WM 1986: Maradonas "Hand Gottes" und genialer linker Fuß

Die Franzosen kamen erst im abschließenden Spiel in Form und schickten mit einem klaren 3:0 die Ungarn nach Hause. Auf das erste Tor von Michel Platini, 1984 Torschützenkönig bei der EM im eigenen Land, warteten die Fans noch. Sie hatten ihre eigene Art der Anfeuerung und warfen gegen Kanada (1:0) einen gerupften Hahn aufs Spielfeld. Der gallische Hahn schoss zwar kein Tor, machte den Spielern aber deutlich, dass die Heimat zusah und hohe Erwartungen hatte.

"Montezumas Rache"

Wie ein Weltmeister hatte das Team von Henri Michel noch nicht gespielt, aber wie fast alle Europäer machten sie Umstellungsprobleme auf Hitze und Höhenlage Mexikos geltend. Die Spanier hatten in Gruppe D noch einen anderen landestypischen Gegner: "Montezumas Rache" legte das halbe Team flach, und als es gegen Brasilien ging, mussten Stars wie Gallego und Gordillo krank im Bett bleiben. Trotzdem hätten sie gewinnen können, vielleicht sogar müssen im Jalisco-Stadion von Guadalajara. Michel traf in der 54. Minute die Lattenunterkante, und TV-Bilder zeigten, dass der Ball hinter der Linie gelandet war. Es kam, was kommen musste. Soctares köpfte nach 63 Minuten das einzige Tor des Tages, das Anerkennung fand, und Brasilien gewann schmeichelhaft mit 1:0. "Wir sind um den Sieg betrogen worden", sagte Libero Maceda stellvertretend für ganz Spanien. Immerhin kostete es nicht das Achtelfinale, gegen Nordirland (2:1) und Algerien (3:0) wurden die Punkte für Platz zwei eingefahren.

Brasilien bezwang auch Algerien nur mit 1:0, was dem Publikum nicht reichte. Wütende Pfiffe gab es nach der Achtelfinal-Qualifikation – als erstes Team –, und Tele Santana verstand die Welt nicht mehr: "Nur weil wir Brasilien sind, verlangt man von uns etwas Besonderes." Der Fluch der guten Taten aus Pelés Zeiten. Erstmals befriedigt wurde der Anhang beim 3:0 über die Nordiren, aber erst nach der Einwechslung von Edel-Reservist Zico kam Glanz in die Samba-Show. Mit einem Hackentrick bereitete der Rekonvaleszent bei seiner WM-Premiere 1986 ein herrliches Tor vor. Die biederen Nordiren konnten dagegen an ihre besten Tage nicht anknüpfen, im Gegensatz zu 1982 war schon in der Vorrunde Schluss. Sie gehörten zu den beiden Dritten, für die das Turnier zu Ende war. Kein Wunder bei nur 1:5 Punkten. So lautete auch Algeriens Bilanz. Auf der Tribüne stellte Berti Vogts nach dem 0:3 gegen Spanien fest: "Die Algerier haben sich gegenüber der WM 1982 deutlich verschlechtert."

Es war nicht die WM der Exoten, nur ein Team aus Topf vier, der den Außenseitern bei der Auslosung vorbehalten war, überstand die Vorrunde. Marokko! In einer Gruppe mit England, Polen und Portugal hätte sich wohl jeder gefürchtet, und auf Marokko setzte niemand auch nur einen Cent. Aber was geschah? Ungeschlagen marschierten sie als erste Afrikaner der WM-Historie durch ins Achtelfinale, trotzten Polen und England in torlosen Spielen jeweils einen Zähler ab und wurden durch ein 3:1 über Portugal sogar Gruppensieger. Es war quasi der zweite Sieg auf mexikanischem Boden, denn zum Warmwerden hatten die Wüstensöhne ein Spiel gegen das Hotelpersonal ausgetragen und eine Auswahl aus Kellnern, Köchen und Liftboys 16:0 geschlagen. Afrikanische Lockerheit.

