Hans Tilkowski: "Ich fürchte, es wird turbulent"

Hans Tilkowski hat sich im Laufe der Zeit kaum verändert: Das kantige Kinn sticht hervor, ebenso wie die wachen blauen Augen. Klar, das Haar ist grauer und lichter geworden, aber die Bewegungen des 1,82 Meter großen früheren Nationalspielers sind noch immer geschmeidig.

39-mal hütete Hans Tilkowski zwischen 1957 und 1967 das Tor der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Schon damals stand er für Prinzipientreue und Glaubwürdigkeit. Geistig ist der gebürtige Dortmunder nach wie vor topfit. Er redet Klartext, nimmt kein Blatt vor den Mund. Ein echter Typ des Ruhrgebiets eben.

Am 12. Juli wird der Torhüter, der beim Wembley-Tor zwischen den Pfosten stand, 80 Jahre alt. Im Dortmunder Raum feiert der ehemalige BVB-Keeper unter anderem mit seiner Frau Luise (76), seinen drei Kindern und vier Enkelkindern. Wo genau, weiß er selbst noch nicht. Er wird selbst überrascht. Dass zahlreiche Weggefährten aus dem Fußball dabei sein werden, steht außer Frage. "Ich fürchte, es wird turbulent", sagt er augenzwinkernd.

Der Träger des Bundesverdienstkreuzes, der 122 Bundesligaspiele für Borussia Dortmund und Eintracht Frankfurt bestritt, ist seinem Sport stets treu geblieben, ob als Botschafter des Fußball- und Leichtathletik-Verbandes Nordrhein-Westfalen (FLVW) oder als regelmäßiger Tribünengast beim BVB.

Im DFB.de-Interview mit Mitarbeiter Thorsten Langenbahn, der ihn an seinem Wohnort Herne getroffen hat, blickt Hans Tilkowski zurück auf seine einzigartige Laufbahn, er spricht über die Torhüter von damals und heute – und natürlich über das meistdiskutierte Tor der Fußballgeschichte.

DFB.de: Herr Tilkowski, mit fast 80 Jahren: Was machen die Reflexe?

Hans Tilkowski: (lacht) Meine Reflexe habe ich zuletzt nicht überprüft, aber mit meiner Gesundheit bin ich im Großen und Ganzen zufrieden. Die Acht vorne erschreckt mich nicht. Wenn ich daran denke, dass ich vor genau 60 Jahren meinen ersten Profivertrag unterschrieben habe, sage ich mir: Mensch, wo sind die Jahre geblieben.

DFB.de: Torhütern wird ja nachgesagt, dass sie ein bisschen verrückt sind. Was hatten sie für einen Tick?

Tilkowski: Torhüter und Linksaußen, hat man immer gesagt. Ich weiß gar nicht, ob ich einen Tick hatte. Dafür war ich zu sachlich. Als wir mit Westfalia Herne um die deutsche Meisterschaft gespielt haben, hatte ich mal einen gelben Pulli an. Da haben die Leute gesagt der spinnt, denn eigentlich war meine Kluft traditionell schwarz. Wer ein bisschen aus der Reihe tanzte, der wurde nicht mehr akzeptiert. In der Nationalmannschaft hatte man keine Chance, wenn man glaubte, etwas Besonderes zu sein.

DFB.de: Sie tanzten insofern aus der Reihe, als Sie vor genau 50 Jahren, 1965, als erster Torhüter Fußballer des Jahres wurden. Welchen Stellenwert hatte das für Sie?

Tilkowski: Damit hatte ich eine Phalanx durchbrochen. Das war für Torhüter sehr schwierig, weil sie von Journalisten als nicht so bedeutend angesehen wurden. Für mich ist der Torhüter mit die wichtigste Person auf dem Platz. Sie können noch so viele Tore schießen, wenn sie noch mehr reinlassen, hilft das alles nichts. Erst nach und nach wurde die Position richtig gesehen, auch durch meinen Titel als Fußballer des Jahres.

