Gastgeber ohne Punktverlust durch die Gruppe

Das galt auch für die Gruppe des Gastgebers, wo alles nach Plan lief: Die Europäer setzten sich durch. Frankreich gewann alle Spiele, Dänemark konnte sich das 1:2 zum Abschluss leisten. Saudi-Arabien und Südafrika holten nur im direkten Duell (2:2), einem Spiel mit drei Elfmetern, einen Punkt. Da war bei den Arabern schon ein anderer Trainer am Werk, Carlos Alberto Parreira wurde noch während der Vorrunde gefeuert, als nach dem 0:4 gegen Frankreich das Aus feststand.

Auch Südafrika machte unerfreuliche Schlagzeilen: Nach einer Zechtour wurden zwei Spieler noch in der Vorrunde heimgeschickt, mehr hätten es verdient gehabt, wenn man Trainer Philippe Troussier reden hörte:„Ich bin nicht engagiert worden, um ein Ferienlager zu leiten. Fünf Spieler sind richtig bei der Sache, die anderen sind Touristen.“

Auch Südafrika lieferte keinen Beweis dafür ab, dass die Aufstockung auf fünf Mannschaften aus Afrika zwingend notwendig gewesen war. Die Ausnahme von der Regel bildete Nigeria, das als einzige Mannschaft dieses Quintetts die Vorrunde überstand. In der „Todesgruppe“ D mit Paraguay, Bulgarien und Spanien wurden die Westafrikaner sogar Erster, gewannen sie doch sensationell gegen Spanien (3:2) und verdient gegen Bulgarien (1:0). Schon nach zwei Spielen waren die Super-Eagles (Super-Adler) im Achtelfinale gelandet, und ihre Journalisten handelten sich eine FIFA-Rüge ein, weil sie auf der Pressekonferenz Polonaise tanzten.

Schon wieder dabei: Bora Milutinovic

Aber so war es eben bei jeder Mannschaft, die ein Bora Milutinovic trainiert. Nach Mexiko, Costa Rica und den USA hatte sich der Serbe 1998 die Nigerianer erwählt, um für Furore zu sorgen. Von den heimischen Medien angefeindet, erschien er nach dem Auftaktsieg demonstrativ in der Landestracht auf der Pressekonferenz. Weil Nigeria sich aber zum Abschluss gegen Paraguay merklich hängen ließ und 1:3 unterlag, flogen die beiden Europäer aus dem Turnier. Spaniens imposantes 6:1 über ein desolates Bulgarien, dessen Stars Balakov und Stoitchkov sich sogar offen um Freistöße stritten, war wertlos.

Die vor der WM in 30 Spielen unbesiegten stolzen Spanier scheiterten letztlich am gravierenden Patzer ihres Torwarts Zubizaretta beim 2:3 gegen Nigeria, für den der 124-malige Nationalspiele alle Verantwortung übernahm: „Das war meine Schuld, da gibt es nichts schönzureden.“

Die Gruppe E hatte die Nachbarn und Rivalen Niederlande und Belgien schon wieder zusammengeführt, obwohl sie sich schon in die Qualifikation begegnet waren. Wie meist war ihr Duell ein zähes Ringen, das das erste torlose WM-Spiel 1998 hervorbrachte. In Erinnerung blieb nur der Platzverweis für Patrick Kluivert nach einem Faustschlag gegen Lorenzo Staelens wegen einer verbalen Provokation. „Er hat etwas Schreckliches aus Kluiverts Privatleben gesagt“, erklärte Bondscoach Guus Hiddink den Ausraster seines Stürmers. Was, das blieb offen.

Bum-kun Cha: "Das Volk wird dieses Ergebnis nicht glauben"

Derartige Tricks halfen den Belgiern aber nicht weiter, nach drei Unentschieden packten sie die Koffer. Ihr 1:1 zum Abschluss gegen Südkorea war so langweilig, das VIP-Gäste auf der Tribüne einschliefen, was TV-Kameras ungeniert einfingen. Unterhaltsamer war der Fußball, den Mexiko spielte. Nach einem 3:1 über Südkorea und zwei 2:2 gegen die Europäer kamen die Mittelamerikaner um den „blonden Engel“ Luis Hernandez, der drei Tore erzielte, als Zweiter weiter und lösten in der Heimat Straßenfeste aus.

Gruppensieger wurde Holland, das sich beim 5:0 über Südkorea das nötige Torpolster zulegte und von bis zu mitgereisten 25.000 Fans unterstützt wurde. „Das Volk wird dieses Ergebnis nicht glauben“, sagte danach ein konsternierter Bum-kun Cha, Trainer der Asiaten. Es waren seine letzten Worte im Amt, auch der frühere Bundesligastürmer wurde schon nach dem zweiten Spiel entlassen. Es war ein Kennzeichen dieser WM, dass mit Trainern im Misserfolg kurzer Prozess gemacht wurde.

