EM 2008: Nur Spanien ist besser

Zum 14. Mal findet in diesem Sommer die Europameisterschaft statt, erstmals in Polen und der Ukraine. Für DFB.de blickt der Autor und Historiker Udo Muras in einer Serie jeden Freitag bis zur EURO 2012 auf die bisherigen Turniere zurück. Heute: Schweiz und Österreich 2008 – als Deutschland erst im Finale an Spanien scheiterte.

Nie gab es mehr Bewerber um die Ausrichtung der EM 2008. Es waren deren sieben, doch da die wenigsten sich alleine bewarben, warfen insgesamt 16 Länder ihren Hut in den Ring. Dänemark, Finnland, Schweden und Norwegen wollten gar als Quartett eine Skandinavien-EM organisieren. Die UEFA lehnte ab, weil ihre Statuten nur zwei Startplätze für Gastgeber erlaubten. Am 12. Dezember 2004 erhielten die Alpenländer Schweiz und Österreich den Zuschlag. Somit durfte Österreich endlich erstmals an einer EM teilnehmen, sportlich hatte es nie geklappt. Für die Schweizer war es nach 1996 und 2004 schon die dritte Teilnahme. Der Rest quälte sich durch die größte Qualifikation aller Zeiten mit insgesamt 308 Spielen. Immerhin entfielen diesmal die Play-Offs, da sieben Gruppen gebildet wurden (mit bis zu acht Mannschaften) und jeweils die beiden Ersten direkt zur EM kamen.

Fast alle Favoriten kamen durch, aber auf der britischen Insel herrschte Katzenjammer. Ihre Vertreter blieben komplett außen vor, was es zuletzt 1984 gegeben hatte. Besonders in England war der Katzenjammer groß. Dank der russischen Niederlage in Israel (1:2) hatten die Engländer vor dem letzten Spiel doch noch eine realistische Chance bekommen. Sie mussten nur die bereits qualifizierten Kroaten in Wembley schlagen. Doch die wehrten sich als ginge es bereits um den EM-Pokal und gewannen 3:2. Kroatien feierte den Dortmund-Profi Mladen Petric, der den Siegtreffer erzielte, England schmähte seinen Trainer Steve McClaren als "den Trottel mit dem Regenschirm". Russland quälte sich derweil in Andorra zu einem 1:0 und überholte das Fußball-Mutterland. Wie fast immer fand die EM 2008 mit russischer Beteiligung statt. Auch Nachbar Polen schaffte es vor Portugal, das sich mit einem 0:0 zuhause gegen Finnland ins Ziel rettete. In Gruppe B triumphierte wieder mal die italienische Cleverness. Panucci traf für den Weltmeister in der Nachspielzeit zum 2:1 in Glasgow und warf damit Konkurrent Schottland raus.

Franzosensetzen sich verdient durch

Auch Vize-Weltmeister Frankreich setzte sich in dieser engen Gruppe durch, bei nur fünf Gegentoren in zwölf Spielen gewiss verdient. Dieses Duo wurde weit eher unter den Teilnehmern erwartet als der Titelverteidiger, aber die griechische Fußball-Sage ging weiter. Sagenhaft war jedenfalls das Abschneiden von Otto Rehhagels Europameistern: 31 Punkte holte kein anderer Qualifikant. Rehhagel bekam trotzdem heftig Gegenwind für sein Vertrauen in die in die Jahre gekommenen Europameister. "Wir haben einen Trainer, der ziemlich viel Geld verdient, um eine Rentnertruppe auf den Platz zu schicken", schimpfte sogar der griechische Arbeitsminister. Hinterher feierten sie ihren "Rehakles" doch wieder alle, denn was zählte war eben das, was auf dem Platz geschah.

Im Windschatten der Griechen: Türkei

Im Windschatten der Griechen segelten die Türken, die sich im letzten Heimspiel gegen Bosnien-Herzegowina (1:0) qualifizierten. Apropos Heimspiel: wegen der Ausschreitungen nach dem WM-Qualifikationsspiel gegen die Schweiz Ende 2005 mussten die Türken drei Geisterspiele austragen. Alle fanden in Frankfurt statt, vor rund 70 Augenzeugen (Journalisten und Offizielle). Die Türken bewiesen Humor und spannten Transparente über die leeren Blöcke, eines mit der Aufschrift: "70 Millionen hätten hier sowieso nicht rein gepasst." Immerhin: Sie blieben ungeschlagen in ihren Geisterspielen (sieben Punkte) und fuhren zur EM. Ausschlaggebende war jedoch der 4:1-Sieg bei Europameister Griechenland. Norwegen und die alte Fußball-Macht Ungarn, die sogar Malta (2:4) unterlag, blieben auf der Strecke. Der kommende Europameister Spanien verlor zwar in Nordirland und Schweden, qualifizierte sich aber vorzeitig. Schweden bekam den zweiten Platz, auch dank einer Entscheidung am Grünen Tisch. Das Spiel bei den Dänen (3:3) wurde 3:0 gewertet, weil ein Dänen-Fan den deutschen Schiedsrichter Herbert Fandel in vorletzter Minute tätlich attackierte, woraufhin es abgebrochen wurde. Nordirland wurde nur Dritter, meldete aber einen Rekord: Stürmer David Healy schoss 13 Qualifikationstore und löste den Kroate Davor Suker ab. In Gruppe G kam es zum Dreikampf zwischen Niederlande, Rumänien und Bulgarien, das letztlich auf der Strecke blieb. Die von Europameister Marco van Basten trainierten Holländer bekleckerten sich im entscheidenden Spiel aber nicht mit Ruhm: gegen Fußballzwerg Luxemburg reichte es nur zu einem 1:0. Ihr letztes Spiel in Weißrussland, vom Deutschen Bernd Stange trainiert, schenkten sie 1:2 ab.

Auch Deutschland ließ sich nach souverän erfüllter Pflicht etwas hängen. Bereits vor den drei letzten Heimspielen hatte die Löw-Elf ihr Ticket, leider gewann sie nur noch gegen Zypern (4:0). Den Tschechen erlaubte sie in München ein 3:0, was ihr den Gruppensieg kostete und auch gegen Wales sprang in Frankfurt nur ein 0:0 heraus. "Tristes Ende 2007 – 2008 wird es heiß", titelte der Kicker. Dennoch war Fußball-Deutschland mit der Weiterentwicklung der Mannschaft nach dem dritten Platz beim WM-Sommermärchen zufrieden. Auf die Frage im Kicker, ob Deutschland Europameister werde, antworteten 59,85 % von rund 54.000 Lesern mit Ja. Die Liga bot Löw immer wieder neue Alternativen, in der Qualifikation kamen in zwölf Partien 33 Spieler zum Einsatz. Junge hungrige Spieler wie Marcell Jansen, Kevin Kuranyi, der in Prag beide Tore zum 2:1-Sieg und insgesamt die meisten deutschen Tore schoss, Mario Gomez oder Simon Rolfes waren zum Kreis der meist ebenfalls noch jungen WM-Teilnehmer um Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Christoph Metzelder oder Per Mertesacker gestoßen. Das Tor hütete Jens Lehmann, der nach dem Rücktritt von Oliver Kahn konkurrenzlos die Nummer eins war. Bezeichnend dass Löw die Nummer zwei während der Qualifikation, Timo Hildebrand, noch kurz vor der EM aussortierte.



