Berti Vogts

  • Nationaltrainer von 1990 bis 1998
  • 102 Länderspiele - 66 Siege, 24 Unentschieden, 12 Niederlagen
  • Europameister 1996

Der die deutschen Tugenden pflegte

"Auf Jahre hinaus wird unsere Nationalmannschaft unschlagbar sein." DFB-Teamchef Franz Beckenbauer schnürte seinem Nachfolger Berti Vogts, der nach dem WM-Sieg 1990 das Amt des Bundestrainers antrat, ein schönes Paket. Und der Nachfolger reagierte nicht gerade begeistert auf den prallen Optimismus seines Vorgängers. Denn im Gegensatz zu Franz Beckenbauer, der die Freiheiten des genialen Liberos auch als erfolgsverwöhnter Teamchef für sich reklamierte und oft mit unbekümmerter Spontaneität aus dem hohlen Bauch heraus parlierte, verkörperte der ehemalige Abwehrspezialist Hans-Hubert Vogts den Typus des außerordentlich gewissenhaften, des ernsthaften, des vergleichsweise spröden Realisten.

Als früherer DFB-Nachwuchstrainer jahrelang an der Basis tätig, in allen Sportschulen der Republik gleichsam zu Hause und bis ins letzte Detail über die Vorzüge und Nachteile der juvenilen Hoffnungsträger informiert, hat er das Defizit an hochkarätigen Talenten früh erkannt und auch moniert wie kaum ein anderer. Dennoch ließ er sich, zusammen mit Rainer Bonhof, seinem Freund und Assistenten, auf ein nicht immer freudvolles Abenteuer ein, dessen Problematik bereits damit begann, dass er nicht irgendeinen Bundestrainer ablöste, sondern ausgerechnet IHN – diesen Franz Beckenbauer eben, von dem sich Berti Vogts auf eine zwar keineswegs unrichtige, aber doch nicht gerade angemessene Art abzugrenzen versuchte: "Ich bin nicht der Franz", beteuerte er, womit er verklausuliert zum Ausdruck bringen wollte: Wo der reinkommt, geht das Licht an, aber wo ich reinkomme, muss erst der Schalter gesucht werden.

Diese Form von Understatement, von oft falscher Bescheidenheit und das Manko an überragenden Könnern für seinen Kandidatenkreis erschwerte die Arbeitsbedingungen des Berti Vogts, der in Fleiß, Akribie, Eifer, Engagement, Fachkompetenz über die meisten Zweifel erhaben war und der sämtliche Mittel und Möglichkeiten modernster Technik zur Informationsbeschaffung nutzte. Doch trotz seiner professionellen Detailversessenheit wurde er als Trainer von den Fans nie so vorbehaltlos ins Herz geschlossen wie in all den Jahren als Bundesliga-Profi bei der Mönchengladbacher Borussia, wo sie ihn als "Terrier" unter den begnadeten "Fohlen" bestaunten. Denn die verlässliche Ernsthaftigkeit, die das Fußball-Volk am Spieler Berti Vogts schätzte, wurde dem zur Pingeligkeit neigenden Bundestrainer Hans-Hubert Vogts als dröge und staubtrocken unter die Nase gerieben. Selbst Ehefrau Monika, seine engste Bezugsperson, gab ihm den Rat, "dieses Oberlehrerhafte abzustellen". Obwohl er sich im Laufe der Jahre von einigen Verspanntheiten löste und lockere Leichtigkeit zu vermitteln suchte, wurde Berti Vogts, als Privatmensch weder unwitzig noch humorlos, nie der medienwirksame Entertainer, der das Showgeschäft Fußball mit augenzwinkernder Leichtigkeit und Lässigkeit als quotenbringende Unterhaltung rüberbringen konnte. Er änderte sich zwar in Nuancen, aber so ganz richtig verändert hat er sich eigentlich nie. Im Prinzip blieb er sich treu – ehrlich, bodenständig, korrekt, prinzipienfest, jedoch nicht biegsam, nicht angepasst, nicht opportunistisch.

"Ich musste immer den harten Weg gehen, darauf aber bin ich stolz"

Am 30. Dezember 1946 im niederrheinischen Büttgen geboren und schon mit zwölf Jahren Vollwaise, ackerte sich der gelernte Werkzeugmacher mit zielbewusster Zähigkeit Meter um Meter auf seiner bemerkenswerten Laufbahn voran: "Es gab Tausende von Fußballern, die viel begabter gewesen sind als ich. Doch ich war ehrgeiziger. Ich musste immer den harten Weg gehen, darauf aber bin ich stolz", betonte Vogts, Hennes Weisweilers sportlicher Ziehsohn, der mit Borussia Mönchengladbach Meisterschaften und Pokale abräumte, der 1974 mit der Nationalmannschaft Weltmeister wurde und der den Fußball auch nach dem Abschiedsspiel auf dem berühmten Bökelberg in den Mittelpunkt seiner Lebensplanung rückte.