Der Dritte, dem es so erging, war ein Pole. Henryk Kasperczak betreute in Gruppe G die Tunesier, die ausgenommen schwere Lose bekamen. England, Rumänien und Kolumbien waren keine Laufkundschaft, doch die Heimat erwartete ein kleines Wunder von Tunesien. Als dies ausblieb und dem 0:2 gegen England ein 0:1 gegen Kolumbien folgte, bekam Kasperczak die Quittung. Drei Entlassungen während der Vorrunde waren absoluter WM-Rekord.

In dieser Gruppe setzten sich die Europäer durch, aber mit mehr Mühe als erwartet - jedenfalls in Bezug auf England. Die Mannschaft von Glenn Hoddle unterlag den fantastischen Rumänen 1:2 und brauchte zum Abschluss einen Sieg über Kolumbien. Den sicherte ein 25-Meter-Freistoß eines Bravo-Boys namens David Beckham. Im Tor der Kolumbianer stand ein gewisser Faryd Mondragon, heute beim 1. FC Köln. Er verließ den Platz nach dem 0:2 weinend. Überschattet wurden die Spiele dieser Gruppe vom gewaltbereiten Teil der englischen Fans, die in Marseille und Lens Straßenschlachten anzettelten und dafür sorgten, dass geplante Public-Viewing-Veranstaltungen kurzfristig abgesagt wurden.

Reggae auf den Rängen

In Gruppe H machten die Fans dagegen die meiste Freude, denn hier spielte Jamaika, und der Exot wurde von 5000 Anhängern in schriller Aufmachung begleitet. Reggae auf den Rängen, aber mit dem Ball tanzten die Gegner besser. Kroatien (3:1) und Argentinien (5:0) erteilten dem Außenseiter Lehrstunden. Zum Abschluss gegen Japan gab es doch die ersten Punkte in Jamaikas WM-Historie (2:1), aber da ging es schon für beide um nichts mehr.

Argentinien wurde seiner Favoritenrolle gerecht, gewann alle Spiele und blieb ohne Gegentor. Trainer Daniel Passarella, 1978 noch Libero in der Weltmeister-Mannschaft, führte ein strenges Regiment in der Auswahl, die erstmals seit 16 Jahren ohne Diego Maradona auskommen musste. Der gealterte Weltstar hatte seine Karriere beendet und grüßte nur noch von Fan-Transparenten. Doch aus Argentiniens Reservoir an Fußballspielern steigen immer wieder neue Stars zum Himmel auf. In der Vorrunde machte Gabriel Batistuta seinen Spitznamen „Batigol“ alle Ehre. Dem Siegtor gegen Japan folgte gegen Jamaika der schnellste Hattrick der WM-Historie - vom 1:0 zum 4:0 in zehn Minuten. Nur gut, dass er eine Kurzfrisur trug. Passarella duldete keine Langhaarigen in der Albiceleste.

Die Überraschung der WM war Kroatien, was sich in der Vorrunde schon andeutete. Nach zwei Siegen zu Beginn waren die Kroaten um Real Madrids Star Davor Suker schon weiter. Japan dagegen, von 15.000 Fans begleitet, blieb punktlos und hoffte auf Besserung im eigenen Land. Ihr Anhang immerhin war der Vorbildlichste in Frankreich. In mitgebrachten Plastiksäcken nahmen sie ihren eigenen Müll wieder mit aus dem Stadion.

Deutschland: Mit Sieg ins Turnier gestartet

Bliebe noch die deutsche Gruppe. Als sie zu Ende war, war es wie so oft. Die nackten Zahlen stellten zufrieden, die Leistungen nicht immer. Gegen die USA kam die in Nizza logierende Mannschaft in Paris zunächst glänzend ins Turnier. Andy Möller köpfte schon nach neun Minuten das 1:0, und Deutschland dominierte das Spiel. Aber bis zum erlösenden 2:0 Klinsmanns (65.) verging viel Zeit. Die beste Elf war noch nicht gefunden. „Häßler und Möller - es hat nicht funktioniert“, schrieb die Bild-Zeitung über die Problemstelle Kreativzentrum.

Der starke WM-Neuling Jens Jeremies vom TSV 1860 war nach Christian Zieges Absage der einzige Münchner auf dem Platz, und so spielte erstmals seit 36 Jahren keiner vom FC Bayern mit, ehe Dietmar Hamann, Ziege und Markus Babbel eingewechselt wurden. Lothar Matthäus wurde noch nicht gebraucht. Berti Vogts bilanzierte: „Wir haben sehr gut angefangen, dann aber haben wir unsere Ordnung verloren. Insgesamt kann ich mit diesem Spiel nicht zufrieden sein.“

Franz Beckenbauer kam in seiner Eigenschaft als Kolumnist zu dem Ergebnis, die Mannschaft sei „erst bei 60 Prozent“. Das Ausland amüsierte sich über eine andere Zahl der DFB-Auswahl, die in Paris ein Durchschnittsalter von 30,36 Jahren aufwies. „Jurassic-Park im Prinzenpark“ witzelte die Zeitung L’Equipe.

Chaotischer Ticketverkauf

Wenig Freude hatten zahlreiche deutsche Fans, die Opfer des chaotischen Kartenverkaufs wurden. Durch Betrug waren allein 10.000 Deutsche nicht im Besitz gültiger Tickets, obwohl sie diese bei ihren Reisebüros schon bezahlt hatten. Doch dort kamen die Tickets nie an.