DFB.de: Geschichte geschrieben haben Sie auch am 2. Spieltag der ersten Bundesliga-Saison 1963/64. Da hielten Sie als Keeper von Borussia Dortmund gegen 1860 München den allerersten Elfmeter der neu gegründeten Liga.

Tilkowski: Ich weiß noch, wie der Schütze Alfons Stemmer nach dem Spiel zu mir kam und sagte: "Dass du ihn gehalten hast, war nicht schlimm, aber dass du den Ball festgehalten hast, das war deprimierend für mich." Er war damals einer der sichersten Elfmeterschützen von 1860. Aber ich habe auch von Franz Beckenbauer und Wolfgang Overath Elfmeter gehalten. Bei einem WM-Qualifikationsspiel in Athen habe ich mal beim Stand von 1:0 für uns einen Elfmeter gehalten. Das sind alles schöne Sachen, aber die gehören zum Torhüter-Dasein einfach dazu. Man hat sie gehalten und damit war's das. Das ist die tägliche Arbeit des Torhüters.

DFB.de: Sie waren immerhin einer der ersten Elfmeter-Killer der deutschen Fußballgeschichte. Von 17 Elfmetern haben sie sieben gehalten. Bis heute ist nur die Quote von Gladbachs Uli Sude besser.

Tilkowski: Ich halte nicht viel von Statistiken. Wenn ich vom Kommentator höre, zum Beispiel kürzlich bei der U-21-EM: Der Stürmer hat neun Torschüsse und sechs Vorlagen gegeben. Da geht mir der Hut hoch. Darin sehe ich doch nicht die ganze Effektivität eines Spielers. So ist das auch bei den Elfmetern.

DFB.de: Was braucht man heute wie damals, um als Torhüter erfolgreich zu sein?

Tilkowski: Man muss sich mit dieser Position identifizieren. Und was man nicht kann, muss man verbessern. Ich habe ja das Fußballspielen von kleinauf auf der Straße gelernt. Da hat man gleichzeitig Torhüter und Stürmer gespielt, sich den Ball selbst vorgelegt und ist damit nach vorne gelaufen – so war unsere Spielerei. Zum Erfolg hilft natürlich das spezielle Torwarttraining, was heute viel ausgeprägter ist als früher.

DFB.de: Sie haben für Ihr Leben vier Grundpfeiler, die Sie an den Torpfosten auf dem Platz festmachen. Welche sind das?

Tilkowski: Glaubwürdigkeit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Respekt. Das sind für mich die Eckpfeiler, die auch im Leben Bestand haben. Die sind mir von meinen Eltern und Vorgesetzten mit auf den Weg gegeben worden. Über viele Sachen kann man heutzutage als Älterer ja nur Staunen. Ich bin ja schon froh, dass unsere Nationalspieler nicht mit Kopfhörern zum Frühstück gehen. Aber die Zeit hat sich einfach verändert. Als Sepp Herberger Bundestrainer war, kam er: (singt) 'Hoch auf dem gelben Wagen’. Das war immer sein Lieblingslied. Rückblickend kann ich sagen: Ich bin sehr zufrieden damit, was ich erlebt habe. Ich habe nicht alles richtig gemacht, aber vieles.

DFB.de: Sind Sie trotzdem stolz auf Ihre Nachfolger in der Nationalmannschaft?

Tilkowski: Es hat ja im Tor in der Zwischenzeit viele gegeben. Manuel Neuer, der ja auch aus Westfalen kommt, spielt nicht viel anders als wir früher. Wenn die Medien vom modern spielenden Torwart schreiben … das hat es vor 50 Jahren schon gegeben. Da haben wir auch mitgespielt und Abwürfe bis zur Mittellinie gemacht.