Portugal aber fuhr nach Hause, obwohl es zum Auftakt England 1:0 geschlagen hatte: "Wir haben den Gegner unterschätzt. Diese Niederlage ist ein Tiefschlag für den portugiesischen Fußball", jammerte Trainer José Torres. Polen und das stolze England mogelten sich durch, mit jeweils 3:3 Punkten. Erst im letzten Spiel erfüllten die britischen Profis den Wunsch ihrer Fans, die während der zweiten torlosen Partie sangen: "All we are saying is give us a goal". Gary Lineker vom FC Everton fühlte sich da offenbar besonders angesprochen und fabrizierte in Monterrey den ersten Hattrick dieser WM. Polen verdankte sein Weiterkommen dem 1:0 über Portugal durch ein Tor von Smolarek, dessen Auswechslung schon angezeigt war. Die Elf hatte aber nur noch wenig von dem Team, das 1982 Platz drei erkämpft hatte und schoss in Mexiko nur ein Tor. Das reichte für das Achtelfinale.

Magath spielt Schach

Die deutsche Mannschaft bestritt als Gruppenkopf alle Spiele in Queretaro und hatte 40 Kilometer südlich davon in San Juan Galindo Quartier bezogen. "La Mansion Galindo" diente der Legende nach schon dem Eroberer Hernando Cortez im 16. Jahrhundert als Domizil, erwies sich aber als hochmodernes Quartier inmitten einer Steinwüste. Die Spieler bewohnten zu zweit 40 Quadratmeter große Zimmer, fünf "Schnarcher" wie Briegel oder Thon bekamen Einzelzimmer.



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Die Fußball-Weltmeisterschaft feiert runden Geburtstag: Zum 20. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum zweiten Mal nach 1950 in Brasilien. Für DFB.de erinnert der Historiker und Autor Udo Muras in einer WM-Serie an alle Turniere der Geschichte. Heute: die WM 1986 in Mexiko.

Teil 13: Die WM 1986 in Mexiko

Erstmals wurde eine Endrunde in ein Land vergeben, das bereits zuvor eine WM ausgetragen hatte. Mexiko erhielt wie schon 1970 den Zuschlag. Eigentlich hatte sich Kolumbien schon auf die WM gefreut, doch musste das mittelamerikanische Land die Ausrichtung schon 1982 zurückgeben. Die Wirtschaftslage erlaubte es ihm nicht, eine Endrunde für 24 Mannschaften auszutragen. Es hatte mit 16 Teilnehmern gerechnet. "Die Voraussetzungen, unter denen wir uns bewarben, sind nicht mehr gegeben. Wir fühlen uns hintergangen", sagte Kolumbiens Präsident und erklärte den Verzicht.

Brasilien, Kanada und die USA hatten sich neben Mexiko als Nachrücker beworben, doch es blieben nur noch dreieinhalb Jahre Zeit, um Strukturen, sprich vor allem WM-reife Stadien, zu schaffen – und da war Mexiko mit einem Dutzend Spielstätten immens im Vorteil und erhielt am 20. Mai 1983 erneut den Zuschlag.

119 Länder meldeten sich für die Qualifikation, ein Rekordwert. Zu den Besonderheiten der Qualifikation zählte das Abschneiden des Irak, der wegen des Krieges mit dem Iran kein Heimspiel austragen konnte und sich doch erstmals für eine WM qualifizierte. Zweiter Vertreter Asiens war Südkorea, nach 32 Jahren Pause wieder dabei.

Afrika schickte mit Algerien und Marokko bewährte Vertreter an den Start. Nordamerika stellte mit Kanada einen WM-Debütanten, Südamerika entsandte seine Elite – Brasilien, Argentinien, Uruguay – und Newcomer Paraguay. Ozeanien blieb außen vor, da sich die Australier in zwei Entscheidungsspielen nicht gegen Schottland durchsetzen konnte. Die Briten erhöhten damit das europäische Kontingent auf 13. Es tröstete sie ein wenig über die Tragödie hinweg, die diese Qualifikation überschattete: Trainer Jock Stein erlitt gegen Wales einen Herzinfarkt und starb noch im Stadion.

Nicht dabei waren erneut die Niederlande, die auf Belgien trafen und diesmal in der Relegation den Kürzeren zogen. In ihrer Gruppe waren sie hinter den Ungarn zurückgeblieben, die sich als erstes europäisches Land bereits im April 1985 qualifiziert hatten.