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Zum 14. Mal findet in diesem Sommer die Europameisterschaft statt, erstmals in Polen und der Ukraine. Für DFB.de blickt der Autor und Historiker Udo Muras in einer Serie jeden Freitag bis zur EURO 2012 auf die bisherigen Turniere zurück. Heute: Schweiz und Österreich 2008 – als Deutschland erst im Finale an Spanien scheiterte.

Nie gab es mehr Bewerber um die Ausrichtung der EM 2008. Es waren deren sieben, doch da die wenigsten sich alleine bewarben, warfen insgesamt 16 Länder ihren Hut in den Ring. Dänemark, Finnland, Schweden und Norwegen wollten gar als Quartett eine Skandinavien-EM organisieren. Die UEFA lehnte ab, weil ihre Statuten nur zwei Startplätze für Gastgeber erlaubten. Am 12. Dezember 2004 erhielten die Alpenländer Schweiz und Österreich den Zuschlag. Somit durfte Österreich endlich erstmals an einer EM teilnehmen, sportlich hatte es nie geklappt. Für die Schweizer war es nach 1996 und 2004 schon die dritte Teilnahme. Der Rest quälte sich durch die größte Qualifikation aller Zeiten mit insgesamt 308 Spielen. Immerhin entfielen diesmal die Play-Offs, da sieben Gruppen gebildet wurden (mit bis zu acht Mannschaften) und jeweils die beiden Ersten direkt zur EM kamen.

Fast alle Favoriten kamen durch, aber auf der britischen Insel herrschte Katzenjammer. Ihre Vertreter blieben komplett außen vor, was es zuletzt 1984 gegeben hatte. Besonders in England war der Katzenjammer groß. Dank der russischen Niederlage in Israel (1:2) hatten die Engländer vor dem letzten Spiel doch noch eine realistische Chance bekommen. Sie mussten nur die bereits qualifizierten Kroaten in Wembley schlagen. Doch die wehrten sich als ginge es bereits um den EM-Pokal und gewannen 3:2. Kroatien feierte den Dortmund-Profi Mladen Petric, der den Siegtreffer erzielte, England schmähte seinen Trainer Steve McClaren als "den Trottel mit dem Regenschirm". Russland quälte sich derweil in Andorra zu einem 1:0 und überholte das Fußball-Mutterland. Wie fast immer fand die EM 2008 mit russischer Beteiligung statt. Auch Nachbar Polen schaffte es vor Portugal, das sich mit einem 0:0 zuhause gegen Finnland ins Ziel rettete. In Gruppe B triumphierte wieder mal die italienische Cleverness. Panucci traf für den Weltmeister in der Nachspielzeit zum 2:1 in Glasgow und warf damit Konkurrent Schottland raus.

Franzosensetzen sich verdient durch

Auch Vize-Weltmeister Frankreich setzte sich in dieser engen Gruppe durch, bei nur fünf Gegentoren in zwölf Spielen gewiss verdient. Dieses Duo wurde weit eher unter den Teilnehmern erwartet als der Titelverteidiger, aber die griechische Fußball-Sage ging weiter. Sagenhaft war jedenfalls das Abschneiden von Otto Rehhagels Europameistern: 31 Punkte holte kein anderer Qualifikant. Rehhagel bekam trotzdem heftig Gegenwind für sein Vertrauen in die in die Jahre gekommenen Europameister. "Wir haben einen Trainer, der ziemlich viel Geld verdient, um eine Rentnertruppe auf den Platz zu schicken", schimpfte sogar der griechische Arbeitsminister. Hinterher feierten sie ihren "Rehakles" doch wieder alle, denn was zählte war eben das, was auf dem Platz geschah.

Im Windschatten der Griechen: Türkei

Im Windschatten der Griechen segelten die Türken, die sich im letzten Heimspiel gegen Bosnien-Herzegowina (1:0) qualifizierten. Apropos Heimspiel: wegen der Ausschreitungen nach dem WM-Qualifikationsspiel gegen die Schweiz Ende 2005 mussten die Türken drei Geisterspiele austragen. Alle fanden in Frankfurt statt, vor rund 70 Augenzeugen (Journalisten und Offizielle). Die Türken bewiesen Humor und spannten Transparente über die leeren Blöcke, eines mit der Aufschrift: "70 Millionen hätten hier sowieso nicht rein gepasst." Immerhin: Sie blieben ungeschlagen in ihren Geisterspielen (sieben Punkte) und fuhren zur EM. Ausschlaggebende war jedoch der 4:1-Sieg bei Europameister Griechenland. Norwegen und die alte Fußball-Macht Ungarn, die sogar Malta (2:4) unterlag, blieben auf der Strecke. Der kommende Europameister Spanien verlor zwar in Nordirland und Schweden, qualifizierte sich aber vorzeitig. Schweden bekam den zweiten Platz, auch dank einer Entscheidung am Grünen Tisch. Das Spiel bei den Dänen (3:3) wurde 3:0 gewertet, weil ein Dänen-Fan den deutschen Schiedsrichter Herbert Fandel in vorletzter Minute tätlich attackierte, woraufhin es abgebrochen wurde. Nordirland wurde nur Dritter, meldete aber einen Rekord: Stürmer David Healy schoss 13 Qualifikationstore und löste den Kroate Davor Suker ab. In Gruppe G kam es zum Dreikampf zwischen Niederlande, Rumänien und Bulgarien, das letztlich auf der Strecke blieb. Die von Europameister Marco van Basten trainierten Holländer bekleckerten sich im entscheidenden Spiel aber nicht mit Ruhm: gegen Fußballzwerg Luxemburg reichte es nur zu einem 1:0. Ihr letztes Spiel in Weißrussland, vom Deutschen Bernd Stange trainiert, schenkten sie 1:2 ab.

