Es geschah am 12. Spieltag: Als Jens Lehmann die S-Bahn nahm

"Es geschah am 12. Spieltag": In der DFB.de-Serie am Donnerstag blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: Jens Lehmanns bitterer Abend.

Datum: Samstag, 16. Oktober 1993

Ort: Ulrich Haberland Stadion, Leverkusen

Partie: Bayer 04 Leverkusen – Schalke 04 5:1

Der Herbst 1993 bringt stürmische Tage auf Schalke. Der Saisonstart des Traditionsklubs ist verkorkst, nach der 1:3-Heimniederlage gegen den SC Freiburg und dem Sturz auf den letzten Platz wird Trainer Helmut Schulte entlassen. Der Mann mit dem Retter-Image, Jörg Berger, übernimmt den sportlichen Sanierungsfall. Sein Vertrag gilt nur bis Saisonende und verfolgt vor allem diesen Zweck: "Die erste Aufgabe ist der Klassenerhalt", weiß Berger. Und sein erstes Spiel ist in Leverkusen beim Tabellensiebten Bayer 04.

Das kleine Ulrich-Haberland-Stadion ist mit 22.900 Zuschauern ausverkauft, Schalke zieht immer – im Westen sowieso. Der Gästeblock ist voll, die Treuen hoffen auf die Wende zum Guten. Doch mit der Aufstellung sind sie nicht ganz einverstanden, im Tor wollen sie schon länger wieder ihren Liebling Holger Gehrke sehen. Unter Schulte hat der Kapitän wegen Formschwäche seit dem sechsten Spieltag nur auf der Bank gesessen, für ihn spielt der 23-jährige Jens Lehmann. Dieser ist zwar schon über fünf Jahre auf Schalke und Torwart der Aufstiegsmannschaft von 1991, aber eine Lobby hat er nicht. Bei seinem Debüt im September haben sie ihn bereits mit "Gehrke"-Rufen empfangen.

Der Trainerwechsel, so hoffen einige Fans, wäre doch die Gelegenheit, auch den Torwart zu wechseln, aber Berger hält zu Lehmann. Die Folge: Von Beginn an gibt es Rufe und Pfiffe gegen den Keeper, dem das nicht einleuchtet: "Warum das so ist, weiß ich nicht." Die Pfiffe zeigen Wirkung. Lehmann macht einen unsicheren Eindruck, und die hochkarätig besetzte Offensive der Leverkusener profitiert reichlich davon: Ulf Kirsten, Paulo Sergio und erneut Kirsten schießen Bayer binnen sieben Minuten – zwischen der 20. und 27. – schon vorzeitig zum Sieg.

Ein 0:3 kann dieses Schalke nicht aufholen, das spüren alle. Nun geht es nur noch um Schadensbegrenzung. Als die Schalker in die Kabine trotten, bleibt Holger Gehrke draußen und lässt sich warm schießen: Torwartwechsel, für Lehmann ist sein 52. Bundesligaspiel vorzeitig beendet. Jörg Berger sagt der Presse: "Ich habe ihm gestattet, mit seinem Bruder sofort nach Hause zu fahren. Er war so down. Einen Torwart in solcher Situation muss man schützen, auch vor falschen eigenen Reaktionen."

Stattdessen kommt es zu einer ganz besonderen, in der Bundesliga einmaligen Reaktion. Denn Lehmann stellt die Situation in der Kabine etwas anders dar: "Berger sagte zu mir: 'Wir sehen uns morgen.' Ich verstand das als Aufforderung, das Stadion zu verlassen. Ich dachte, mein Bruder Jörg würde vor den Toren auf mich warten, wie er es ein Jahr zuvor bei meiner Verletzung schon einmal tat. Handys gab es damals bekanntlich noch nicht. Also fragte ich die Ordner nach dem nächsten Weg zum Bahnhof." Und so trottet der vom Schicksal geprügelte Jens Lehmann, der 2006 Deutschlands WM-Held werden soll, mit seiner Sporttasche den 500 Meter langen Weg durch einen Park zum S-Bahnhof Leverkusen Mitte, während seine Mitspieler noch ein Bundesligaspiel bestreiten.