Franz Beckenbauer neuer Teamchef

Keine Zeit verschwendete auch die deutsche Mannschaft unter ihrem neuen Trainer, Teamchef Franz Beckenbauer. Bereits vor den beiden letzten Heimspielen hatte sie das Mexiko-Ticket gelöst, was womöglich dazu führte, dass eine im Welt-Fußball einmalige Serie riss. Im nun bedeutungslosen Spiel gegen Portugal verlor sie am 16. Oktober 1985 in Stuttgart erstmals überhaupt nach 51 Jahren ein WM-Qualifikationsspiel – im 37. Spiel. Der kicker kritisierte nach dem 0:1: "Blind und dumm Prestige verspielt."

Noch war die Nation nicht ganz zufrieden mit ihrem liebsten Kind. Der Umbruch, den Beckenbauer als Nachfolger Jupp Derwalls eingeleitet hatte und der vor allem ein gefühlter Aufbruch war, war noch mit Mühen verbunden. Junge Spieler wie Thomas Berthold, Ralf Falkenmayer, Olaf Thon oder Michael Frontzeck hatte der "Kaiser" in der Qualifikation ins Wasser geworfen und viel riskiert, doch als es gen Mexiko ging, hielt er Ausschau nach alten Recken. Er nominierte den bis dato ältesten Kader der DFB-Historie, der Altersschnitt betrug 28,37 Jahre.

In der Abwehr griff er auf den Hamburger Ditmar Jakobs (32) und Klaus Augenthaler (28) zurück, zwei Ausputzer alter Schule, auch die "Italiener" Hans-Peter Briegel und Karl-Heinz Rummenigge hatten die 30 schon überschritten. Im April noch reaktivierte er Bayern-Stürmer Dieter Hoeneß, damals 33, nach sieben Jahren Abstinenz im DFB-Team. Und drei Wochen vor der WM machte er gar den 30-jährigen Münchner Vorstopper Norbert Eder zum Nationalspieler. Der hatte nach dem Double mit den Bayern schon seinen Apulien-Urlaub gebucht, doch dann ereilte ihn der Ruf des Teamchefs, und Eder wurde für knapp sechs Wochen zum Stammspieler der Nationalmannschaft.

Das Sicherheitsdenken, für das Beckenbauer stark kritisiert wurde, hatte Gründe. Denn das kreative Moment war nicht sonderlich ausgeprägt im DFB-Kader, der 1984 schon in der EM-Vorrunde gescheitert war.

Seitdem durchschritt der deutsche Fußball eine Talsohle, und wo sich einst Spielmacher gegenseitig auf die Füße getreten hattenn, wuselten nun die Wasserträger. Paul Breitner war zurückgetreten, Hansi Müller nicht mehr gut genug und Felix Magath nicht mehr jung genug. So wurde der Ruf nach einem laut, der nur aus der Ferne glänzte: Bernd Schuster, Dirigent des FC Barcelona. Er hatte sich 1984 mit dem DFB erneut überworfen, aber im Februar 1986 seinerseits die Fühler ausgestreckt. Doch brachte es seine Frau fertig, für die WM-Teilnahme Geld zu fordern, womit das Maß voll war. "Ich hätte, um bei der WM zu spielen, sogar noch eine Million Mark mitgebracht", sagte Dieter Hoeneß.

Das Gesicht fehlt

Der "blonde Engel" also sollte nie mehr für Deutschland spielen. Als Franz Beckenbauer am 5. Mai 1986 seine Vorauswahl traf, hatte er noch immer 26 Spieler im Kader. Das Streich-Quartett galt es in Malente und Kaiserau zu ermitteln, was den Einheiten eine gewisse Ruppigkeit verlieh. Das Urteil fiel nach dem letzten Testspiel gegen die Niederlande: Bis nachts um zwei diskutierte der Teamchef mit seinen Assistenten Horst Köppel und Berti Vogts. Als Beckenbauer noch vor dem Frühstück zum Stuttgarter Guido Buchwald aufs Zimmer ging, um die Hiobsbotschaft zu überbringen, "bin ich in eine depressive Stimmung geraten", erzählte er. Auch Heinz Gründel (HSV), Wolfgang Funkel (Uerdingen) und Frank Mill (Gladbach) verpassten unfreiwillig den Flieger nach Mexiko City, der am 19. Mai um 10.27 Uhr leicht verspätet abhob.