DFB.de: Sie waren zuweilen auch als Stürmer aktiv …

Tilkowski: In früheren Jahren durfte man ja gar nicht auswechseln. Das wissen viele Jüngere heute gar nicht mehr. Und ein Torhüter, der verletzt war, musste mitspielen. Wenn mal ein Finger ausgekugelt war, dann hat der Arzt den wieder eingerenkt und man hat im Feld weitergespielt. Die Freizügigkeit der heutigen Torhüter hatten wir aber nicht. Herberger sagte immer: "Ich brauche einen Torhüter für die Mannschaft, nicht fürs Publikum." Das heißt: Selbstdarsteller oder Ich-AGs hat es damals nicht gegeben. Er wollte, dass man mitspielte, aber keine Showeffekte machte. "Wenn Sie eine Parade machen", sagte er zu mir, "dann haben Sie eine zu viel gemacht. Sie müssen dort stehen, wo der Ball hinkommt."

DFB.de: Und wenn man doch eine Parade zu viel gemacht hat?

Tilkowski: Dann hat auch das Publikum reagiert. Diese Showeffekte und das Hollywood-Theater hat man damals gar nicht gemocht. Als Franz Beckenbauer die ersten Spiele im Ruhrgebiet machte mit seiner Eleganz, auf Schalke hat man den ausgepfiffen. (schmunzelt) Man wollte keine Filigrantechniker, sondern Malocher sehen. So hat sich das Bild des Fußballs und die Sicht der Zuschauer geändert.

DFB.de: Sie selbst waren für Ihre sachliche und unspektakuläre Art bekannt. Welcher von den heutigen deutschen Torhütern kommt ihrem Spiel am nächsten?

Tilkowski: Manuel Neuer ist keiner, der unnütze Paraden macht. Er kommt dieser Sachlichkeit schon sehr nahe. Aber er hat auch einige Schwächen, zum Beispiel sein Fausten.

DFB.de: Wie verfolgen Sie heute das Fußballgeschehen?

Tilkowski: Bei Borussia Dortmund bin ich bei den Heimspielen im Stadion. Im Fernsehen schaue ich viele Spiele, zuletzt auch die deutschen Partien bei der WM im Damenfußball. 1967 nach meinem Wechsel nach Frankfurt habe ich mal als Unparteiischer ein Damen-Fußballspiel geleitet. Da habe ich gedacht: "Um Gottes willen." Aber das hat sich enorm entwickelt. Die Frauen spielen einen hervorragenden Fußball, da können sich manche Männer-Mannschaften eine Scheibe von abschneiden.

DFB.de: Zum Wembley-Tor: Es war vermutlich das unschönste Erlebnis Ihrer Karriere. Was war denn das schönste?

Tilkowski: (überlegt lange) Man muss unterscheiden: Als ich nach Herne kam, haben wir in der Oberliga drei Jahre gegen den Abstieg gespielt, praktisch immer bis zum letzten Spieltag. Ab dem dritten Jahr spielten wir plötzlich oben mit und haben alle geschlagen, ob Schalke, Dortmund oder Köln. Adi Preißler sagte damals zu mir: "Ihr habt eine ganz toll spielende Mannschaft." Wir sind 1958/59 mit großem Abstand Westdeutscher Meister geworden und haben uns oft nach dem Geheimnis dahinter gefragt. Damals durften nur drei Spieler verpflichtet werden, wodurch die Homogenität einer Mannschaft wesentlich größer war als heute, wo oft fünf neue Leute und mehr eingebaut werden müssen. Das ist ein Erklärungssansatz. Wir hatten hier herrliche Momente.

DFB.de: Und darüber hinaus?

Tilkowski: Die Erfolge mit Borussia Dortmund im Europacup und DFB-Pokal waren natürlich großartig. Große Freude herrschte auch bei mir, als ich 1965 Fußballer des Jahres geworden bin. Aber auch die Rückkehr in die Nationalmannschaft 1964, nachdem ich 1962 ein bisschen Diskussionsprobleme mit Sepp Herberger gehabt hatte und bei der WM in Chile nicht im Tor stand. Ich bin heute noch stolz darauf, dass er ein Jahr später zu mir gekommen ist und mich gefragt hat, ob ich wieder in der Nationalmannschaft spielen möchte. Von seiner Position und Autorität her hätte er das nicht nötig gehabt. Das war für mich eine hohe Anerkennung.