Auch Deutschland ließ sich nach souverän erfüllter Pflicht etwas hängen. Bereits vor den drei letzten Heimspielen hatte die Löw-Elf ihr Ticket, leider gewann sie nur noch gegen Zypern (4:0). Den Tschechen erlaubte sie in München ein 3:0, was ihr den Gruppensieg kostete und auch gegen Wales sprang in Frankfurt nur ein 0:0 heraus. "Tristes Ende 2007 – 2008 wird es heiß", titelte der Kicker. Dennoch war Fußball-Deutschland mit der Weiterentwicklung der Mannschaft nach dem dritten Platz beim WM-Sommermärchen zufrieden. Auf die Frage im Kicker, ob Deutschland Europameister werde, antworteten 59,85 % von rund 54.000 Lesern mit Ja. Die Liga bot Löw immer wieder neue Alternativen, in der Qualifikation kamen in zwölf Partien 33 Spieler zum Einsatz. Junge hungrige Spieler wie Marcell Jansen, Kevin Kuranyi, der in Prag beide Tore zum 2:1-Sieg und insgesamt die meisten deutschen Tore schoss, Mario Gomez oder Simon Rolfes waren zum Kreis der meist ebenfalls noch jungen WM-Teilnehmer um Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Christoph Metzelder oder Per Mertesacker gestoßen. Das Tor hütete Jens Lehmann, der nach dem Rücktritt von Oliver Kahn konkurrenzlos die Nummer eins war. Bezeichnend dass Löw die Nummer zwei während der Qualifikation, Timo Hildebrand, noch kurz vor der EM aussortierte.

Druckvoll, mutig, offensiv

Die Spielphilosophie blieb die Gleiche wie unter Jürgen Klinsmann: Druckvoll, mutig, offensiv. Beim 13:0 gegen das freilich drittklassige San Marino verbuchte die Elf den höchsten Auswärtssieg ihrer Geschichte.

Das Turnier:

Acht Stadien warteten auf die 16 Teilnehmer, die ab 7. Juni um den Henry-Delaunay-Pokal spielten. Die Schweizer bauten sämtliche vier Stadien eigens für die EM neu und investierten über 600 Millionen Euro, die Österreicher errichteten nur in Klagenfurt ein neues Stadion, die anderen wurden aufgehübscht. Für 163 Millionen Euro präsentierten sich auch die vier Stadien der Österreicher in EM-Form. Von ihrer Mannschaft konnte man dies nicht sagen. Im Land gründete sich eine Initiative, die die Elf zum Turnierverzicht bewegen sollte, da sie in der Vorbereitung nicht mal gegen Venezuela und Liechtenstein gewann. Trainer Josef Hickersberger gestand realistisch: "Wir sind der größte Außenseiter, den es bei diesem Turnier gibt." Auch die von Legende Köbi Kuhn gecoachten Schweizer wurden nicht sonderlich hoch gewettet und so war die größte Sorge der UEFA, dass das Turnier ab dem Viertelfinale ohne Gastgeber weiter laufen und die Atmosphäre leiden würde.

Schon am ersten Tag des Turniers fanden sie neue Nahrung. Nach einer nur 13-minütigen Eröffnungsfeier ohne Reden, trafen in Basel die Schweiz und Tschechien aufeinander – oder das Pech auf das Glück.

Das Glück schlug sich auf die Seite von Tschechien, das hinterher selbst nicht so genau wusste, wieso es 1:0 gewonnen hatte. Die wackeren Schweizer waren überlegen und hielten Weltklassetorwart Petr Cech auf Trab, aber der Ball wollte nicht ins Tor. Nach 42 Minuten erlebte die EM ihre erste große Tragödie. Der Dortmunder Alexander Frei, Kapitän und Torjäger der Schweizer, verletzte sich nach einem Zweikampf am Knie, musste unter Tränen ausgewechselt werden und erfuhr noch während das Spiel lief die Diagnose: Innenbandabriss, sechs Wochen Pause, EM-Aus. Kurz vor Schluss war er wieder im Stadion, mit Krücken. Da stand es bereits 0:1 durch ein Tor des Ex-Gladbachers Vaclav Sverkos und weil Vonlanthen nur die Latte traf blieb es dabei. Es blieb den Schweizern nur, sich an ihrer eigenen Leistung hochzuziehen. Trainer Köbi Kuhn gratulierte den Spielern dazu und Tranquillo Barnetta sagte: "Wir haben ein europäisches Top-Team teilweise an die Wand gespielt. Dass es nicht gereicht hat, ist umso bitterer."

Pepe und Meireles treffen gegen die Türkei

Am Abend übernahm Portugal die Führung in Gruppe A, Pepe und Meireles schossen nach der Pause den 2:0-Sieg über die Türken heraus. Somit drohte am 2. Spieltag bereits einem Team das Aus, denn die Verlierer des Auftakts trafen aufeinander. Die Wasserschlacht von Basel zwischen den Schweizern und den Türken am 11. Juni ging in die EM-Historie ein. Vorher waren die Bedenken groß, das Spiel könne ausarten wie das Skandalspiel 2005 um die WM-Teilnahme, von "Fußballkrieg" war in den Zeitungen beider Länder zu lesen. Doch die Partie blieb im Rahmen, ungewöhnlich wurde sie angesichts der Platzverhältnisse und des dramatischen Endes dennoch. Vor dem 1:0 der Schweizer durch den Mann mit türkischen Wurzeln, Hakan Yakin, war der Ball in einer Pfütze vor dem Türken-Tor liegen geblieben. Nach einer Stunde glichen die Türken durch Sentürk aus. Beide drängten nun auf den Sieg und als die Nachspielzeit bereits lief, entschied sich das Pech wieder für die Schweizer. Arda zog aus 16 Metern ab, ein Schweizer fälschte den Ball unhaltbar für Diego Benaglio ab – 1:2 (92.). Aus und vorbei für den ersten Gastgeber nach nur zwei Spielen. Das hatte es noch nie gegeben. "In der Kabine war kein Lärm, alle waren still. Wir sind traurig und am Boden", plauderte Ludovic Magnin aus. Und die Welt erfuhr, dass auch Schweizer randalieren können: es gab 85 Festnahmen in der großen Frust-Nacht der Eidgenossen. "Wir sind Europameister der Pechvögel", klagte das Boulevardblatt "Blick".

Terim: "Die EM hat für uns erst jetzt richtig begonnen"

Türkeis Trainer Fatih Terim war dagegen erleichtert: "Die EM hat für uns erst jetzt richtig begonnen." In Genf löste derweil Portugal im Duell der Sieger bereits das Ticket fürs Viertelfinale: Unterstützt von 35.000 Landsleuten trafen Deco, Weltstar Cristiano Ronaldo und Queresma beim 3:1 gegen die Tschechen. Portugals Trainer Felipe Scolari hielt den Moment für gekommen, sein Geheimnis zu enthüllen: er erzählte den noch euphorisierten Siegern, dass er nach dem Turnier zu Chelsea London wechselt. Nach dem Motto: man soll gehen, wenn es am schönsten ist. Auf der Tribüne schwärmte Legende Eusebio, 1966 WM-Torschützenkönig: "Portugal kann weiter vom EM-Sieg träumen." Die erste Niederlage folgte zwar auf dem Fuße, doch Scolari ließ gegen die Schweiz die Reservisten ran. So kamen die Gastgeber noch zu einem versöhnlichen Abschluss und die Ära des 64-jährigen Köbi Kuhn endete mit einem 2:0. "Der Sieg gehört zu den schönsten Momenten in meiner Karriere, obwohl er nichts mehr nützt", sagte der mit Beifall verabschiedete Trainer.