Leverkusen scheint ihm kein Glück zu bringen: Schon im Vorjahr kassierte er dort sechs Tore und erlitt einen Kreuzbandriss. Nun also steht er am Bahnhof und wartet auf die S-Bahn (und nicht die Tram, wie es die Legende sagt) nach Essen, wo er zu Hause ist. Da merkt er, dass er gar kein Geld dabei hat. Zum Glück sieht er einen enttäuschten Schalke-Fan, der ebenfalls das Stadion schon verlassen hat. Lehmann erzählt: "Ich lieh mir fünf Mark von einem älteren Herrn, den ich wiedererkannte, weil er häufig beim Training in Schalke war. Ich fuhr also nach Hause nach Essen, der Zug hielt quasi direkt vor meiner Haustür. Ich schaltete um 18 Uhr den Fernseher an und erfuhr aus der Sportschau, dass wir das Spiel 1:5 verloren hatten. Den älteren Herrn habe ich nie mehr wiedergesehen, um ihm die fünf Mark zurückgeben zu können."

Das nicht, aber 15 Jahre später hätte er sein Gewissen beinahe noch erleichtern können. Als Lehmann nach einer grandiosen Karriere mit 61 Länderspielen und fast 40 Jahren noch mal beim VfB Stuttgart in der Bundesliga spielt, stellt sich ihm nach dem Training ein jüngerer Mann vor. Er sei der Sohn des älteren Mannes, der ihm am Bahnhof einst aus der Verlegenheit geholfen hatte. Er wolle aber kein Geld, sondern nur mal kurz "Hallo" sagen. So holt Lehmann eine der vielen Geschichten, die ihn zum etwas anderen Torwart gemacht haben, wieder ein.

Mit den Schalke-Fans macht er übrigens schon früher seinen Frieden: Lehmann gehört 1997 zu den "Euro-Fightern", die den UEFA-Pokal gewinnen. Und spätestens, als er in Mailand den entscheidenden Elfmeter hält, mag so mancher Schalke-Fan seine Pfiffe von Leverkusen bereut haben.

Was sonst am 12. Spieltag geschah

1967/1968: Borussia Mönchengladbach – Borussia Neunkirchen 10:0 – das zweite zweistellige Bundesligaergebnis.

1969/1970: 1. FC Köln – Schalke 04 8:0 – der bis dato höchste Kölner Sieg.

1971/1972: Ulrik Le Fevre von Borussia Mönchengladbach schießt beim 7:0 gegen Schalke das erste ARD-Tor des Jahres. Außerdem gibt es einen Elfmeterrekord, zwölf an einem Spieltag.

1973/1974: Kaiserslautern schlägt Bayern München nach 1:4-Rückstand noch 7:4. Es ist die höchste Niederlage einer Mannschaft mit einem Drei-Tore-Vorsprung.

1982/1983: Borussia Dortmund gegen Arminia Bielefeld endet 11:1 nach einem 1:1 zur Halbzeit. Zehn Tore eines Klubs in einer Halbzeit sind Bundesligarekord.

1984/1985: Das Spitzenspiel zwischen Gladbach und Bayern entfällt, weil die Borussia am Warschauer Flughafen nach einem Europacupspiel wegen Nebels festsitzt.

1986/1987: Einzige Saisonniederlage der Bayern – 0:3 gegen Leverkusen. Kaiserslauterns Frank Hartmann schießt alle Tore beim 5:1 gegen seinen Ex-Klub Schalke.

1991/1992: Kickers Stuttgart gewinnt 4:1 bei den Bayern – Jupp Heynckes wird entlassen.

2003/2004: Sieben Platzverweise bedeuten Einstellung des Bundesligarekords – fünfmal Rot und zweimal Gelb-Rot.

2005/2006: Das schnellste Gegentor in der Bayern-Historie: Bremens Miroslav Klose trifft nach 35 Sekunden in München - Bayern siegt dennoch 3:1.

2010/2011: Kaiserslautern holt einen 0:3-Rückstand gegen VfB Stuttgart auf – am Ende steht es 3:3.