DFB.de: Nur deshalb standen Sie dann am 30. Juli 1966 beim umstrittensten Treffer der Fußballgeschichte zwischen den Pfosten. Dass das Wembley-Tor nicht drin war, haben Sie oft genug betont. War es eigentlich haltbar?

Tilkowski: Uwe Seeler sagt, den Ball hätte er rausgeköpft. (lacht herzlich) Ich habe ihn ja durch einen Reflex mit den Fingerspitzen berührt und an die Latte gelenkt. Es ist viel über das Wembley-Tor diskutiert worden, aber das Fußballspiel geht weiter – und es braucht diese Diskussionen. Ich bin kein großer Verfechter der Torkamera. Wir spielen alle nach den gleichen Regeln, wie sollen sich die Vereine in der Landesliga diese Technik finanziell erlauben. Ist das gerecht?

DFB.de: Ist es nicht zumindest in der Bundesliga ein gutes Hilfsmittel für die Schiedsrichter?

Tilkowski: Wissen Sie: Ich habe schon Angst, dass so ein Schiedsrichter eines Tages mit einem Bauchladen herumläuft. Gelbe Karte, weiße Karte, grüne Karte, Sprühzeug und was da sonst noch kommt. Wir haben uns früher schon auf der Straße gestritten: Tor oder nicht Tor, Elfmeter oder nicht Elfmeter. Das gehört zum Fußball dazu. Wir brauchen einfach aufmerksame Schiedsrichter. Es kann doch nicht sein, dass der Ball wie bei der WM in Südafrika einen halben Meter hinter Manuel Neuer hinter der Linie landet und der Torrichter sieht das nicht. Das wäre das 2:2 für England gewesen. So ein Schiedsrichter geht auch bei Rot über die Ampel. Das darf nicht passieren. Da gibt es Nachbesserungsbedarf. Dass Gerechtigkeit durch eine Torkamera kommt, das bezweifel ich. Ich denke, dass Geld können viele Amateurvereine besser gebrauchen, um künftige Nationalspieler hervorzubringen.

DFB.de: Kommen Sie selbst noch zum Sporttreiben?

Tilkowski: Ich habe keine Lust mehr. (lacht) Nein, auch hier muss die Realität Priorität haben. Wenn man nicht regelmäßig trainiert, ist die Gefahr einer Verletzung zu groß. Ich habe bis weit über 70 in der Traditionsmannschaft mitgespielt, aber irgendwann muss man von sich aus sagen: Nein, es geht nicht mehr. Ich habe andere Aufgaben, gerade im sozialen Bereich, die mein Leben ausfüllen und für die ich viel Zeit aufwende. Zusammengerechnet sind dabei über die Jahre mehr als eine Millionen Euro zusammengekommen. Zu meinem Geburtstag habe ich übrigens nie Geschenke angenommen, sondern Spenden für soziale Einrichtungen gesammelt. Das wird auch bei meinem 80. so sein.

DFB.de: Sie feiern Ihren Geburtstag am 12. Juli im Dortmunder Raum. Wie werden Sie Ihren Ehrentag begehen?

Tilkowski: Ich kann es noch nicht genau sagen, weil er von jemand Anderem geplant worden ist. Ich werde selbst überrascht. Meine Familie kommt auf jeden Fall, dann habe ich hier zu Hause erstmal die Bude voll. Und in Dortmund feiern wir dann.

DFB.de: Was wünschen Sie sich für Ihre weiteren Lebensjahre?

Tilkowski: Für meine Familie und für mich wünsche ich mir Gesundheit. Mehr nicht. Ein großes Auto brauche ich nicht mehr. Ich hatte eine Bypass-Operation und Blasenkrebs – zweimal habe ich Glück gehabt. Wenn man das mitgemacht hat, dazu noch die Erfolge, was soll man sich da noch groß wünschen? Es ist ein erfülltes Leben, da kann man sich nur für bedanken. Für das Leben und für den Fußball: Fußball, alter Freund, ich danke Dir!