Auch in Genf hieß es Abschied nehmen, nur dass es vorher nicht feststand. Tschechien und die Türkei spielten den zweiten Viertelfinalisten aus. Beide waren nach Punkten und Toren gleichauf, ein Remis half keinem. Theoretisch hätte es hier erstmals nach einem Gruppenspiel zum Elfmeterschießen kommen können. Danach sah es lange nicht aus, Jan Koller und Jaroslav Plasil hatten nach 62 Minuten eine tschechische Führung von 2:0 hergestellt. Sie hielt bis zur 75. Minute, dann überschlugen sich die Ereignisse. Nach Ardas 1:2 stürmten die Türken wie entfesselt und wieder schossen sie im Regen die Tore, die sie brauchten. Petr Cech leistete sich einen kapitalen Bock und ließ in der 87. Minute den Ball fallen und Nihat Kahveci staubte ab. Nun war das Elfmeterschießen zum Greifen nah. Das wollte keiner. Hamit Altintop von Bayern München bediente Nihat in letzter Minute und der zog einfach mal aus 16 Metern ab – 3:2 (90.). Die verzweifelten Tschechen warfen alles nach vorn, Türken-Keeper Volkan sah nach einem Schubser gegen Koller Rot. Feldspieler Tuncay hütete noch ein paar Sekunden das Tor der Türken, dann war das Drama vorbei. Und wieder nahm ein grauhaariger Trainer Abschied. Karel Brückner, 68 Jahre und weise, wirkte ratlos in den Katakomben des Stade de Genève: "Ein Spiel musste einfach das letzte sein. Ich muss lernen, neu zu leben." Und die Fußballwelt, dass auch ein Spiel mit türkischer Beteiligung erst nach 90 Minuten zu Ende ist. "Wir haben der Welt gezeigt, was wir können", frohlockte Fatih Terim. Es war bereits die zweite dramatische Wende eines Spiels bei dieser EM, nun rang die Heimatpresse nach Superlativen. "Ein solches Spiel hat es in der Geschichte des Fußballs noch nicht gegeben", schrieb "Fanatik". "Das ist wie ein Heldenepos", fand "Milliyet". Die Türken, so schien es, waren die neuen Griechen. Nun traute man ihnen alles zu.

Der Verlauf in Gruppe B ähnelte dem von Gruppe A. Auch hier musste der Mit-Gastgeber einpacken, immerhin aber verlängerten die Österreicher ihre Hoffnungen bis zum Abpfiff des letzten Spiels. Wie die Schweizer verlor das Team Austria zum Auftakt 0:1 – Kroatien erhielt in Wien schon in der vierten Minute einen Elfmeter, den Luka Modric verwandelte. "Das schlechteste Team das wir je hatten", wie Toni Polster ätzte, wehrte sich gegen seinen Ruf und die Niederlage und hatte noch in der Nachspielzeit eine Riesenchance, die Roman Kienast versiebte. Was Peppi Hickersberger nach dem Spiel sagte, hatte man, nur in anderem Idiom, am Vortag auch von Köbi Kuhn gehört: "Mit der Leidenschaft und dem Einsatz hätten wir einen Punkt verdient gehabt." Am Abend wurde dann Deutschland in Klagenfurt seiner Favoritenrolle gerecht und schlug Polen mit 2:0. Auch das erinnerte an Gruppe A (Portugal-Türkei).

Die in der Schweiz (Ascona) logierenden Deutschen erhielten von Ex-Bundestrainer Jürgen Klinsmann noch eine aufmunternde SMS – jeder Einzelne – Joachim Löw zusätzlich per E-Mail einen EM-Rap der Gruppe Kunstrasen. Klinsmann, immer noch Fan seiner alten Mannschaft. Als das Team im Flieger nach Klagenfurt abhob, wusste Löw noch nicht wer spielen sollte. Er suchte nach der rechten Rolle für Lukas Podolski, der bei Bayern München erneut ein schweres Jahr erlebt hatte. Sturm, Mittelfeld oder Bank – das war die Frage. "Alles hängt an Poldi", titelte Bild und bewies prophetische Gaben. Denn ausgerechnet der Mann mit den polnischen Wurzeln sollte zum Matchwinner werden. Während für ihn sein Spezi Bastian Schweinsteiger auf die Bank musste, schoss Podolski Deutschland zum Sieg (20., 72.). Einen euphorischen Jubel verkniff er sich "aus Respekt" vor seinem Geburtsland. Hinterher sah man ihn im Polen-Trikot auf der Tribüne seine Verwandten begrüßen. Podolski gestand: "Es war ein zwiespältiges Gefühl. Ich bin in Polen geboren, das Land liegt mir am Herzen." Deutschland auch, obwohl 140 Hooligans dem Land keine Ehre einlegten. Sie wurden in Klagenfurt noch am Spieltag verhaftet und konnten den ersten EM-Sieg seit dem Finale 1996 nicht miterleben. Die Spieler schon und so grassierte wie so oft nach einem guten Start die Euphorie in Deutschland. Franz Beckenbauer schürte sie in seiner Bild-Kolumne: "Das war das beste Spiel des Turniers bisher. Die Mannschaft von Jogi Löw hat gleich allen gezeigt, dass wir zu Recht Mitfavorit auf den Titel sind. Ich bin begeistert."

Vier Tage später folgte der vielzitierte Dämpfer zur rechten Zeit. Nun gab es Klagelieder in Klagenfurt, wie bei der WM 1998 (0:3) unterlag die DFB-Elf Kroatien – nun mit 1:2. Und wie damals in Lyon gab es einen Platzverweis für Deutschland, nur war er diesmal nicht entscheidend: Joker Bastian Schweinsteiger eiferte Christian Wörns nach, flog aber erst in der Nachspielzeit wegen eines Revanchefouls runter. Symbolisches Ende eines verkorksten Abends, an dem die deutsche EM-Zuversicht verloren ging. Mancher fühlte sich an schlimme Tage vergangener EM-Turniere erinnert. "Plötzlich rumpelt es in den Alpen", titelte die "Welt" und attestierte der Löw-Elf "uninspiriert und altbacken" zu spielen. Kroatiens Sieg war jedenfalls durchaus verdient und bahnte sich früh an. Darijo Srna schoss nach Flanke des späteren Münchners Danijel Pranjic das 0:1 (24.) und zeigte dem jungen Marcell Jansen seine Grenzen auf. Löw wechselte den Neu-Münchner aus und brachte WM-Joker David Odonkor, doch nichts wurde besser. HSV-Profi Ivica Olic sorgte für die Vorentscheidung und staubte nach einem Pfostentreffer ab zum 0:2 (62.). Nur auf Podolski war Verlass an diesem schwarzen Tag, doch sein drittes Turnier-Tor (79.) kam zu spät. Kapitän Michael Ballack ging mit unter, behielt aber im Interview die Übersicht: "Vielleicht haben wir schon gedacht, wir haben was erreicht. Wir haben in allen Bereichen ein paar Prozent weniger gebracht."

