Rehhagel führt Griechen auf den Fußball-Olymp

Der Ausrichter der EM 2004 wurde auf deutschem Boden gekürt. In Aachen, wo schon deutsche Kaiser gekrönt wurden, fiel am 19. Oktober 1999 die Entscheidung. Überraschend triumphierte Portugal deutlich vor Spanien und der alten Doppel-Monarchie Österreich/Ungarn, die sich nach Vorbild von Niederlande und Belgien um eine gemeinsame Ausrichtung beworben hatte. Portugals schlichtes Motto, "We love football", eroberte die Herzen der Delegierten, die es sich einfacher hätten machen können. Denn während in Spanien die Stadien bereits fertig waren, mussten sie in Portugal teilweise erst gebaut werden.

Präzise gesagt entstanden sechs von zehn EM-Arenen erst nach der Endrunden-Vergabe an Portugal. Aber sie sollten trotz explodierender Baukosten fertig werden und der EM 2004 ihr unverwechselbares Bild geben. Nie zuvor hat man wohl ein bedeutendes internationales Fußballspiel gesehen, das vor Felswänden stattfand. Für dieses Novum sorgte der Architekt des Estádio Municipal in Braga, wo hinter dem einen Tor eine natürliche Feldwand aufragte, auf die die Anzeigetafel montiert wurde. Die gegenüberliegende Seite bewies Mut zur Lücke und legte den Blick auf die Landschaft offen.

Andere Länder, andere Stadien

50 Verbände bewarben sich darum, in ihnen spielen zu dürfen. In zehn Fünfer-Gruppen wurden die 15 Teilnehmer ermittelt. Für die zehn Gruppensieger und fünf Zweite, die sich in den Play-off-Spielen heraus kristallisieren mussten, wurde der Portugal-Traum wahr. Die Großen, die bei der merkwürdigen WM 2002 in Asien bis auf Deutschland (Finalist) kläglich scheiterten, kamen allesamt durch.

Frankreich, das seinen WM-Titel schon nach der Vorrunde hatte abgeben müssen, schickte sich nun an wenigstens seinen Status als Europameister zu verteidigen. Ohne Verlustpunkt marschierten "Les Bleus" durch Gruppe 1, der neue Trainer Jacques Santini schien die Zauberformel gefunden zu haben, wie er die vermeintlich satten Stars wieder zum Laufen bringen mochte. Mit zehn Punkten Rückstand rettete sich Slowenien, 2000 Endrundenteilnehmer, in die Play-offs. Nichts mit der Entscheidung hatte Israel zu tun, das wegen der politisch instabilen Lage seine Heimspiele in der Türkei oder Italien austrug. Das "Heimspiel" gegen Malta (2:2) besuchten in Antalya nur 300 Menschen und markiert den Tiefpunkt der EM-Historie.

In Gruppe 2 kämpften vier Teams bis zuletzt um die Endrundenplätze, der Fünfte im Bunde, Luxemburg, verlor alle Spiele (0:21 Tore). Letztlich triumphierte Ex-Europameister Dänemark mit einem Punkt vor Norwegen, das gegen die punktgleichen Rumänen im direkten Vergleich besser abschnitt. Hätte jedoch Bosnien-Herzegowina sein letztes Spiel gegen die Dänen gewonnen, wäre es statt Vierter Erster geworden. So eng ging es in keiner anderen Gruppe zu und mit 15 Punkten wäre man auch nirgendwo sonst Erster geworden. In Gruppe 3 gewann Tschechien sieben von acht Spielen und damit die EM-Fahrkarte, die Niederlande musste wegen der 1:3-Niederlage in Prag nachsitzen. Österreich, mit zwei Siegen gestartet, wurde Dritter und verpasste wie bis dato immer die EM. In Gruppe 4 triumphierte Schweden vor den Letten, die überraschend Polen und Ungarn hinter sich ließen.

In Gruppe 5 traf die deutsche Mannschaft auf Schottland mit Trainer Berti Vogts sowie vermeintlichem Kanonenfutter namens Island, Litauen und den Färöer. Das Team von Rudi Völler überstand die acht Spiele zwar ungeschlagen, aber nicht unbeschadet. Der Vize-Weltmeister konnte seinen Erfolg von Yokohama nicht bestätigen und durchwanderte auf dem Weg zur EM 2004 die nächste Talsohle. Gleich im ersten Heimspiel gegen die Färöer (2:1) blamierte er sich im Oktober 2002 in Hannover bis auf die Knochen. Zwar glückte Michael Ballack schon in der zweiten Minute per Elfmeter das ersehnte frühe Tor, doch davon ließ sich die Nummer 119 der Weltrangliste nicht beeindrucken. Sicher war auch Pech dabei aus deutscher Sicht, dass es mit einem 1:1 in die Kabinen ging, denn Arne Friedrich war ein Kopfball-Eigentor unterlaufen. Miroslav Klose sorgte nach einer Stunde für die erneute Führung, nicht aber für Sicherheit. Noch in der 88. Minute trafen die Männer von den Schafs-Inseln, auf denen es nur 6000 Fußballer gab, den Pfosten. "Einfach grausam! Es gibt viel zu tun, Rudi!", titelte der Kicker, dessen Chefredakteur Rainer Holzschuh eine "Horrorvorstellung" sah. Und nicht nur er.