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Hans Tilkowski hat sich im Laufe der Zeit kaum verändert: Das kantige Kinn sticht hervor, ebenso wie die wachen blauen Augen. Klar, das Haar ist grauer und lichter geworden, aber die Bewegungen des 1,82 Meter großen früheren Nationalspielers sind noch immer geschmeidig.

39-mal hütete Hans Tilkowski zwischen 1957 und 1967 das Tor der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Schon damals stand er für Prinzipientreue und Glaubwürdigkeit. Geistig ist der gebürtige Dortmunder nach wie vor topfit. Er redet Klartext, nimmt kein Blatt vor den Mund. Ein echter Typ des Ruhrgebiets eben.

Am 12. Juli wird der Torhüter, der beim Wembley-Tor zwischen den Pfosten stand, 80 Jahre alt. Im Dortmunder Raum feiert der ehemalige BVB-Keeper unter anderem mit seiner Frau Luise (76), seinen drei Kindern und vier Enkelkindern. Wo genau, weiß er selbst noch nicht. Er wird selbst überrascht. Dass zahlreiche Weggefährten aus dem Fußball dabei sein werden, steht außer Frage. "Ich fürchte, es wird turbulent", sagt er augenzwinkernd.

Der Träger des Bundesverdienstkreuzes, der 122 Bundesligaspiele für Borussia Dortmund und Eintracht Frankfurt bestritt, ist seinem Sport stets treu geblieben, ob als Botschafter des Fußball- und Leichtathletik-Verbandes Nordrhein-Westfalen (FLVW) oder als regelmäßiger Tribünengast beim BVB.

Im DFB.de-Interview mit Mitarbeiter Thorsten Langenbahn, der ihn an seinem Wohnort Herne getroffen hat, blickt Hans Tilkowski zurück auf seine einzigartige Laufbahn, er spricht über die Torhüter von damals und heute – und natürlich über das meistdiskutierte Tor der Fußballgeschichte.

DFB.de: Herr Tilkowski, mit fast 80 Jahren: Was machen die Reflexe?

Hans Tilkowski: (lacht) Meine Reflexe habe ich zuletzt nicht überprüft, aber mit meiner Gesundheit bin ich im Großen und Ganzen zufrieden. Die Acht vorne erschreckt mich nicht. Wenn ich daran denke, dass ich vor genau 60 Jahren meinen ersten Profivertrag unterschrieben habe, sage ich mir: Mensch, wo sind die Jahre geblieben.

DFB.de: Torhütern wird ja nachgesagt, dass sie ein bisschen verrückt sind. Was hatten sie für einen Tick?

Tilkowski: Torhüter und Linksaußen, hat man immer gesagt. Ich weiß gar nicht, ob ich einen Tick hatte. Dafür war ich zu sachlich. Als wir mit Westfalia Herne um die deutsche Meisterschaft gespielt haben, hatte ich mal einen gelben Pulli an. Da haben die Leute gesagt der spinnt, denn eigentlich war meine Kluft traditionell schwarz. Wer ein bisschen aus der Reihe tanzte, der wurde nicht mehr akzeptiert. In der Nationalmannschaft hatte man keine Chance, wenn man glaubte, etwas Besonderes zu sein.

DFB.de: Sie tanzten insofern aus der Reihe, als Sie vor genau 50 Jahren, 1965, als erster Torhüter Fußballer des Jahres wurden. Welchen Stellenwert hatte das für Sie?

Tilkowski: Damit hatte ich eine Phalanx durchbrochen. Das war für Torhüter sehr schwierig, weil sie von Journalisten als nicht so bedeutend angesehen wurden. Für mich ist der Torhüter mit die wichtigste Person auf dem Platz. Sie können noch so viele Tore schießen, wenn sie noch mehr reinlassen, hilft das alles nichts. Erst nach und nach wurde die Position richtig gesehen, auch durch meinen Titel als Fußballer des Jahres.