Die Stimmung in der 47-köpfigen Delegation war ambivalent. Zwar hatte die Mannschaft 1986 keines ihrer fünf Spiele verloren und mit Brasilien und Italien zwei WM-Favoriten geschlagen, doch ihr fehlte ein Gesicht. "Die Elf ist noch nicht gefunden", stellte der Kicker nach der Ankunft fest. „Als sicher können doch nur gelten: Schumacher im Tor, Briegel in der Abwehr, Matthäus im Mittelfeld und Völler im Angriff.“ Das lag auch daran, dass etliche Stammkräfte angeschlagen anreisten: Allen voran Kapitän Karl-Heinz Rummenigge, auch Felix Magath und Pierre Littbarski. Rudi Völler hatte die halbe Saison verpasst nach einem Foul von Klaus Augenthaler, aber mit drei Toren in den letzten Tests gegen Jugoslawien (1:1) und Holland (3:1) Signale der Fitness gesendet.

Beckenbauer beschwichtigte: "Natürlich habe ich die Elf, die allererste Wahl ist, im Kopf. Das Einspielen machen wir in Mexiko an Ort und Stelle." Aber in schwachen Momenten verströmte der bis dahin jüngste deutsche WM-Chefcoach auch Pessimismus: "Wenn wir die Vorrunde überstehen, haben wir schon viel erreicht."

Angesichts der relativ kurzen Vorbereitungszeit stellte er sogar in Frage, ob WM-Teilnahmen noch Sinn machten für Deutschland, denn "auf Dauer haben wir keine Chance!" Noch vor dem Turnier kündigte er an, spätestens 1988 aufzuhören, mit Erfolgen sei bis dahin nicht zu rechnen. "Wir werden weder Weltmeister noch 1988 Europameister, das könnt ihr vergessen."

Die WM in Mexiko war die Reifeprüfung für den Trainer-Novizen: Mit 40 Jahren war er noch nicht der unumstrittene Souverän, gegen den keiner aufzubegehren wagte. Vor dem Abflug etwa musste er mit Toni Schumacher Tacheles reden, der ihm attestiert hatte: "Wir sind noch nie so wenig vorbereitet gewesen wie vor dieser WM." Der Teamchef machte dem Kölner klar, Kritik sei nur intern zu äußern.

Aus ihm sprach auch die Nervosität eines jungen Teamchefs, der fürchten musste, als erster nach der Vorrunde abreisen zu müssen. "Wenn wir ausgeschieden wären, wenn wir uns sang- und klanglos von der WM verabschiedet hätten, dann hätten sie mich mit Füßen getreten", sagte er in der Rückschau auf Mexiko. Das Risiko des Scheiterns war größer als üblich, denn ausnahmsweise hatte das Losglück Deutschland verlassen: Die Gruppe E mit Dänemark, Schottland und Uruguay galt als "Todesgruppe".

Dafür wurde das Weiterkommen dem Teilnehmerfeld auf nie dagewesene Weise erleichtert. Weil der Modus wieder geändert und nach der Vorrunde wie zuletzt 1970 wieder K.o.-Spiele kamen, mussten aus 24 Mannschaften 16 gefiltert werden, um ein Achtelfinale möglich zu machen. Was tun bei sechs Gruppen? Die beiden Ersten schafften es wie zuvor direkt, aber auch die vier besten Dritten erhielten noch eine Chance. Also konnten Tore, die in einer anderen Gruppe fielen, über den Verbleib einer Mannschaft entscheiden. Richtig glücklich war man damit bei der FIFA nicht.

Favorit Brasilien vor Argentinien

Die Favoriten würde das wohl weniger treffen, doch wer eigentlich waren sie? Bei den Londoner Buchmachern ging man nach Namen: Brasilien (Quote 4,5) kam vor Argentinien (6,5). In Experten-Umfragen fielen oft zudem Uruguay und Frankreich, von Italien war dagegen weniger die Rede. Der Titelverteidiger hatte 1984 sogar die EM-Endrunde verpasst - diesmal sollte eine Titelprämie von 420.000 D-Mark pro Spieler Ansporn sein.