Leider blieb es kein einmaliger Ausrutscher. Litauen erbeutete in Nürnberg sogar einen Punkt (1:1) und im Rückspiel auf den Färöern hielten die Gastgeber bis zur 89. Minute ein 0:0, ehe erneut Retter Klose und in der Nachspielzeit Fredi Bobic noch trafen. In Island (0:0) traf niemand außer Teamchef Rudi Völler, der aber nur mit Worten. Im ARD-Studio in Reykjavik setzte er zu einer legendären Wutrede gegen die Kritiker, vornehmlich Gerhard Delling und Legende Günter Netzer ("Ich kann den Scheißdreck nicht mehr hören") an und teilte auch gegen Moderator Waldemar Hartmann aus ("Du sitzt hier schön locker und hast schon drei Weißbier intus…Wechsel den Beruf, ist besser"). Völler genoss aufgrund des zweiten Platzes in Asien und seiner Vita als Spieler viel Kredit und erntete für seinen Vulkanausbruch im Land der Geysire mehr Lob als Tadel. "Weltklasse" fand etwa Bayern-Manager Uli Hoeneß diesen Schlagzeilen machenden Rundumschlag.

Völler musste eben mit dem auskommen, was ihm die Bundesliga lieferte – und das war herzlich wenig anno 2002 und 2003. Aufgrund der stetig wachsenden Ausländerzahl konnte er nur noch unter rund 150 Deutschen wählen, während seine Vorgänger vor dem Bosman-Urteil theoretisch das Doppelte bis Dreifache zur Verfügung hatten. Aber das Schlimmste konnte Völlers Team abwenden. Die wichtigen Spiele gegen die Schotten (1:1 in Glasgow, 2:1 in Dortmund) wurden bewältigt und nach dem 3:0 im letzten Match gegen Island war die EM-Fahrkarte gelöst. "Mit Glanz und Gloria zur EM", titelte die Welt am Sonntag überschwänglich nach dem Pflichtsieg von Hamburg. Die Ansprüche waren spürbar gesunken.

Auch in Gruppe 6 triumphierte ein Deutscher – inmitten seiner neuen Freunde. Otto Rehhagel hatte im Herbst 2001 Griechenlands Auswahl übernommen, sich mit einer 1:5-Heimpleite gegen Finnland eingeführt und auch die ersten beiden EM-Quali-Spiele jeweils 0:2 verloren. Aber dann setzte sich der Sachverstand des Altmeisters, damals war er bereits 63, durch. Rehhagel ließ extrem defensiv spielen und war der vermutlich letzte Nationaltrainer, der noch dem Libero die Treue hielt. Die Folge: Die Griechen gewannen alle sechs folgenden Spiele zu Null und fuhren mit einem Torverhältnis von 8:4 zur EM, bei der sie noch für mehr Furore sorgen sollten. Die großen Spanier, vom 0:1 zuhause in Saragossa erschüttert, wurden Zweiter.

Nach Plan lief es in Gruppe 7, wo England ungeschlagen blieb. Dennoch musste es im letzten Spiel bei Verfolger Türkei noch um den Gruppensieg zittern, erst recht als David Beckham eine alte Tradition fortsetzte und in Istanbul einen Elfmeter verschoss. Es rächte sich nicht, das 0:0 reichte den erstmals von einem Ausländer, dem Schweden Sven-Göran Eriksson, trainierten Briten. In Gruppe 8 lachte am Ende Bulgarien, das sich im letzten Spiel eine 0:1-Niederlage in Kroatien leisten konnte, welche den Gastgebern zum zweiten Platz verhalf. Zum Leidwesen der punktgleichen Belgier.

Gruppe 9 sah in Italien den erwarteten Sieger, auch wenn nach der Vorrunde Außenseiter Wales mit drei Punkten vorne lag. Dann ging den Walisern die Puste aus, aber es reichte noch für Platz zwei. Und für den absoluten Zuschauerrekord dieser EM-Qualifikation: Das Millenium-Stadion in Cardiff war immer voll, 71.878 Zuschauer sahen im Schnitt die Spiele der Briten. In Gruppe 10 wiederholte die Schweiz den Erfolg von 1996. Der spätere Dortmunder Alexander Frei schoss gegen Irland den Weg nach Portugal frei, die Russen mussten sich mit Platz zwei begnügen.