Davon profitierte natürlich der Schwarzmarkt, bis zu 8000 Mark forderten Händler für 90 Minuten Fußball. Vor dem Stadion versuchten 300 Fans, die Absperrungen zu überwinden und so zu ihrem Recht zu kommen. Sie wurden von der Polizei zurückgeschickt - nicht nur mit freundlichen Worten. Auf Transparenten bekundeten Fans ihre Wut. Die Polizei verhaftete noch während der WM Manager einer Agentur, die Tickets nur zum Schein verkauft hatte.

Beim nächsten Spiel sorgten mitgereiste Deutsche für traurige Schlagzeilen: Nach dem 2:2 gegen Jugoslawien randalierten einige Chaoten in Lens und machten Jagd auf Polizisten. Ein Gendarm namens Daniel Nivel wurde am Boden liegend ins Koma getreten und leidet bis heute unter den Folgen. Der DFB engagiert sich mit der bald gegründeten Daniel-Nivel-Stiftung, die den Franzosen und seine Familie unterstützt.

"Berti, wir brauchen eine neue Elf!"

Das Spiel selbst war durchwachsen: Nach 54 Minuten hieß es 0:2, nach 74 immer noch und erst im Schlussspurt retteten der eingewechselte Michael Tarnat mit einem Freistoß und Oliver Bierhoff noch einen Punkt. Vogts erkannte das Positive („Wir lagen am Boden, aber wir sind wieder aufgestanden“), verschloss aber nicht die Augen vor den Mängeln und wurde intern nach eigenen Worten „sehr böse“. Bild druckte die Schlagzeile: „Berti, wir brauchen eine neue Elf!“

An Lothar Matthäus, gegen Jugoslawien durch seine Einwechslung WM-Rekordhalter mit 22 Spielen, kam Vogts fortan nicht mehr vorbei - allein schon, um den Mangel an Führungsspielern zu beseitigen. Bescheiden wehrte Matthäus, der in früherer Mittelfeldrolle zum Zuge kam, ab: „Ich will kein Chef sein, sondern ein wichtiger Bestandteil. Ich will nur helfen.“

Die Vorkommnisse vor allem neben dem Platz überschatteten die Tage bis zum dritten Spiel gegen den Iran. Zehn Minuten nach der Rückkehr ins Hotel „Mas d’Artigny“ erfuhr die DFB-Delegation von den Ausschreitungen in Lens. Präsident Egidius Braun erkundigte sich von Paris aus nach dem Stand der Dinge. Der neue FIFA-Präsident Sepp Blatter erklärte englischen Reportern am nächsten Tag, der DFB habe den Rückzug angeboten. Egidius Braun hat später betont, er habe lediglich mit Vorstandskollegen beraten, was zu tun sei. Vogts ging mit den Straftätern zurecht hart ins Gericht: „Alles wegen ein paar Krimineller.“

Auch der kommende Gegner Iran sprach von Abreise. Weil im französischen Fernsehen der Film „Nicht ohne meine Tochter“ gezeigt wurde, der die Unterdrückung der Frauen im Iran thematisierte, fühlte man sich beleidigt. Doch nach dem 2:1 im politisch brisanten Spiel gegen die USA hatte man ja noch Chancen aufs Weiterkommen, und die galt es zu wahren. Zumal drei Bundesliga-Legionäre des Iran auf ein Treffen mit ihren Kollegen brannten.

Die älteste DFB-Elf

Die geforderte „neue Elf“ der Deutschen war an diesem Tag die älteste in 90 Jahren DFB-Länderspielhistorie. Durch die Hereinnahme von Lothar Matthäus stieg der Schnitt auf 31,6 Jahre an. Die Erfahrung reichte aus gegen den Außenseiter, Stürmertore von Klinsmann und Bierhoff sicherten nach der Pause ein 2:0 und den Gruppensieg vor den Jugoslawen.

Verlierer gab es dennoch in Montpellier: Olaf Thon verlor zur Pause seinen Libero-Posten an Matthäus, für Möller war die WM fast schon beendet, Häßler eroberte seinen Platz. Mit Thomas Helmer, Michael Tarnat und Dietmar Hamann kamen noch drei Neue hinein, aber Bild war immer noch nicht zufrieden: „Nach drei Spielen wird immer noch an Taktik und Aufstellung herumgebastelt. Die Mannschaft hat immer noch nicht den Schwung, den man braucht, um bei einer WM weit zu kommen.“

Aber sie gehörte zu den zehn Europäern, die noch im Rennen waren. Ferner waren fünf Lateinamerikaner und Afrikas Stolz Nigeria im Achtelfinale. Die Vorrundenbilanz fiel durchaus erfreulich aus: 126 Tore in 48 Spielen verhießen einen Trend zum Offensivfußball, der sich in den USA schon angebahnt hatte. 16 Platzverweise und teils schwache Schiedsrichter-Leistungen gaben den Kritikern Futter. Die Geißel dieser WM aber waren die Hooligans, deretwegen die FIFA einige Krisensitzungen abhielt.