DFB.de: Geschichte geschrieben haben Sie auch am 2. Spieltag der ersten Bundesliga-Saison 1963/64. Da hielten Sie als Keeper von Borussia Dortmund gegen 1860 München den allerersten Elfmeter der neu gegründeten Liga.

Tilkowski: Ich weiß noch, wie der Schütze Alfons Stemmer nach dem Spiel zu mir kam und sagte: "Dass du ihn gehalten hast, war nicht schlimm, aber dass du den Ball festgehalten hast, das war deprimierend für mich." Er war damals einer der sichersten Elfmeterschützen von 1860. Aber ich habe auch von Franz Beckenbauer und Wolfgang Overath Elfmeter gehalten. Bei einem WM-Qualifikationsspiel in Athen habe ich mal beim Stand von 1:0 für uns einen Elfmeter gehalten. Das sind alles schöne Sachen, aber die gehören zum Torhüter-Dasein einfach dazu. Man hat sie gehalten und damit war's das. Das ist die tägliche Arbeit des Torhüters.

DFB.de: Sie waren immerhin einer der ersten Elfmeter-Killer der deutschen Fußballgeschichte. Von 17 Elfmetern haben sie sieben gehalten. Bis heute ist nur die Quote von Gladbachs Uli Sude besser.

Tilkowski: Ich halte nicht viel von Statistiken. Wenn ich vom Kommentator höre, zum Beispiel kürzlich bei der U-21-EM: Der Stürmer hat neun Torschüsse und sechs Vorlagen gegeben. Da geht mir der Hut hoch. Darin sehe ich doch nicht die ganze Effektivität eines Spielers. So ist das auch bei den Elfmetern.

DFB.de: Was braucht man heute wie damals, um als Torhüter erfolgreich zu sein?

Tilkowski: Man muss sich mit dieser Position identifizieren. Und was man nicht kann, muss man verbessern. Ich habe ja das Fußballspielen von kleinauf auf der Straße gelernt. Da hat man gleichzeitig Torhüter und Stürmer gespielt, sich den Ball selbst vorgelegt und ist damit nach vorne gelaufen – so war unsere Spielerei. Zum Erfolg hilft natürlich das spezielle Torwarttraining, was heute viel ausgeprägter ist als früher.

DFB.de: Sie haben für Ihr Leben vier Grundpfeiler, die Sie an den Torpfosten auf dem Platz festmachen. Welche sind das?

Tilkowski: Glaubwürdigkeit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Respekt. Das sind für mich die Eckpfeiler, die auch im Leben Bestand haben. Die sind mir von meinen Eltern und Vorgesetzten mit auf den Weg gegeben worden. Über viele Sachen kann man heutzutage als Älterer ja nur Staunen. Ich bin ja schon froh, dass unsere Nationalspieler nicht mit Kopfhörern zum Frühstück gehen. Aber die Zeit hat sich einfach verändert. Als Sepp Herberger Bundestrainer war, kam er: (singt) 'Hoch auf dem gelben Wagen’. Das war immer sein Lieblingslied. Rückblickend kann ich sagen: Ich bin sehr zufrieden damit, was ich erlebt habe. Ich habe nicht alles richtig gemacht, aber vieles.

DFB.de: Sind Sie trotzdem stolz auf Ihre Nachfolger in der Nationalmannschaft?

Tilkowski: Es hat ja im Tor in der Zwischenzeit viele gegeben. Manuel Neuer, der ja auch aus Westfalen kommt, spielt nicht viel anders als wir früher. Wenn die Medien vom modern spielenden Torwart schreiben … das hat es vor 50 Jahren schon gegeben. Da haben wir auch mitgespielt und Abwürfe bis zur Mittellinie gemacht.