In der Presse und im deutschen Lager wurde der Umgangston rauer, nun hatte man das befürchtete Endspiel gegen Gastgeber Österreich um den Einzug ins Viertelfinale. Darin retteten sich die Österreicher in der dritten Minute der Nachspielzeit, als ihnen der britische Schiedsrichter Howard Webb gegen Polen beim Stand von 0:1 einen zweifelhaften Elfmeter gab. Der Ex-Duisburger Ivica Vastic ließ sich von den Protesten nicht irritieren und glich aus. Österreichs erstes EM-Tor aller Zeiten machte Vastic zum ältesten Torschützen bei einer Endrunde. Sein Trainer Josef Hickersberger philosophierte: "Im Fußball wie im richtigen Leben gibt es nicht immer Gerechtigkeit. Wenn der Schiedsrichter entscheidet, ist es als wenn Gott entscheidet."

Am 16. Juni 2008 sollte nun die Entscheidung fallen, wer hinter Kroatien ins Viertelfinale einzieht. Alle Teams hatten noch eine theoretische Chance, auch die Polen. Sie vergaben sie in Klagenfurt, wo Kroatien auch mit neun Reservisten 1:0 gewann – das Tor glückte dem Bremer Ivan Klasnic, der zwei Nieren-Transplantationen hinter sich hatte und von seinen Gefühlen überwältigt wurde nach seinem unerhofften Comeback auf der großen Bühne. Bei Klasnic flossen Tränen im Moment des Tores, eine kroatische Zeitung schrieb gerührt: "Unser Herz quoll über vor Freude für Klasnic." Im Parellelspiel ging es im ausverkauften Prater-Stadion um die Zukunft des deutschen Fußballs. Und um die Zukunft der sportlichen Führung, wie in allen Blättern zu lesen stand. "Jogi – plötzlich geht’s auch um seinen Job", behauptete nicht nur die Bild-Zeitung. Löw versicherte kämpferisch: "Wir werden nicht ausscheiden."

Sein Kapitän gab ihm Recht. In einem lange ausgeglichenen Spiel sorgte Michael Ballack mit einem herrlichen Freistoß aus 25 Metern (49.) für die Entscheidung. Man maß eine Geschwindigkeit von 121 Stundenkilometern. Unmittelbar davor erhielt Kanzlerin Angela Merkel eine SMS, wie ARD-Bilder zeigten. Kommentator Tom Bartels witzelte noch: "Vielleicht steht da ja drauf: 1:0 durch Michael Ballack – es wäre so schön." Und wie schön es wurde. Österreichs Torwart Jürgen Macho blieb nur ein Lob: "Das Tor war sensationell. Kein Sonntagsschuss, ein Montagsschuss." Joachim Löw saß da schon auf der Ehrentribüne, gemeinsam mit Kollege Hickersberger hatte ihn der spanische Schiedsrichter Gonzalez wegen angeblicher Beleidigung des vierten Offiziellen des Innenraumes verwiesen. Löw wehrte sich: "Ich habe ihn nicht beleidigt. Ich habe ihm nur gesagt, dass ich und mein Kollege in der Coaching-Zone in Ruhe unseren Job machen wollen." Vielleicht reichten die Englisch-Kenntnisse des Slowaken nicht aus, das zu verstehen. Löw landete jedenfalls auf der Tribüne neben Sportdirektor Oliver Bierhoff und Rot-Sünder Schweinsteiger. Auf dem Weg zu seinem Platz durfte er Bundeskanzlerin Angela Merkel, Kaiser Franz Beckenbauer und Ehrenspielführer Uwe Seeler noch schnell Bericht erstatten. Assistent Hans-Dieter Flick coachte die Elf weiter, dass es nicht sein einziger Einsatz bleiben würde, ahnte da noch keiner. Aber die UEFA sperrte Löw für ein Spiel. Vorläufig waren alle im DFB-Lager froh, dass es überhaupt noch ein Spiel gab. "Wien wäre die Steigerung gewesen von Cordoba. Sie ist zum Glück ausgeblieben", atmete Tom Bartels auf – und mit ihm ein ganzes Land.

In Gruppe C fanden sich gleich drei Favoriten und ein Geheimfavorit zusammen. Ein Großer musste also fallen und es erwischte den WM-Zweiten von 2006, Frankreich. Dagegen marschierten die Holländer mit drei Siegen souverän durch. Weltmeister Italien schaffte trotz eines Fehlstarts noch den zweiten Platz. Rumänien wurde Dritter, landete immerhin noch vor den Franzosen, die nur einen Punkt holten – zum Auftakt eben gegen Rumänien (0:0). Die Experten waren sich einig: wer diese Gruppe ungerupft übersteht, ist Turnierfavorit. Selbst der Dauer-Kritiker Johan Cruyff huldigte der "Elftal": "Ich bin glücklich und stolz auf diese Mannschaft." Sie startete gleich mit einem 3:0 gegen den Weltmeister. Ruud van Nistelrooy, Wesley Sneijder und Giovanni van Bronckhorst schossen den einst so gefürchteten italienischen Abwehrwall sturmreif. Italiens Presse forderte schon den Kopf von Trainer Roberto Donadoni. Tuttosport jammerte: "Gebt uns Lippi zurück!" Doch auch der Weltmeister-Trainer, der erst nach der EM tatsächlich zurückkam, hätte dieser "Squadra azzura" nicht helfen können. Sie war nur noch die Karikatur eines Weltmeisters. "Eine wirklich hässliche Niederlage, sie hat weh getan", sagte Luca Toni von Bayern München. Das Spiel war auch etwas für Regelkundler. Das 1:0 von van Nistelrooy wurde anerkannt, weil ein verletzt hinter der Auslinie liegender Italiener das Abseits aufhob. "Ich kannte diese Regel nicht", gab selbst ARD-Experte Günter Netzer zu. Die UEFA informierte die Medien so: "Auch wenn ein Spieler nicht auf dem Spielfeld ist, ist er im Spiel." Das desolate Italien blieb nur deshalb, im übertragenen Sinne, im Spiel, weil Torwart Gianluigi Buffon gegen Rumänien in der 81. Minute einen Elfmeter von Adrian Mutu hielt und damit einen Punkt (1:1) rettete. Frankreich ging am selben Tag in Bern gegen entfesselte Holländer 1:4 unter. Das Tor von Joker Arjen Robben unmittelbar nachdem Thierry Henry auf 2:1 verkürzt hatte, gab den Ausschlag. Bern erlebte einen Tag in "Oranje", 150.000 Holländer fluteten die Stadt, obwohl nur 30.777 ins Stadion passten. Es war jedoch die Zeit des Public Viewing, das seit der WM in Deutschland modern ist. Und so schauten mehr Holländer in Bern das Spiel auf einer Leinwand als im Stadion – aber sie waren ihren Idolen ganz nah. Frankreich hatte nichts zu feiern, L’Equipe schrieb vor der Neuauflage des WM-Finales gegen Italien: "Jetzt hilft nur noch beten." In Zürich war es nun das Finale ums Überleben in diesem Turnier. Platz eins sicherte sich die Niederlande auch mit der Reserve – die Rivalen von heute, Klaas-Jan Huntelaar und Robin van Persie trafen beim 2:0 gegen Rumänien, das sein Los tapfer ertrug. Eine Sportzeitung schrieb: "Wir sind in der Todesgruppe gestorben. Zu viel hinten, zu wenig vorne."