Vom dreimaligen Weltmeister Brasilien wurde in der heimischen Presse geschrieben, es sei "die schlechteste Mannschaft, die wir je zu einer WM geschickt haben". Dazu passt, dass der große Pelé im Mai allen Ernstes sein Comeback in Aussicht stellte: "Ich biete mich an. Es liegt nun an Tele Santana, ob er mich haben will", sagte der größte Fußballer (nicht nur) seines Landes in Radio "O Globo". Er war zu diesem Zeitpunkt 46 Jahre alt und hatte zuletzt 1978 Fußball gespielt, aber "meine Luft reicht noch für 45 Minuten". Pelé meinte es ernst, Santana aber widerstand der Versuchung.

Zweifel begleiteten auch Argentinien trotz seines Wunderknaben Diego Maradona, der mit 25 Jahren auf der Höhe seines Könnens stand. Trainer Carlos Bilardo aber stand wegen der unattraktiven Spielweise am Pranger. Europameister Frankreich um Michel Platini und WM-Neuling Dänemark wurden zumindest als Geheimfavoriten gehandelt, und die Deutschen sah man im Ausland ohnehin besser als in der Heimat. Die englischen Buchmacher führten sie auf Platz 3 (Quote 7,5), und Luis Cesar Menotti, Argentiniens Weltmeister-Trainer von 1978, traute ihnen immerhin den Gruppensieg am Spielort Queretaro zu.

Schon das Eröffnungsspiel belegte, dass mit dem Anpfiff alles Gerede Schall und Rauch ist. Weltmeister Italien kam in Mexiko City trotz erfreulich offensiven Spiels gegen Bulgarien nicht über ein 1:1 hinaus. Die Bulgaren hatten eigens den nach einer Prügelei "lebenslang" gesperrten Nasko Sirakov begnadigt, und der bedankte sich mit dem Ausgleichstor, das ganz Italien schockte. Man ahnte schon: Wieder sollte es eine mühsame Vorrunde werden für die Squadra Azzura. Aber wieder sollten sie sich durchsetzen, obwohl sie es noch mit Argentinien zu tun bekamen. Das Spitzenspiel der Gruppe A endete ebenfalls 1:1, und Italien-Legionär Diego Maradona, dem ein Tor gelang, freute sich nachher: "Bisher war noch kein Gegenspieler so fair zu mir." Der Star des SSC Neapel bekam es mit Mannschaftskamerad Salvatore Bagni zu tun, und der war sein bester Freund im Verein.

Verlorenes Kruzifix

Weil Italien anschließend Südkorea 3:2 besiegte, zog es hinter Argentinien ins Achtelfinale ein. Die Gauchos wurden allerdings nach ihrem 2:0 über Bulgarien mit Pfiffen bedacht, und Maradona freute sich erst weit nach Abpfiff, als er auf dem Rasen sein verlorenes Kruzifix wiederfand. Bulgarien, das sich mit Südkorea eine denkwürdige Wasserschlacht lieferte (1:1), gehörte zu den glücklichen Dritten, die weiterkamen. Dabei hatten sie wie bei allen Turnierteilnahmen zuvor kein Spiel gewonnen.

In Gruppe B spielte der Gastgeber, und alle Augen waren auf Hugo Sanchez gerichtet. Der Superstar von Real Madrid konzentrierte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich und musste mit Kollegen-Neid leben. Nach dem 2:1 über Belgien lag ihm das ganze Azteken-Stadion zu Füßen, köpfte er doch ein Tor. In der hektischen Partie gegen Paraguay, in der 80 Freistöße gezählt wurden, aber verschoss er in letzter Minute beim Stand von 1:1 einen Elfmeter – und wurde Opfer des Personenkultes um ihn. Paraguay-Torwart Fernandez behauptete jedenfalls, er habe in den täglich dreimal wiederholten Werbespots in Mexiko zur Genüge gesehen, in welche Ecke Sanchez seine Elfmeter schießen würde. Sein Trainer Bora Milutinovic versuchte, den Star zu schützen: "Auch Hugo ist nur ein Mensch". Für das letzte Spiel gegen den Irak war er gesperrt, was Kollege Manuel Negrete so kommentierte: "Wir haben uns 18 Monate lang ohne Hugo auf dieses Turnier vorbereitet. Jetzt können wir wieder auf unsere Taktik aus den Testspielen zurückgreifen."