In den Play-offs am 15. und 19. November 2003 gab es eine große Überraschung. Lettland warf die Türkei raus (1:0 und 2:2), die Welt musste sich an Namen wie Verpakovskis, der zwei der drei Tore erzielte, gewöhnen. Damit schaffte es erstmals eine Republik der zerfallenen Sowjetunion zur EM, ein Land mit 2,2 Millionen Einwohnern. Die Schotten schnupperten immerhin an einer Sensation, schlugen die Niederlande in Glasgow 1:0. Doch im Rückspiel ging das Team von "Berti McVogts", wie er genannt werden wollte, 0:6 unter. Kroatiens Routine gab gegen Slowenien den Ausschlag (1:1, 1:0). Nahezu identisch verlief das Duell zwischen Walisern und Russen. Auch hier gewann die Gastmannschaft nach einem 1:1 im Hinspiel auswärts 1:0, 73.000 Zuschauer machten in Cardiff lange Gesichter, während die Russen ihre lange EM-Tradition (achte Teilnahme) fortsetzten.

Auch Spanien hatte bei der EM seinen Namen schon manche Ehre gemacht (Sieger 1964, Finalist 1984) und stand gegen Norwegen in der Pflicht. Nach dem 2:1 von Valencia reiste die "Seleccion" mit weichen Knien nach Oslo, wo sich aber Cleverness und Erfahrung durchsetzte. Raul eröffnete den Torreigen beim 3:0-Sieg.

Als im Dezember in Lissabon die Lose fielen, sprach in Deutschland niemand vom sonst sprichwörtlichen deutschen Losglück. "Wir haben zweifelsfrei eine der schwersten Gruppen erwischt", sagte Völler mit Blick auf die Niederlande und Tschechien, weniger auf Lettland. Auch die UEFA stellte das Los vor Probleme. Das Eröffnungsspiel der Gruppe D zwischen Deutschland und der Niederlande war zu bedeutend für das Stadion in Aveiro (31.498 Plätze) und wurde flugs nach Porto (50.498) verlegt. Die Rechnung ging auf: Genug Fans beider Mannschaften reisten im Juni nach Portugal.

Die Erwartungen im Lande des Vize-Weltmeisters waren gedämpft. Nach der glanzlosen Qualifikation sammelten die Stützen im Team weitere Frusterlebnisse. Bayern München stellte das Gros des Kaders, verzeichnete aber ein Jahr ohne Titel, da Werder Bremen das Double schaffte. Auch die Leverkusener gingen leer aus, im Europapokal kam kein Bundesligist über das Achtelfinale hinaus. Selbst die jungen Hoffnungsträger Lukas Podolski (18, Abstieg mit Köln) und Bastian Schweinsteiger (19, Olympia-Aus in der Woche vor EM-Start) schoben Frust. Völler versuchte im Trainingslager im Schwarzwald zu beschwichtigen: "Jetzt ist einzig und allein Nationalmannschaft angesagt. Alles andere wird über Bord geworfen." Der Kicker schrieb dennoch von der "Psycho-EURO". In einer Umfrage unter den Bundesligaspielern 2003/2004 prophezeiten 32,8 Prozent das Vorrunden-Aus, 6,4 Prozent jedoch den Titel.

Völler plagten Personalprobleme. Vor allem fehlten Linksfüßer und Stürmer. Auf der linken Außenbahn plante er mit HSV-Reservist Christian Rahn, als der im letzten Moment ausfiel, nominierte er Christian Ziege, der bei Tottenham nur auf zehn Einsätze gekommen war. Völler erhoffte sich vom Europameister von 1996 mehr Einsatz neben als auf dem Feld: "Er soll die jüngeren Spieler mitziehen. Er gibt allen das Gefühl, dass er helfen will." Hilfe brauchte auch der Shooting-Star der WM 2002, Miroslav Klose, der mit fünf Toren in Asien zweitbester Schütze des Turniers geworden war. In den folgenden zwei Jahren schoss er in 19 Länderspielen nur drei Tore. Eine Woche vor der EM sagte er: "Ich trete seit einiger Zeit auf der Stelle. Ich bin selbst mein größter Kritiker und weiß, dass es so nicht weitergehen kann."

Völler setzte längst auf den Mittelstürmer der jungen Wilden des VfB Stuttgart, die unter Felix Magath in der Champions League für Furore gesorgt hatten: Kevin Kuranyi. Beim 2:0 in Basel im vorletzten Test erzielte er beide Tore, im letzten Test gegen die von Lothar Matthäus trainierten Ungarn traf im Fritz-Walter-Stadion nur der Gast (0:2). Nach der ernüchternden Vorstellung, die in Teilen an das 1:5 in Rumänien im April erinnerte, titelte der Kicker: "Jetzt hilft nur noch ein Wunder."