50 Jahre Wembley-Tor: Drin oder nicht drin?

Als Hans Tilkowski Anfang August 1966 von der Fußball-WM in England nach Hause kam, wartete nicht nur seine Frau auf ihn. In seinem Häuschen in Herne, entnehmen wir seinen Memoiren, "stehe ich vor einem Berg von über 30.000 Umschlägen." Hätte es damals schon Facebook gegeben, der Torwart der Nation hätte wohl millionenfachen Zuspruch bekommen. Denn das vor allem tropfte aus den Zeilen mitfühlender Landsleute. Sie alle hatten irgendwie verloren, sie alle fühlten sich betrogen an diesem 30. Juli vor 50 Jahren – aber ihn, den Torwart, der ein Tor hinnehmen musste, das ja wohl keins war, den traf es am schlimmsten.

Hans Tilkowski ist heute 81 und noch immer vergeht kein Tag, an dem er nicht über den Schicksalsmoment seines Lebens sprechen muss – und das wird auch so bleiben. Morgen (Sonntag, 31. Juli) ist er gemeinsam mit Uwe Seeler, Willi Schulz und Siggi Held, auch sie damals am Ball, als das Wembley-Tor fiel, Ehrengast in Dortmund, wo das Deutsche Fußball-Museum seinen Sitz hat. DFB-Präsident Reinhard Grindel kommt auch zur Eröffnung der Sonderausstellung "50 Jahre Wembley – der Mythos in Momentaufnahmen", und wenn sie in 50 Jahren nicht gestorben sein würden, erlebten sie gewiss auch die Ausstellung zur 100. Wiederkehr. Denn ewig fällt das Wembley-Tor.

Was ist geschehen damals im berühmtesten Fußball-Stadion der Welt in Englands Hauptstadt London, dass ein 50 Jahre altes Ereignis noch immer so voller Vitalität ist? Die richtige Antwort wäre wohl: so genau weiß man es nicht. Und genau das hält den Mythos um das dritte Tor der Engländer im WM-Finale gegen die Deutschen am Leben. In einer Zeit, da wir im Internet per Vogelperspektive jedermann in den Garten schauen können und Gänseblümchen auf dem Mars entdecken würden, versprüht ein durch Kameras nicht zu lösendes Rätsel von großer Bedeutung eine magnetische Anziehungskraft.

Kein Aufschluss durch TV-Kameras

50 Jahre alt ist sie nun, die entscheidende Frage: "Drin oder nicht drin?" Der Schuss des Engländers Geoff Hurst in der 101. Minute beim Stand von 2:2 wurde von Tilkowski an die Latte gelenkt, so viel ist sicher, und fiel, den Gesetzen der Schwerkraft folgend, nach unten. Doch welchen Weg nahm der Ball? Die Fernsehkamera konnte damals keinen Aufschluss geben, Tilkowskis drahtiger Körper versperrte die Sicht. Bezeichnend der Kommentar von ARD-Reporter Rudi Michel:"„Nicht im Tor! Kein Tor. Oder doch?" Fotos belegen unzweideutig, dass der Ball auf der Linie landete, mancher sah die Kreide spritzen, und keineswegs im vollen Umfang – wie nötig – hinter ihr.

Wenn der Ball im Tor hätte gewesen sein können, dann nur durch einen seltsamen Effet in der Luft oder im Netz unter der Latte. Letzteres sah exklusiv Bundespräsident Heinrich Lübke. Bei der Verleihung des Silbernen Lorbeerblatts für den Vize-Weltmeister sagte er das zu Bundestrainer Helmut Schön, woraufhin Kapitän Uwe Seeler freundlichst erwiderte: "Da haben Sie sich aber verguckt, Herr Präsident!"

Wäre der sportliche Kriminalfall vor Gericht gelandet, hätte man nur auf Freispruch für den Angeklagten (Deutschland) plädieren können, es wäre ein reiner Indizien-Prozess geworden. Einen Beweis für das Tor hat es nie gegeben. Aber man hätte nicht Richter gewesen sein wollen bei den Zeugenaussagen. Wembley war auch ein Lehrstück dafür, wieso es auf der Welt so viele unlösbare Konflikte zwischen Nationen gibt.



Als Hans Tilkowski Anfang August 1966 von der Fußball-WM in England nach Hause kam, wartete nicht nur seine Frau auf ihn. In seinem Häuschen in Herne, entnehmen wir seinen Memoiren, "stehe ich vor einem Berg von über 30.000 Umschlägen." Hätte es damals schon Facebook gegeben, der Torwart der Nation hätte wohl millionenfachen Zuspruch bekommen. Denn das vor allem tropfte aus den Zeilen mitfühlender Landsleute. Sie alle hatten irgendwie verloren, sie alle fühlten sich betrogen an diesem 30. Juli vor 50 Jahren – aber ihn, den Torwart, der ein Tor hinnehmen musste, das ja wohl keins war, den traf es am schlimmsten.