Kollegenschelte war in Mode in den Tagen von Mexiko, auch bei den Belgiern brannte es lichterloh: Vandereycken erklärte öffentlich, er könne nicht mit Scifo und Vercauteren zusammen spielen, Torwart Pfaff kritisierte Jungstar Scifo als "Alibi-Fußballer". Und nach dem mühsamen 1:0 über den Irak blies Van der Elst zum Aufstand gegen den Trainer: „Er ist ein alter Mann, der immer mehr den Überblick verliert. Gegen Paraguay hat er eine Mannschaft aufgestellt, die ihm die Presse vorgeschrieben hat.“ Und die mit dem 2:2 hinter Mexiko und Paraguay weiter kam. Trainer Guy Thys lud dennoch zur nächtlichen Krisensitzung in Toluca, in der eine andere belgische Mannschaft entstand – die beste in der Geschichte des Landes.

Vom Titel aber träumten andere: "Warum eigentlich sollen wir nicht Weltmeister werden?" fragte selbst Cayetano Ré, Trainer von WM-Neuling Paraguay nach dem zweiten Platz in Gruppe B, aus der sich der Irak punktlos und doch achtbar mit drei knappen Niederlagen verabschiedete. "Wir sind nicht enttäuscht, eher traurig, dass es nun vorbei ist", sagte Trainer Evaristo Macedo. Im Spiel gegen Paraguay aber fühlten sie sich dennoch benachteiligt, war ihnen wie einst Brasilien 1978 doch ein Tor nach einer Ecke aberkannt worden, weil der Halbzeitpfiff dazwischenkam. Das brachte die 100 mitgereisten Fans, die sich hinter Saddam-Hussein-Transparenten vor der Hitze schützten, auf die Barrikaden.

Auch in Gruppe C blieb der Außenseiter punktlos, nicht mal ein Tor wollte den tapferen Kanadiern gelingen. Und doch verkauften sie sich weit besser als der Vorletzte Ungarn, der bei seiner bis dato letzten WM-Teilnahme ein Desaster erlebte. Gleich zum Auftakt setzte es im sozialistischen Bruderduell mit der UdSSR ein 0:6, bereits nach vier Minuten stand es 0:2. Binnen 90 Minuten waren die begeisternd kombinierenden Russen in Irapuato zum Geheimfavoriten aufgestiegen. Sie bestätigten diese Würde, die auch Bürde ist, beim 1:1 gegen die Franzosen, die mühsam aus den Startblöcken gekommen waren. Gegen Kanada (2:0) sicherte dann die Reserve der Russen den Gruppensieg. Im Grunde aber hatte sich in Gruppe C erstmals bei einer WM ein Verein fürs Achtelfinale qualifiziert, denn zeitweise standen neun Spieler von Europapokalsieger Dynamo Kiew auf dem Feld, und dessen Trainer Valerij Lobanowski trainierte auch die Nationalmannschaft. Russischer Zentralismus einmal anders.

Die Franzosen kamen erst im abschließenden Spiel in Form und schickten mit einem klaren 3:0 die Ungarn nach Hause. Auf das erste Tor von Michel Platini, 1984 Torschützenkönig bei der EM im eigenen Land, warteten die Fans noch. Sie hatten ihre eigene Art der Anfeuerung und warfen gegen Kanada (1:0) einen gerupften Hahn aufs Spielfeld. Der gallische Hahn schoss zwar kein Tor, machte den Spielern aber deutlich, dass die Heimat zusah und hohe Erwartungen hatte.

"Montezumas Rache"

Wie ein Weltmeister hatte das Team von Henri Michel noch nicht gespielt, aber wie fast alle Europäer machten sie Umstellungsprobleme auf Hitze und Höhenlage Mexikos geltend. Die Spanier hatten in Gruppe D noch einen anderen landestypischen Gegner: "Montezumas Rache" legte das halbe Team flach, und als es gegen Brasilien ging, mussten Stars wie Gallego und Gordillo krank im Bett bleiben. Trotzdem hätten sie gewinnen können, vielleicht sogar müssen im Jalisco-Stadion von Guadalajara. Michel traf in der 54. Minute die Lattenunterkante, und TV-Bilder zeigten, dass der Ball hinter der Linie gelandet war. Es kam, was kommen musste. Soctares köpfte nach 63 Minuten das einzige Tor des Tages, das Anerkennung fand, und Brasilien gewann schmeichelhaft mit 1:0. "Wir sind um den Sieg betrogen worden", sagte Libero Maceda stellvertretend für ganz Spanien. Immerhin kostete es nicht das Achtelfinale, gegen Nordirland (2:1) und Algerien (3:0) wurden die Punkte für Platz zwei eingefahren.