Auch das Finale um Platz zwei endete 2:0 – für Italien. Die Schlüsselszene ereignete sich in der 24. Minute: Eric Abidal legte Luca Toni im Strafraum. Dafür gab es Rot und einen Elfmeter, den Andrea Pirlo verwandelte. Daniele de Rossi erhöhte mit einem Freistoß auf 2:0 (62.) und Frankreich fuhr wieder einmal ruhmlos nach Hause. Geschockt auch von der schweren Verletzung von Bayern-Star Franck Ribery, der schon nach zehn Minuten einen Unterschenkelbruch erlitt.

Italien sah wieder Licht am Horizont. Trainer Donadoni: "Wir haben nie die Hoffnung verloren, auch nicht in den schwierigsten Momenten." La Repubblica schrieb: "Das war die Auferstehung von den Toten." In Gruppe D spielte der kommende Europameister und er ließ es auch schon erahnen. Spanien gewann alle drei Spiele und schoss nach Holland die meisten Tore (acht). Schon zum Auftakt lief es prächtig: Russland wurde in Innsbruck 4:1 abgefertigt, David Villa schoss sich mit drei Toren in den internationalen Focus und die Fans sangen in den Gassen ein Loblied auf den Stürmer des FC Valencia. "Villa, Villa, maravilla" – wunderbarer Villa. Die EM hatte ihren ersten Shooting-Star. Trainer Luis Aragones, bereits 68 Jahre und in der Qualifikation mehrmals von der Presse zum Rücktritt aufgefordert, freute sich über das 17. Spiel ohne Niederlage. Die Zeitung As schrieb: "Wir können die EM gewinnen. Wir wollen es und wir schaffen es."

Lange Gesichter bei den Russen

Lange Gesichter dagegen bei den vom Niederländer Guus Hiddink trainierten Russen. "Ich bin gespannt, wie Spanien gegen weniger naive Mannschaften spielt!", mäkelte Hiddink. Auch der amtierende Europameister stellte sich zum Start ungeschickt an. Griechenland verlor gegen Schweden 0:2 und sah buchstäblich alt aus. Das im Schnitt 29,8 Jahre Team suchte in allen Spielen sein Heil in der Defensive und lag falsch. Sobald ein Gegentor fiel war die Rehhagel-Taktik hinfällig, doch eine andere hatten beziehungsweise konnten sie nicht. Erst im letzten Spiel (1:2 gegen Spanien) schossen sie ein Tor. Da war es schon egal. "Wenn man immer nach hinten spielt, kann man eben kein Spiel gewinnen", sagte der Frankfurter Bundesliga-Kicker Ioannis Amanatidis und beklagte den "Angstfußball" des Titelverteidigers. Schweden dagegen fand das Tor, Superstar Zlatan Ibrahimovic als erster. Gegen Spanien reichte sein Tor nicht, denn der wunderbare Villa schlug noch in der Nachspielzeit zu (2:1). Aus spitzem Winkel. Sein Trainer Aragones schwelgte: "Er hat ein fast unmögliches Tor geschossen. Man sieht das von außen und fragt sich: wie hat er das gemacht?" Spanien durfte schon für das Viertelfinale planen, Griechenland dagegen an jenem 14. Juni bereits die Heimreise. Russland reichte ein Tor von Zyryanow zum Sieg. Nie war ein Europameister früher entthront worden. Rehhagel stellte fest: "Meine Mannschaft hat zwar um zwei Klassen besser gespielt als gegen Schweden, aber sie schießt keine Tore." Als der Leverkusener Theofanis Gekas doch mal traf, wurde Abseits erkannt – zu Unrecht. Rehhagel predigte dennoch Gelassenheit auf der Pressekonferenz: "Die Akropolis steht seit 3000 Jahren und wenn wir in 200 Jahren nicht mehr da sind, dann steht sie auch noch." Seine Art zu sagen, dass Fußball nur ein Spiel ist. Also verloren sie auch das letzte gegen Spaniens B-Elf – mit 1:2 und trotz Halbzeitführung durch ein Kopfballtor von EM-Held Charisteas. Ein letzter Gruß der antiken Helden.

In Innsbruck ging es zwischen Russland und Schweden, dem ein Remis reichte, um alles. Aber die jungen Russen erlebten ihren ersten Glanztag bei dieser EM, die Welt gewöhnte sich an schwierige Namen wie Roman Pawljutschenko und Andrej Arschawin, die die Tore zum 2:0-Sieg lieferten. Es war ein gnädiges Resultat aus schwedischer Sicht, man zählte 26 russische Torschüsse. Schweden dagegen ging fast wehrlos unter, Trainer Lars Lagerbäck durfte am nächsten Tag Rücktrittsaufforderungen kommentieren. "Lagerbäck, tritt ab. Schlechter kann es nicht werden", schrieb "Expressen". Guus Hiddink dagegen war voll des Lobes für seine Eleven: "Sie haben Riesenfortschritte gemacht und modernen Fußball gespielt."