Trainer ist er geworden. Anfänglich zuständig für den Nachwuchs des DFB, später für die Elite. Wenngleich als Spieler eher ein sogenannter Grob-Motoriker, dessen Ruf in durchaus rustikaler Härte wurzelte, bevorzugte und bewunderte er als Macher von Mannschaften feingesponnene Technik, Eleganz, naturgegebene Kreativität. Nur hat er die höchst selten dort gefunden, wo er sichtete und suchte – nämlich in seinem eigenen Zuständigkeitsbereich beim DFB. "Wir sind von unserer Mentalität und unserem Temperament her nun mal nicht die Südamerikaner", klagte er immer und im Zuge der Zeit immer öfter: "Wenn der Brasilianer tanzt, stehen wir daneben wie Kühlschränke." Was er alternativ anstrebte, stellte Berti Vogts, ein vor allem auch von den besonderen Eigenarten des britischen Fußballs Faszinierter, unter den Arbeitstitel "deutsche Tugenden". Gemeint waren Kampf, Kondition, nimmermüde Einsatzbereitschaft, Durchsetzungsvermögen, Siegeswille.

Doch es dauerte, bis sein Anspruchsdenken in den gewollten Erfolg mündete. Zwar langte es 1992 bei der Europameisterschaft in Schweden zum zweiten Platz, aber die Häme war ungleich größer als der Applaus. Denn den Titel eroberten die Dänen, die nur deshalb am Endrunden-Turnier teilnehmen durften, weil Jugoslawien aus politischen Gründen ausgeschlossen worden war, und die mitten aus dem Sommerurlaub anreisten und während ihrer knappen Vorbereitung lieber Fastfood gefuttert haben sollen als die klassische Sportlerkost – eine neue Form von Andersens Märchen.

EM-Titel 1996: Vom Geächteten zum Geachteten

Und 1994, bei der Weltmeisterschaft in den USA, stand Berti Vogts dann im Zentrum orkanartiger Empörungen: Während er das Aus im Viertelfinale gegen Bulgarien mit einiger Berechtigung als signifikantes Zeichen für den Qualitätsverfall des deutschen Fußballs einordnete und den Begriff von hyperverwöhnten "Wohlstandsjünglingen" prägte, konzentrierte sich die oberflächliche Ursachenforschung allein auf ihn. Deutschlands größte Boulevardzeitung publizierte ein fiktives Rücktrittsschreiben, womöglich auch deshalb, weil er sie in seinem Gerechtigkeitsdenken nicht als privilegiert behandelte und nie mit exklusiven Nachrichten fütterte, und auch die Fans votierten mehrheitlich gegen ihn. "Es war eine schlimme Zeit, die ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen möchte", sagte er später. Doch er kapitulierte nicht. Zäh, mutig und unverdrossen, wie er immer gewesen ist, widersetzte er sich dem Druck, der zeitweilig unmenschlich war, und er rackerte mit Erfolg: 1996 der Europameisterschafts-Triumph, das "Golden Goal" durch Oliver Bierhoff im Finale von Wembley, und eine Extremsituation für den Bundestrainer, der plötzlich vom Geächteten zum Geachteten wurde. Ehrungen, Anerkennungen, Bundesverdienstkreuz erster Klasse, dickes Lob auch von denen, die vorher so geringschätzig lästerten und seine fachlichen Qualitäten in Frage stellten: "Er hat sich aus dem Schatten seines Vorgängers Franz Beckenbauer gelöst und sich zu einer eigenen, bemerkenswerten Persönlichkeit entwickelt", rühmte die Presse.

Große Genugtuung für ihn, diesen besessenen Eiferer, der rund um die Uhr für den Fußball lebte. Doch leider nur ein Lichtblick von kurzer Dauer. Denn zwei Jahre später wiederholte sich jenes Missgeschick, das eigentlich auf immer und ewig ein Betriebsunfall bleiben sollte: Auch das Viertelfinale der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich wurde zur Sackgasse anspruchsvoller Erwartungen. Die DFB-Auslese, deren Klasse mindestens für den Einzug ins Endspiel von Paris hätte reichen sollen, scheiterte dieses Mal an Kroatien. Die helle Aufregung der Fans erreichte Formen der Hysterie, Repräsentativ-Umfragen richteten sich gegen den Bundestrainer, der auch deshalb so einhellig kritisiert wurde, weil er seinem kroatischen Trainerkollegen nicht öffentlichkeitswirksam gratulierte (dies geschah aber tatsächlich im Kabinengang), gegen angebliche Fehlentscheidungen des Schiedsrichters polemisierte und gar von einem FIFA-Komplott sprach.

Doch Vogts, wiewohl nach Frankreich psychisch heftig angeschlagen, innerlich stark verletzt, stemmte sich noch einmal gegen die Kapitulation, gegen das durch Mehrheitsmeinungen bedingte Zurückweichen. Aber dann reichte sein trotziger Selbstbehauptungswille doch nur noch für zweimal 90 Minuten: Nach den ersten beiden Testspielen, mit denen die bessere Zukunft in Angriff genommen werden sollte, nach einem frustrierenden Sieben-Tage-Trip nach Malta, nach einem Ausbruch heftigster Kritik warf er im September 1998 entnervt die Brocken hin. Ein harter Schnitt, eine tiefe, schmerzhafte Zäsur in seinem Leben, das jahrzehntelang in hohem Maße vom DFB geprägt worden war: "Es kam mir vor, als wäre ich von heute auf morgen aus einer Familie entfernt worden", bedauerte Vogts, der den DFB mit seinem unerwarteten Rücktritt in ziemliche Verlegenheiten brachte. Denn da stand kein Nachfolger parat, der über Nacht hätte übernehmen können.