Brasilien bezwang auch Algerien nur mit 1:0, was dem Publikum nicht reichte. Wütende Pfiffe gab es nach der Achtelfinal-Qualifikation – als erstes Team –, und Tele Santana verstand die Welt nicht mehr: "Nur weil wir Brasilien sind, verlangt man von uns etwas Besonderes." Der Fluch der guten Taten aus Pelés Zeiten. Erstmals befriedigt wurde der Anhang beim 3:0 über die Nordiren, aber erst nach der Einwechslung von Edel-Reservist Zico kam Glanz in die Samba-Show. Mit einem Hackentrick bereitete der Rekonvaleszent bei seiner WM-Premiere 1986 ein herrliches Tor vor. Die biederen Nordiren konnten dagegen an ihre besten Tage nicht anknüpfen, im Gegensatz zu 1982 war schon in der Vorrunde Schluss. Sie gehörten zu den beiden Dritten, für die das Turnier zu Ende war. Kein Wunder bei nur 1:5 Punkten. So lautete auch Algeriens Bilanz. Auf der Tribüne stellte Berti Vogts nach dem 0:3 gegen Spanien fest: "Die Algerier haben sich gegenüber der WM 1982 deutlich verschlechtert."

Es war nicht die WM der Exoten, nur ein Team aus Topf vier, der den Außenseitern bei der Auslosung vorbehalten war, überstand die Vorrunde. Marokko! In einer Gruppe mit England, Polen und Portugal hätte sich wohl jeder gefürchtet, und auf Marokko setzte niemand auch nur einen Cent. Aber was geschah? Ungeschlagen marschierten sie als erste Afrikaner der WM-Historie durch ins Achtelfinale, trotzten Polen und England in torlosen Spielen jeweils einen Zähler ab und wurden durch ein 3:1 über Portugal sogar Gruppensieger. Es war quasi der zweite Sieg auf mexikanischem Boden, denn zum Warmwerden hatten die Wüstensöhne ein Spiel gegen das Hotelpersonal ausgetragen und eine Auswahl aus Kellnern, Köchen und Liftboys 16:0 geschlagen. Afrikanische Lockerheit.

Portugal aber fuhr nach Hause, obwohl es zum Auftakt England 1:0 geschlagen hatte: "Wir haben den Gegner unterschätzt. Diese Niederlage ist ein Tiefschlag für den portugiesischen Fußball", jammerte Trainer José Torres. Polen und das stolze England mogelten sich durch, mit jeweils 3:3 Punkten. Erst im letzten Spiel erfüllten die britischen Profis den Wunsch ihrer Fans, die während der zweiten torlosen Partie sangen: "All we are saying is give us a goal". Gary Lineker vom FC Everton fühlte sich da offenbar besonders angesprochen und fabrizierte in Monterrey den ersten Hattrick dieser WM. Polen verdankte sein Weiterkommen dem 1:0 über Portugal durch ein Tor von Smolarek, dessen Auswechslung schon angezeigt war. Die Elf hatte aber nur noch wenig von dem Team, das 1982 Platz drei erkämpft hatte und schoss in Mexiko nur ein Tor. Das reichte für das Achtelfinale.

Magath spielt Schach

Die deutsche Mannschaft bestritt als Gruppenkopf alle Spiele in Queretaro und hatte 40 Kilometer südlich davon in San Juan Galindo Quartier bezogen. "La Mansion Galindo" diente der Legende nach schon dem Eroberer Hernando Cortez im 16. Jahrhundert als Domizil, erwies sich aber als hochmodernes Quartier inmitten einer Steinwüste. Die Spieler bewohnten zu zweit 40 Quadratmeter große Zimmer, fünf "Schnarcher" wie Briegel oder Thon bekamen Einzelzimmer.