DFB.de: Sie waren zuweilen auch als Stürmer aktiv …

Tilkowski: In früheren Jahren durfte man ja gar nicht auswechseln. Das wissen viele Jüngere heute gar nicht mehr. Und ein Torhüter, der verletzt war, musste mitspielen. Wenn mal ein Finger ausgekugelt war, dann hat der Arzt den wieder eingerenkt und man hat im Feld weitergespielt. Die Freizügigkeit der heutigen Torhüter hatten wir aber nicht. Herberger sagte immer: "Ich brauche einen Torhüter für die Mannschaft, nicht fürs Publikum." Das heißt: Selbstdarsteller oder Ich-AGs hat es damals nicht gegeben. Er wollte, dass man mitspielte, aber keine Showeffekte machte. "Wenn Sie eine Parade machen", sagte er zu mir, "dann haben Sie eine zu viel gemacht. Sie müssen dort stehen, wo der Ball hinkommt."

DFB.de: Und wenn man doch eine Parade zu viel gemacht hat?

Tilkowski: Dann hat auch das Publikum reagiert. Diese Showeffekte und das Hollywood-Theater hat man damals gar nicht gemocht. Als Franz Beckenbauer die ersten Spiele im Ruhrgebiet machte mit seiner Eleganz, auf Schalke hat man den ausgepfiffen. (schmunzelt) Man wollte keine Filigrantechniker, sondern Malocher sehen. So hat sich das Bild des Fußballs und die Sicht der Zuschauer geändert.

DFB.de: Sie selbst waren für Ihre sachliche und unspektakuläre Art bekannt. Welcher von den heutigen deutschen Torhütern kommt ihrem Spiel am nächsten?

Tilkowski: Manuel Neuer ist keiner, der unnütze Paraden macht. Er kommt dieser Sachlichkeit schon sehr nahe. Aber er hat auch einige Schwächen, zum Beispiel sein Fausten.

DFB.de: Wie verfolgen Sie heute das Fußballgeschehen?

Tilkowski: Bei Borussia Dortmund bin ich bei den Heimspielen im Stadion. Im Fernsehen schaue ich viele Spiele, zuletzt auch die deutschen Partien bei der WM im Damenfußball. 1967 nach meinem Wechsel nach Frankfurt habe ich mal als Unparteiischer ein Damen-Fußballspiel geleitet. Da habe ich gedacht: "Um Gottes willen." Aber das hat sich enorm entwickelt. Die Frauen spielen einen hervorragenden Fußball, da können sich manche Männer-Mannschaften eine Scheibe von abschneiden.

DFB.de: Zum Wembley-Tor: Es war vermutlich das unschönste Erlebnis Ihrer Karriere. Was war denn das schönste?

Tilkowski: (überlegt lange) Man muss unterscheiden: Als ich nach Herne kam, haben wir in der Oberliga drei Jahre gegen den Abstieg gespielt, praktisch immer bis zum letzten Spieltag. Ab dem dritten Jahr spielten wir plötzlich oben mit und haben alle geschlagen, ob Schalke, Dortmund oder Köln. Adi Preißler sagte damals zu mir: "Ihr habt eine ganz toll spielende Mannschaft." Wir sind 1958/59 mit großem Abstand Westdeutscher Meister geworden und haben uns oft nach dem Geheimnis dahinter gefragt. Damals durften nur drei Spieler verpflichtet werden, wodurch die Homogenität einer Mannschaft wesentlich größer war als heute, wo oft fünf neue Leute und mehr eingebaut werden müssen. Das ist ein Erklärungssansatz. Wir hatten hier herrliche Momente.

DFB.de: Und darüber hinaus?

Tilkowski: Die Erfolge mit Borussia Dortmund im Europacup und DFB-Pokal waren natürlich großartig. Große Freude herrschte auch bei mir, als ich 1965 Fußballer des Jahres geworden bin. Aber auch die Rückkehr in die Nationalmannschaft 1964, nachdem ich 1962 ein bisschen Diskussionsprobleme mit Sepp Herberger gehabt hatte und bei der WM in Chile nicht im Tor stand. Ich bin heute noch stolz darauf, dass er ein Jahr später zu mir gekommen ist und mich gefragt hat, ob ich wieder in der Nationalmannschaft spielen möchte. Von seiner Position und Autorität her hätte er das nicht nötig gehabt. Das war für mich eine hohe Anerkennung.