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"Es geschah am 12. Spieltag": In der DFB.de-Serie am Donnerstag blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: Jens Lehmanns bitterer Abend.

Datum: Samstag, 16. Oktober 1993

Ort: Ulrich Haberland Stadion, Leverkusen

Partie: Bayer 04 Leverkusen – Schalke 04 5:1

Der Herbst 1993 bringt stürmische Tage auf Schalke. Der Saisonstart des Traditionsklubs ist verkorkst, nach der 1:3-Heimniederlage gegen den SC Freiburg und dem Sturz auf den letzten Platz wird Trainer Helmut Schulte entlassen. Der Mann mit dem Retter-Image, Jörg Berger, übernimmt den sportlichen Sanierungsfall. Sein Vertrag gilt nur bis Saisonende und verfolgt vor allem diesen Zweck: "Die erste Aufgabe ist der Klassenerhalt", weiß Berger. Und sein erstes Spiel ist in Leverkusen beim Tabellensiebten Bayer 04.

Das kleine Ulrich-Haberland-Stadion ist mit 22.900 Zuschauern ausverkauft, Schalke zieht immer – im Westen sowieso. Der Gästeblock ist voll, die Treuen hoffen auf die Wende zum Guten. Doch mit der Aufstellung sind sie nicht ganz einverstanden, im Tor wollen sie schon länger wieder ihren Liebling Holger Gehrke sehen. Unter Schulte hat der Kapitän wegen Formschwäche seit dem sechsten Spieltag nur auf der Bank gesessen, für ihn spielt der 23-jährige Jens Lehmann. Dieser ist zwar schon über fünf Jahre auf Schalke und Torwart der Aufstiegsmannschaft von 1991, aber eine Lobby hat er nicht. Bei seinem Debüt im September haben sie ihn bereits mit "Gehrke"-Rufen empfangen.

Der Trainerwechsel, so hoffen einige Fans, wäre doch die Gelegenheit, auch den Torwart zu wechseln, aber Berger hält zu Lehmann. Die Folge: Von Beginn an gibt es Rufe und Pfiffe gegen den Keeper, dem das nicht einleuchtet: "Warum das so ist, weiß ich nicht." Die Pfiffe zeigen Wirkung. Lehmann macht einen unsicheren Eindruck, und die hochkarätig besetzte Offensive der Leverkusener profitiert reichlich davon: Ulf Kirsten, Paulo Sergio und erneut Kirsten schießen Bayer binnen sieben Minuten – zwischen der 20. und 27. – schon vorzeitig zum Sieg.

Ein 0:3 kann dieses Schalke nicht aufholen, das spüren alle. Nun geht es nur noch um Schadensbegrenzung. Als die Schalker in die Kabine trotten, bleibt Holger Gehrke draußen und lässt sich warm schießen: Torwartwechsel, für Lehmann ist sein 52. Bundesligaspiel vorzeitig beendet. Jörg Berger sagt der Presse: "Ich habe ihm gestattet, mit seinem Bruder sofort nach Hause zu fahren. Er war so down. Einen Torwart in solcher Situation muss man schützen, auch vor falschen eigenen Reaktionen."

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Stattdessen kommt es zu einer ganz besonderen, in der Bundesliga einmaligen Reaktion. Denn Lehmann stellt die Situation in der Kabine etwas anders dar: "Berger sagte zu mir: 'Wir sehen uns morgen.' Ich verstand das als Aufforderung, das Stadion zu verlassen. Ich dachte, mein Bruder Jörg würde vor den Toren auf mich warten, wie er es ein Jahr zuvor bei meiner Verletzung schon einmal tat. Handys gab es damals bekanntlich noch nicht. Also fragte ich die Ordner nach dem nächsten Weg zum Bahnhof." Und so trottet der vom Schicksal geprügelte Jens Lehmann, der 2006 Deutschlands WM-Held werden soll, mit seiner Sporttasche den 500 Meter langen Weg durch einen Park zum S-Bahnhof Leverkusen Mitte, während seine Mitspieler noch ein Bundesligaspiel bestreiten.