Hans Tilkowski ist heute 81 und noch immer vergeht kein Tag, an dem er nicht über den Schicksalsmoment seines Lebens sprechen muss – und das wird auch so bleiben. Morgen (Sonntag, 31. Juli) ist er gemeinsam mit Uwe Seeler, Willi Schulz und Siggi Held, auch sie damals am Ball, als das Wembley-Tor fiel, Ehrengast in Dortmund, wo das Deutsche Fußball-Museum seinen Sitz hat. DFB-Präsident Reinhard Grindel kommt auch zur Eröffnung der Sonderausstellung "50 Jahre Wembley – der Mythos in Momentaufnahmen", und wenn sie in 50 Jahren nicht gestorben sein würden, erlebten sie gewiss auch die Ausstellung zur 100. Wiederkehr. Denn ewig fällt das Wembley-Tor.

Was ist geschehen damals im berühmtesten Fußball-Stadion der Welt in Englands Hauptstadt London, dass ein 50 Jahre altes Ereignis noch immer so voller Vitalität ist? Die richtige Antwort wäre wohl: so genau weiß man es nicht. Und genau das hält den Mythos um das dritte Tor der Engländer im WM-Finale gegen die Deutschen am Leben. In einer Zeit, da wir im Internet per Vogelperspektive jedermann in den Garten schauen können und Gänseblümchen auf dem Mars entdecken würden, versprüht ein durch Kameras nicht zu lösendes Rätsel von großer Bedeutung eine magnetische Anziehungskraft.

Kein Aufschluss durch TV-Kameras

50 Jahre alt ist sie nun, die entscheidende Frage: "Drin oder nicht drin?" Der Schuss des Engländers Geoff Hurst in der 101. Minute beim Stand von 2:2 wurde von Tilkowski an die Latte gelenkt, so viel ist sicher, und fiel, den Gesetzen der Schwerkraft folgend, nach unten. Doch welchen Weg nahm der Ball? Die Fernsehkamera konnte damals keinen Aufschluss geben, Tilkowskis drahtiger Körper versperrte die Sicht. Bezeichnend der Kommentar von ARD-Reporter Rudi Michel:"„Nicht im Tor! Kein Tor. Oder doch?" Fotos belegen unzweideutig, dass der Ball auf der Linie landete, mancher sah die Kreide spritzen, und keineswegs im vollen Umfang – wie nötig – hinter ihr.

Wenn der Ball im Tor hätte gewesen sein können, dann nur durch einen seltsamen Effet in der Luft oder im Netz unter der Latte. Letzteres sah exklusiv Bundespräsident Heinrich Lübke. Bei der Verleihung des Silbernen Lorbeerblatts für den Vize-Weltmeister sagte er das zu Bundestrainer Helmut Schön, woraufhin Kapitän Uwe Seeler freundlichst erwiderte: "Da haben Sie sich aber verguckt, Herr Präsident!"

Wäre der sportliche Kriminalfall vor Gericht gelandet, hätte man nur auf Freispruch für den Angeklagten (Deutschland) plädieren können, es wäre ein reiner Indizien-Prozess geworden. Einen Beweis für das Tor hat es nie gegeben. Aber man hätte nicht Richter gewesen sein wollen bei den Zeugenaussagen. Wembley war auch ein Lehrstück dafür, wieso es auf der Welt so viele unlösbare Konflikte zwischen Nationen gibt.

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Hurst: "Er war drin, ich will das glauben"

Jeder sah nur das, was er sehen wollte, der andere durfte gar nicht Recht haben. Bezeichnend das Statement von Schütze Geoff Hurst 1996 im Spiegel-Interview: "Ich werde immer glauben, dass er drin war. Ich will das glauben." Von daher hat das Drama um das dritte Tor eine ewig aktuelle Bedeutung. Für die Engländer um Bobby Charlton ("Ich habe es klar gesehen, der Ball sprang von der Latte hinter die Linie") war es ein Tor und ist es immer noch eins – jedenfalls für die meisten – für die Deutschen ist es nie eines gewesen, vom greisen Lübke einmal abgesehen.

Als die schreibenden Reporter direkt nach dem Spiel die hinter dem Tor stehenden Kollegen befragten, beschworen die deutschen Fotografen Otto Metelmann und Sven Simon, dass der Ball vor der Torlinie aufgeprallt sei. Jimmy James von den "Evening News" ("Von meinem Standpunkt war es ein klares Tor") und Mark Seymor von AP ("Ich sah, was auch der Linienrichter sah, nämlich Tor") dagegen beteuerten die Korrektheit der Entscheidung, die der schlecht postierte Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst seinem sowjetischen Kollegen Tefik Bachramow überlassen hatte. Der Aserbaidschaner ist für viele Deutsche der Schurke in dem Theater-Stück gewesen, in Zeiten des Kalten Krieges glaubten nur wenige an seine Neutralität - zumal die Deutschen im Halbfinale die Russen ausgeschaltet hatten. Ein Täter mit einem Motiv, fertig war die Dolchstoß-Legende. Dass die DDR-Zeitung "Junge Welt" Bachramow Recht gab, machte es nicht besser ("Der Ball sprang hinter die Torlinie und dann durch Effet-Wirkung wieder ins Feld.")