Starke DFB-Elf gegen Portugal

Der deutschen Mannschaft fiel die Aufgabe zu, gemeinsam mit Portugal das Viertelfinale zu eröffnen. Am 19. Juni zeigte sie in Basel eine der allerbesten Leistungen der Ära Löw. Auch wenn Löw offiziell nicht zuständig war. Der erste gesperrte Bundestrainer aller Zeiten verfolgte das Spiel in einer Loge. "Da gab es schöne Getränke, Aspirin und Baldrian", witzelte er hinterher an einem Abend, an dem allen deutschen zum Lachen war. Mit neuer Taktik fand Deutschland zu alter Form zurück. Löw und Flick gingen von der Zwei-Spitzen-Taktik ab und verordneten ein 4-2-3-1-System. Mario Gomez, frustriert nach seinem Faux-Pas gegen Österreich, als er aus einem Meter grandios versagte, wurde geopfert. Miroslav Klose blieb einzige Spitze, obwohl man auch noch auf sein erstes EM-Tor wartete. Der zuvor gesperrte Bastian Schweinsteiger kam erstmals in die Start-Elf, zuvor hatte er der Kanzlerin versprechen müssen "nicht noch mal so eine Dummheit zu machen". Er hielt Wort und machte allerlei Gescheites an diesem wunderbaren Fußball-Abend zu Basel. Das erste Tor erzielte der in jenen Tagen blondierte Münchner selbst (22.), das zweite von Klose (26.) und das dritte von Ballack (61.) bereitete er vor. Portugals Anschlusstreffer von Nuno Gomes (40.) und Helder Postiga (87.) befeuerten zwar wieder die Abwehr-Diskussion, änderten aber nichts am Halbfinal-Einzug. "Schweini gehabt", titelte das Hamburger Abendblatt treffend. Philipp Lahm erklärte die kaum erwartete Leistungssteigerung: "Der Glaube ist alles. Sonst ist so etwas nicht möglich." Portugals Presse suchte Trost in alten Klischees: "Deutschland ist wie eine Maschine, die nicht versagt", schrieb "Publico".

Versagt hatte dagegen Wunderknabe Cristiano Ronaldo, den Arne Friedrich von Hertha BSC regelrecht entnervte. Auch von Deco war wenig zu sehen, auch ein Verdienst des neu ins Team gekommenen Frings-Vertreters Simon Rolfes. So hatte dieser strahlende Erfolg in einem hervorragenden Spiel viele Väter.

Hans-Dieter Flick war bemüht, seinen Anteil herunter zu spielen: "Der einzige Unterschied zu sonst war, dass ich in der Coaching Zone aufstehen durfte." Auf dem Feld hatten die vielen deutschen Fans noch mehr Unterschiede zur Vorrunde gesehen. Nun träumten sie wieder vom Titel. Am nächsten Tag sahen 51.428 Zuschauer in Wien ein entsetzliches Spiel, von dem sie dennoch noch in Jahren sprechen werden. Kroatien und die Türkei hatten sich 118 Minuten lang abgenutzt und über die Zeit gequält. Beide Torhüter mussten nur acht Bälle halten, ehe der Wahnsinn losbrach. In der 119. Minute köpfte Ivan Klasnic das 1:0 für Kroatien. In Golden Goal-Zeiten wäre es das Aus gewesen. Die Verlängerung erhielt noch eine zweiminütige Zugabe und wurde zur Bühne für das dritte Türken-Wunder in Folge. Joker Semih Sentürk fiel der Ball nach einem abgewehrten Freistoß vor die Füße und er beförderte diesen in Pletikosas Kasten – Ausgleich 14 Sekunden vor Schluss. Das war zuviel für die Kroaten, die im Elfmeterschießen wohl noch unter Schock standen: Modric, Rakitic und Petric verschossen. Der Dortmunder, Kroatiens Held von Wembley, war nun der Pechvogel. Als Rüstü seinen Elfmeter parierte, war das Drama vorüber und die Türkei wie schon bei der WM 2002 wieder im Halbfinale. Ein Fußball-Märchen wie aus tausendundeiner Nacht. Wieder sah die Heimatpresse Historisches: "In der Geschichte des Fußballs hat noch keiner so viel Glück gehabt wie wir." Da wollte niemand widersprechen.

Kein Glück: Niederlande gegen Russland

Am nächsten Tag sprach niemand von Glück. Mit Niederlande und Russland trafen zwei spielstarke Teams in Basel aufeinander, aber der Favorit trug Oranje. Trainer Marco van Basten musste an diesem Tag Lehrgeld zahlen. Die Rotation vor dem dritten Spiel hatte den Fluss der Stammelf gebremst, sie fand nach acht Tagen Pause nicht zu ihrem Rhythmus zurück. Ähnlich war es schon Portugal gegen die Deutschen ergangen. Die Russen waren die bessere Mannschaft, vielleicht auch weil Guus Hiddink ihnen alles über seine Landsleute erzählen konnte. Pawljutschenko brachte sie in Führung (56.), Ruud van Nistelrooy rettete Oranje noch in die Verlängerung. Dort hatten die jungen Russen mehr zuzusetzen. Joker Dimitri Torbinski (112.) und Star Andrej Arshawin (116.) trafen zum 3:1-Endstand und verwandelten ganz Holland in ein Jammertal.

Dieser Mannschaft hatte man den ersten Titel seit 1988 zugetraut, doch sie war am falschen Tag am falschen Platz. Van Basten gestand: "Die Russen haben besser gespielt als wir und verdient gewonnen." Er trat zurück und wurde Trainer von Ajax Amsterdam. Der Favorit ist tot, es lebe der Favorit. Die russische Sportzeitung "Sowjetski Sport" feierte "eines der besten Spiele unserer Geschichte." Würde der erste auch der jüngste Europameister werden? Da hatte Spanien noch ein Wort mitzureden. Begeistern konnte die Selecion am 22. Juni in Wien nicht wirklich, gegen ein zerstörerisches Italien schleppte man sich nach torlosen zwei Stunden ins Elfmeterschießen. Dort gewann Iker Casillas das Duell der Elfmetertöter mit Gianluigi Buffon 2:1 und Spanien letztlich 4:2.

"Die EM hat schlecht angefangen und ist noch schlechter zu Ende gegangen", stellte Kapitän Fabio Cannavoro fest. Der Weltmeister war draußen, der Europameister schon länger. Ungekrönte Häupter würden sich auf den Titel freuen können, so viel stand fest. An Spanien glaubten nach diesem Spiel nicht viele. Trainer Luis Aragones gestand: "Italien war schlecht, wir waren es leider auch. Aber wenn Gott will, erreichen wir noch viel mehr."

Zwei Herzen in einer Brust

Das Halbfinale berührte Deutschland wie kaum ein anderes Spiel, denn es führte die DFB-Elf und die Türkei zusammen. Das Land stellt den höchsten Anteil ausländischer Mitbürger in Deutschland und in so mancher Brust schlugen zwei Herzen. Michael Ballack stellte sogar Gemeinsamkeiten fest: "Die Türken haben die deutsche Mentalität." Das bezog er auf ihren Willen nie aufzugeben, den sie dreimal eindrucksvoll bewiesen hatten. Joachim Löw, einst Trainer in der Türkei, kannte keine Verwandten. Er wollte gewinnen und hielt sich an die Faustregel "never change a winning team". Ein schwerer Schlag für den nach seiner Gelb-Sperre wieder einsatzberechtigten Torsten Frings. Zur Halbzeit gab er diese Maxime auf und brachte Frings für Rolfes. Denn die Berg-und-Talfahrt der deutschen, die ihre EM-Teilnahme unter das Motto "Bergtour" gestellt hatten, ging weiter. In der ersten Hälfte spielten sie richtig schwach gegen die Türken, die auf acht Spieler verzichten mussten und doch durch Baral (22.) in Führung gingen. Torwart Jens Lehmann machte dabei eine zumindest unglückliche Figur. Vorher hatte er schon zweimal retten müssen, einmal half die Latte. Wieder musste Bastian Schweinsteiger als Torjäger aushelfen, nach Flanke von Podolski glich er aus (26.).

