugab. Es war kein Fehler. Alle spielten sie gut an diesem Tag. Illgner musste nur einen gefährlichen Ball halten, es war eine hohe Rückgabe von Brehme.

Beckenbauer sagte: „Wir haben Argentinien an die Wand gespielt, die hatten in 90 Minuten keine Torchance.“ Die Deutschen umso mehr. Selbst die Verteidiger stürmten, Berthold köpfte knapp drüber, Libero Augenthaler wurde im Strafraum gelegt, der Elfmeter-Pfiff blieb aber aus. Buchwald schaltete Maradona aus und fand ebenfalls noch Zeit zum Stürmen. Nach 85 langen Minuten aber kam er doch. Die Argentinier, zu diesem Zeitpunkt schon zu zehnt und am Ende gar zu neunt – nach Platzverweisen für Monzon und Dezotti – brachten Völler im Strafraum zu Fall.

Brehme verwandelt souverän

Beckenbauer sagte süffisant: „Da hat der Rudi ein wenig nachgeholfen“, und der ARD-Reporter Gerd Rubenbauer fand das Foul an Augenthaler weit schlimmer. Aber sie nahmen das Geschenk von Schiedsrichter Mendez aus Mexiko gerne an. Lothar Matthäus allerdings verweigert den Dienst vom Kreidepunkt, er spielt mit neuen Schuhen und fühlt sich unsicher. In der Pause waren ein Stollen und die Sohle des rechten Schuhs gebrochen. Der Schuh war übrigens ein Geschenk seines Freundes Diego Maradona, der nun auf der anderen Seite stand.

Andy Brehme übernahm die Aufgabe, Deutschland zum dritten WM-Titel zu schießen. Er wurde nervös, weil der Ball erst nach zwei Minuten parat lag, aber das merkte dem Inter-Legionär aus Hamburg keiner an. Zentimeter neben dem Pfosten landete der Flachschuss im argentinischen Tor. Ein Schuss für die Ewigkeit. Noch heute wird ihm zugerufen: „Andy, unten links!“

Die letzten Minuten überstand die Mannschaft wie im Rausch, auf den Rängen wurde schon gefeiert. Dann, um 21.50 Uhr, pfiff Senor Mendez ab. Um 22.03 Uhr erhielt Lothar Matthäus, der überragende Spieler dieser WM, den Weltpokal aus den Händen des italienischen Staatspräsidenten Cossiga. Der Bundeskanzler Helmut Kohl, der in Mexiko noch tröstende Worte finden musste, durfte nun in der Kabine Glückwünsche aussprechen.

Beckenbauers leise Freude

Nur einer war in der Lage, sich still zu freuen. Das Bild vom einsam entrückten Franz Beckenbauer, der mit der Goldmedaille um den Hals über den Platz spazierte, über ihm ein strahlender Vollmond und ein aufsteigendes Flugzeug, ging um die Welt. Lichtgestalt hat man ihn irgendwann später genannt, vielleicht sogar wegen dieses Moments der Besinnung im Mondlicht.

Am nächsten Morgen lachte dann auch die Sonne über Deutschland, als die Weltmeister am Römer empfangen wurden. Nach durchfeierter Nacht waren nicht mehr alle bei Stimme, aber bester Laune. Sie ließen sich die Freude über das Erreichte nicht vermiesen durch die Stimmen aus dem Ausland, die auf dem umstrittenen Elfmeter herumritten und auch das Niveau des Finales kritisierten. L’Equipe aus Frankreich schrieb: „Die Bundesrepublik hätte besseres verdient. Die beste Mannschaft hat die Mondiale 90 gewonnen, aber das Finale hat das Ansehen eines enttäuschenden Wettkampfes nicht wieder angehoben.“ Nie fielen weniger Tore pro Spiel (2,21), nie gab es mehr Platzverweise (16). Aber nur selten gab es einen Weltmeister, der es so sehr verdient hatte wie die Deutschen anno 1990.