Linienrichter Bachramow unsicher

Gemessen an der Resonanz und der Bedeutung des Ereignisses ging es auf dem Platz ungeheuer gesittet zu. Nur elf Sekunden vergingen zwischen Schuss und dem Ende der Beratung an der Seitenlinie, da zeigte Dienst zur Tormitte. Und das nur aufgrund eines vagen Gefühls seines Assistenten, den nur drei Deutsche kurz bestürmten (Weber, Overath und Held). Denn 1967 gab Bachramow zu, es auch nicht gesehen zu haben, "aber ich sah, wie der Engländer Hunt nach dem Schuss von Hurst seine Arme hochriss. Ich sah auch, dass der deutsche Torwart einen untröstlichen Eindruck machte. Deshalb muss es Tor gewesen sein."

Eine groteske Begründung, die den Zweifel nur nährte. Er wurde über all die Jahrzehnte immer größer, auch bei den Siegern. Und so geschah es im Jahre 1981 nach einer "Na sowas?"-Sendung mit Thomas Gottschalk in Bremerhaven, dass der Engländer Alan Ball nach ein paar Bierchen an der Hotelbar vor Tilkowski auf die Knie fiel und ausrief: "Hans, it was no goal!" Späte Abbitte. Kapitän Bobby Moore wollte die "Schuld" auch nicht mit ins Grab nehmen und gestand 1991, kurz vor seinem Tod: "Es wurde als Tor gegeben, obwohl es nie ein Tor gewesen ist." Und auch Torschütze Hurst ließ sich in seiner Autobiographie 2001 dazu hinreißen, zurückzurudern: "Nachdem ich jahrzehntelang alle Argumente gehört und die Zeitlupenwiederholung hunderte Male im Fernsehen gesehen habe, muss ich einräumen, dass es so aussieht, als habe der Ball nicht die Linie überschritten."

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Simulationen mit unterschiedlichen Ergebnissen

Dabei hatte 1998 eine Software aus Israel namens "Virtual Replay", wie auch immer errechnet, dass der Ball drin gewesen sei. Drei Jahre zuvor hatten ausgerechnet zwei Maschinenbau-Ingenieure der Oxford-Universität per Computer-Simulation ermittelt, es sei kein Tor gewesen. Damit schafften sie es bis in die ARD-Tagesthemen, Moderator Ulrich Wickert bestätigte die Ahnungen einer gequälten Nation: "Endlich wissen wir die Wahrheit, meine Damen und Herren – der Ball war nicht im Tor." 2008 tauchte wie von Geisterhand in der Schweizer TV-Sendung "Euro 2008 – das Städtespiel" schließlich die Aufnahme einer Kamera auf, die auf Höhe der Eckfahne platziert war. Der 35mm-Film zeigt angeblich, dass der Ball nicht drin war, doch wer ihn sieht, ist auch nicht wirklich schlauer.

Hans Tilkowski braucht keine Computer-Simulationen oder Schmalfilm-Aufnahmen. Er lag damals auf dem heiligen Rasen von Wembley, verrenkte sich den Hals und sah aus nächster Nähe, was er jedem Anrufer, der ihm "nur mal eine Frage" stellen will, sofort entgegendonnert: "Nicht drin!" Etwas anderes dürfte auch die einstündige ARD-Dokumentation "Wembley-Tor und Titelträume – eine Zeitreise zur WM" (heute 18.50 Uhr) nicht zu Tage fördern.

Wembley-Tor reloaded in Südafrika

Die Geschichte aber muss weiter erzählt werden, sie hat ja immer wieder neue Facetten und Pointen. Wie im Mai 2000, als sich Tilkowski und Hurst kurz vor dem Abriss des längst erneuerten Stadions auf dem Rasen wiedertrafen und das historische Rasenstück mit dem Spaten ausgruben, um es für einen guten Zweck (Erlös: 20.000 Pfund) zu versteigern. Da ließ Hurst noch keinen Zweifel an der englischen Sichtweise zu und setzte den Spaten demonstrativ hinter der Linie an.

Und dann war da noch der Tag von Bloemfontein, 2010 bei der WM in Südafrika: Wieder spielt England gegen Deutschland, wieder prallt ein Ball von der Latte des deutschen Tores, diesmal aber deutlich hinter die Linie. 40 Zentimeter! Ein klares Tor – nur nicht für den Schiedsrichter. Der Fußball-Gott, so es einen gibt, hat seinen Fehler wieder gut gemacht, dachten die Deutschen und machten ihren Frieden mit dem Wembley-Tor. Bloemfontein löste die Einführung von Tor-Kameras bei großen Turnieren aus und schon deshalb wird das Wembley-Tor einmalig bleiben. Aber auch die Technik von heute kann weder auflösen noch ungeschehen machen, was vor 50 Jahren geschehen ist. Hans Tilkowski hätte wirklich keinen besseren Titel für seine Auto-Biographie finden können. "Und ewig fällt das Wembley-Tor!"