Den Faden fand die Löw-Elf trotzdem nicht wieder – und auch beim ZDF riss er. Mitten in der zweiten Halbzeit fiel das Bild aus, für geschlagene 6:20 Minuten. Eine Ewigkeit für Fußball-Fans bei solch einem Spiel. Schuld war ein Gewitter im Großraum Wien, das zu Stromausfällen geführt hatte und auch andere Sender betraf. Die UEFA war zwar auf so etwas vorbereitet, doch mussten die als Notstromaggregat vorgesehenen Dieselgeneratoren erst hochgefahren werden. Das dauerte sechs Minuten, während denen Bela Rethy im ZDF der Aufforderung der Sendeleitung nachkam: "Bela, mach mal Radio!" Das ZDF klinkte sich dann beim Schweizer Fernsehen ein und war rechtzeitig wieder auf Sendung, als die dramatische Schlussphase begann. Der Rest von Europa sah die Tore nicht, die nun fielen. Miroslav Klose köpfte das 2:1 (79.), als Rüstü unter einer Lahm-Flanke hindurchsegelte. Aber dass die Türken nie aufgeben, bewiesen sie erneut. Sabri glich aus spitzem Winkel aus (86.), ein ärgerliches Tor. Besonders ärgerte sich Linksverteidiger Philipp Lahm, denn es war über seine Seite gefallen. So schaltete er sich in der Minute, in der bei der EM eigentlich immer die Türken trafen, in den Angriff ein. Nach schönem Pass von Thomas Hitzlsperger stand er plötzlich vor Rüstü und schlenzte den Ball ins kurze Eck – 3:2 (90.). Der Sieg nach einem dramatischen, aber wahrlich nicht guten Spiel. "Das war kein Superspiel, aber Hauptsache wir stehen im Finale", sagte Podolski und tauchte in den Fan-Block hinter dem Tor. "Das war kein großer Fußball, das beste bam Spiel war Philipps Tor", sagte Kapitän Ballack. Aber der Mythos der Turniermannschaft war der eigentliche Gewinner. Er wurde 2008 wieder belebt.

"Und am Ende gewinnt immer Deutschland", titelte die Berliner Morgenpost in Anlehnung an den englischen Fußball-Philosophen Gary Lineker. Nun also spielten sie wieder um den Pokal, den sie jeden Tag schon im Hotel "Il Giardino" sahen. Oliver Bierhoff hatte eine Kopie besorgt und zur Motivation aufgestellt, damit alle ihr Ziel täglich vor Augen haben sollten.

Als Gegner bewarben sich am 26. Juni in Wien Spanien und Russland. Niemand erwartete eine einseitige Partie, aber nach 90 Minuten stand ein 3:0 auf der Anzeigetafel – für Spanien. Alle Tore fielen erst nach der Pause und sie fielen für die Besseren. Vor der Pause war das Bemerkenswerteste der Ausfall von David Villa, dem besten Torjäger dieser EM. Xavi (50.), Villa-Vertreter Daniel Güiza (73.) und David Silva (82.) beendeten den russischen Traum. "Wir wollen nicht traurig sein, wir haben Bronze. Die Mannschaft hat ihren Fans viel Freude gemacht", richtete das Blatt "Sport Moskau" milde. Spanien aber war nach dieser Vorstellung plötzlich der große Favorit. Auch die Bild-Zeitung bekam es mit der Angst zu tun: "Traum.Tore, olé! Das wird hart für Merte und Metze".

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Torres beendet deutschen EM-Traum

Franz Beckenbauer schrieb in seiner Kolumne: "Ich hoffe auf ein attraktives Finale mit vielen Toren. Ich erwarte aber, dass es ein Geduldsspiel wird." Und so war es. Die Skeptiker sollten recht behalten, Deutschland konnte am 29. Juni in Wien nicht mehr die Leistung abrufen, die nötig war gegen diese Spanier. Wohl selten hat sich die Nation so sehr vergeblich nach Torchancen gesehnt wie an diesem Sonntagabend, als die Spanier ihr bis heute berühmtes Kombinationsspiel (Kurzpässe in Perfektion) aufführten. Außer einem Schuss von Michael Ballack (59.), der das Außennetz streifte, wurde es eigentlich nie gefährlich für Iker Casillas. Was ab dem Moment fatal war, in dem Fernando Torres Spanien in Führung schoss. Er profitierte von einem Missverständnis zwischen Jens Lehmann und Philipp Lahm und schlenzte den Ball ins lange Eck (33.). "Das Tor war die Vorentscheidung", sagte Hitzlsperger. Trotz noch fast einer Stunde Spielzeit.

Später verhinderte Lehmann mehrmals eine höhere Niederlage, einmal rettete auch der Pfosten. Löw wechselte mit Kevin Kuranyi und Mario Gomez noch zwei Stürmer ein, aber es passierte nichts mehr. Das sei ihm "Mitte der zweiten Halbzeit" schon klar geworden. Der ernüchternde Verlauf des Finales, das um 22.36 Uhr abgepfiffen wurde, trübte die Stimmung der Deutschen kurzfristig. Immerhin nicht den Blick. Lahm gab zu: "Die Spanier haben verdient gewonnen." Angela Merkel sagte Ballack bei der Siegerehrung "dass wir wohl noch ein wenig warten müssen, bis wir ganz doll feiern können." Nun, am nächsten Tag stieg in Berlin schon eine tolle Fete. Die Vize-Europameister ließen sich am Brandenburger Tor von rund 100.000 Anhängern feiern. Sie sahen es wie Joachim Löw: "Ich denke, dass wir mit dem zweiten Platz auch viel erreicht haben, wir können stolz sein, dass wir im Finale waren."

1,143 Millionen Zuschauer

Ein Fest war auch diese EM, die erneut ein Geschäft war. 1,143 Millionen Zuschauer (3. Platz in der Historie) sahen 77 Tore und überwiegend schönen Fußball. Die UEFA freute sich über einen Rekordgewinn von 700 Millionen Euro (Umsatz 1,3 Milliarden). Auch die EM schreibt längst ihre Erfolgsgeschichte. Ab heute von Neuem.