DFB.de: Nur deshalb standen Sie dann am 30. Juli 1966 beim umstrittensten Treffer der Fußballgeschichte zwischen den Pfosten. Dass das Wembley-Tor nicht drin war, haben Sie oft genug betont. War es eigentlich haltbar?

Tilkowski: Uwe Seeler sagt, den Ball hätte er rausgeköpft. (lacht herzlich) Ich habe ihn ja durch einen Reflex mit den Fingerspitzen berührt und an die Latte gelenkt. Es ist viel über das Wembley-Tor diskutiert worden, aber das Fußballspiel geht weiter – und es braucht diese Diskussionen. Ich bin kein großer Verfechter der Torkamera. Wir spielen alle nach den gleichen Regeln, wie sollen sich die Vereine in der Landesliga diese Technik finanziell erlauben. Ist das gerecht?

DFB.de: Ist es nicht zumindest in der Bundesliga ein gutes Hilfsmittel für die Schiedsrichter?

Tilkowski: Wissen Sie: Ich habe schon Angst, dass so ein Schiedsrichter eines Tages mit einem Bauchladen herumläuft. Gelbe Karte, weiße Karte, grüne Karte, Sprühzeug und was da sonst noch kommt. Wir haben uns früher schon auf der Straße gestritten: Tor oder nicht Tor, Elfmeter oder nicht Elfmeter. Das gehört zum Fußball dazu. Wir brauchen einfach aufmerksame Schiedsrichter. Es kann doch nicht sein, dass der Ball wie bei der WM in Südafrika einen halben Meter hinter Manuel Neuer hinter der Linie landet und der Torrichter sieht das nicht. Das wäre das 2:2 für England gewesen. So ein Schiedsrichter geht auch bei Rot über die Ampel. Das darf nicht passieren. Da gibt es Nachbesserungsbedarf. Dass Gerechtigkeit durch eine Torkamera kommt, das bezweifel ich. Ich denke, dass Geld können viele Amateurvereine besser gebrauchen, um künftige Nationalspieler hervorzubringen.

DFB.de: Kommen Sie selbst noch zum Sporttreiben?

Tilkowski: Ich habe keine Lust mehr. (lacht) Nein, auch hier muss die Realität Priorität haben. Wenn man nicht regelmäßig trainiert, ist die Gefahr einer Verletzung zu groß. Ich habe bis weit über 70 in der Traditionsmannschaft mitgespielt, aber irgendwann muss man von sich aus sagen: Nein, es geht nicht mehr. Ich habe andere Aufgaben, gerade im sozialen Bereich, die mein Leben ausfüllen und für die ich viel Zeit aufwende. Zusammengerechnet sind dabei über die Jahre mehr als eine Millionen Euro zusammengekommen. Zu meinem Geburtstag habe ich übrigens nie Geschenke angenommen, sondern Spenden für soziale Einrichtungen gesammelt. Das wird auch bei meinem 80. so sein.

DFB.de: Sie feiern Ihren Geburtstag am 12. Juli im Dortmunder Raum. Wie werden Sie Ihren Ehrentag begehen?

Tilkowski: Ich kann es noch nicht genau sagen, weil er von jemand Anderem geplant worden ist. Ich werde selbst überrascht. Meine Familie kommt auf jeden Fall, dann habe ich hier zu Hause erstmal die Bude voll. Und in Dortmund feiern wir dann.

DFB.de: Was wünschen Sie sich für Ihre weiteren Lebensjahre?

Tilkowski: Für meine Familie und für mich wünsche ich mir Gesundheit. Mehr nicht. Ein großes Auto brauche ich nicht mehr. Ich hatte eine Bypass-Operation und Blasenkrebs – zweimal habe ich Glück gehabt. Wenn man das mitgemacht hat, dazu noch die Erfolge, was soll man sich da noch groß wünschen? Es ist ein erfülltes Leben, da kann man sich nur für bedanken. Für das Leben und für den Fußball: Fußball, alter Freund, ich danke Dir!