Leverkusen scheint ihm kein Glück zu bringen: Schon im Vorjahr kassierte er dort sechs Tore und erlitt einen Kreuzbandriss. Nun also steht er am Bahnhof und wartet auf die S-Bahn (und nicht die Tram, wie es die Legende sagt) nach Essen, wo er zu Hause ist. Da merkt er, dass er gar kein Geld dabei hat. Zum Glück sieht er einen enttäuschten Schalke-Fan, der ebenfalls das Stadion schon verlassen hat. Lehmann erzählt: "Ich lieh mir fünf Mark von einem älteren Herrn, den ich wiedererkannte, weil er häufig beim Training in Schalke war. Ich fuhr also nach Hause nach Essen, der Zug hielt quasi direkt vor meiner Haustür. Ich schaltete um 18 Uhr den Fernseher an und erfuhr aus der Sportschau, dass wir das Spiel 1:5 verloren hatten. Den älteren Herrn habe ich nie mehr wiedergesehen, um ihm die fünf Mark zurückgeben zu können."

Das nicht, aber 15 Jahre später hätte er sein Gewissen beinahe noch erleichtern können. Als Lehmann nach einer grandiosen Karriere mit 61 Länderspielen und fast 40 Jahren noch mal beim VfB Stuttgart in der Bundesliga spielt, stellt sich ihm nach dem Training ein jüngerer Mann vor. Er sei der Sohn des älteren Mannes, der ihm am Bahnhof einst aus der Verlegenheit geholfen hatte. Er wolle aber kein Geld, sondern nur mal kurz "Hallo" sagen. So holt Lehmann eine der vielen Geschichten, die ihn zum etwas anderen Torwart gemacht haben, wieder ein.

Mit den Schalke-Fans macht er übrigens schon früher seinen Frieden: Lehmann gehört 1997 zu den "Euro-Fightern", die den UEFA-Pokal gewinnen. Und spätestens, als er in Mailand den entscheidenden Elfmeter hält, mag so mancher Schalke-Fan seine Pfiffe von Leverkusen bereut haben.

Was sonst am 12. Spieltag geschah

1967/1968: Borussia Mönchengladbach – Borussia Neunkirchen 10:0 – das zweite zweistellige Bundesligaergebnis.

1969/1970: 1. FC Köln – Schalke 04 8:0 – der bis dato höchste Kölner Sieg.

1971/1972: Ulrik Le Fevre von Borussia Mönchengladbach schießt beim 7:0 gegen Schalke das erste ARD-Tor des Jahres. Außerdem gibt es einen Elfmeterrekord, zwölf an einem Spieltag.

1973/1974: Kaiserslautern schlägt Bayern München nach 1:4-Rückstand noch 7:4. Es ist die höchste Niederlage einer Mannschaft mit einem Drei-Tore-Vorsprung.

1982/1983: Borussia Dortmund gegen Arminia Bielefeld endet 11:1 nach einem 1:1 zur Halbzeit. Zehn Tore eines Klubs in einer Halbzeit sind Bundesligarekord.

1984/1985: Das Spitzenspiel zwischen Gladbach und Bayern entfällt, weil die Borussia am Warschauer Flughafen nach einem Europacupspiel wegen Nebels festsitzt.

1986/1987: Einzige Saisonniederlage der Bayern – 0:3 gegen Leverkusen. Kaiserslauterns Frank Hartmann schießt alle Tore beim 5:1 gegen seinen Ex-Klub Schalke.

1991/1992: Kickers Stuttgart gewinnt 4:1 bei den Bayern – Jupp Heynckes wird entlassen.

2003/2004: Sieben Platzverweise bedeuten Einstellung des Bundesligarekords – fünfmal Rot und zweimal Gelb-Rot.

2005/2006: Das schnellste Gegentor in der Bayern-Historie: Bremens Miroslav Klose trifft nach 35 Sekunden in München - Bayern siegt dennoch 3:1.

2010/2011: Kaiserslautern holt einen 0:3-Rückstand gegen VfB Stuttgart auf – am Ende steht es 3:3.