Dort beschäftigten sie sich individuell, gleich drei spielten Schach: Rummenigge und Matthäus gegeneinander, Magath gegen einen Schachcomputer. Wer es sportlicher liebte, hatte Gelegenheit dazu auf sechs Tennisplätzen, die einen riesigen Swimming Pool umsäumten. Es hätte ein Paradies sein können, aber die Tage im La Mansion Galindo verliefen keineswegs ungetrübt. Der schlechte Fernsehempfang und die Telefonkosten (70 DM pro Minute) waren da noch die kleinsten Probleme.

Im Team führten die Protagonisten Schumacher und Rummenigge einen Machtkampf. Der Inter-Stürmer hielt sich nach zwei Muskelfaserissen wieder für einsatzfähig, aber Beckenbauer setzte auf den Kölner Klaus Allofs, und Rummenigge meinte das Schumacher zu verdanken, der in seiner Abwesenheit Kapitän war. "Der Toni macht Stimmung gegen mich", sagte Rummenigge. In der Aussprache beharrte er darauf, ein Wort gab das andere und Schumacher sprang auf. Er wollte sogar abreisen. Wütend rannte er auf sein Zimmer und stemmte Hanteln. Magath kam hinein, dann Völler und schließlich Beckenbauer, alle wollten sie ihn an den Verhandlungstisch zurückholen. In seinem Buch schreibt Schumacher: "Eine halbe Stunde predigte Franz an mir vorbei in die Wüste. Ich schwieg verbissen – die Hanteln hoch, die Hanteln runter, in der stillen Sehnsucht, sie ihm ins Kreuz zu schmeißen." Beckenbauer platzte irgendwann der Kragen: "Wenn Du nicht sofort mit deinen Scheißhanteln aufhörst, dann schmeiße ich die Dinger aus dem Fenster!". Tonis Reposte: "Die Dinger kannst Du gar nicht heben." Beide lachten.

Ein Scherz entspannte die Atmosphäre, und vor dem dritten Spiel gegen Dänemark gab DFB-Delegationschef Egidius Braun eine Erklärung ab: "Karl-Heinz Rummenigge hat im Beisein von Franz Beckenbauer, Horst Köppel, Berti Vogts, Klaus Allofs, Pierre Littbarski und mir mit Toni Schumacher diskutiert. Rummenigge hat sich überzeugen lassen, dass die Vorwürfe, die er gegenüber Schumacher erhoben hat, nicht stimmen. Damit sind die Differenzen ausgeräumt."

Zunächst ging es gegen Uruguay, das froh war, dass sein Trainer Omar Borras noch lebte. Beim Training war eine Hochspannungsleitung eingestürzt, und die Kabel fielen zischend vor seine Füße. Die Startformation gab endlich Antworten auf die offenen Fragen: Klaus Augenthaler als Abwehrchef, Norbert Eder und Andy Brehme im defensiven Mittelfeld und im Sturm das Duo Völler/Allofs. Diese Elf erlitt gleich einen klassischen Fehlstart, denn Lothar Matthäus spielte in der fünften Minute einen Fehlpass von der Mittellinie, für den sich Alzamendi bedankte. 1:0 für Uruguay hieß es auch noch fünf Minuten vor Schluss, ehe Klaus Allofs der erlösende Ausgleich zum 1:1-Endstand gelang. Beckenbauer war nach der Hitzeschlacht versöhnlich: "Dieser Hut kann gar nicht groß genug sein, den ich vor meiner Mannschaft ziehen muss!"

Uli Stein nahm in der Pause demonstrativ ein Sonnenbad vor der Bank, er konnte sich mit der Zuschauerrolle nur sehr schwer abfinden. Vorboten neuen Ärgers. Gegen Schottland schaffte die Mannschaft den ersten Sieg (2:1), wieder musste sie ein früher Rückstand ermuntern. Aber auf die Stürmer war Verlass: Rudi Völler und Klaus Allofs trafen.

Im letzten Gruppenspiel gegen Dänemark setzte es prompt die erste Niederlage, auch wenn Beckenbauer vom "vielleicht besten WM-Spiel überhaupt" sprach. Nach dem verdienten 2:0 für die Dänen meinte deren Trainer Sepp Piontek über sein Heimatland: "Wenn das alles ist, was der deutsche Fußball zu bieten hat…"

Beckenbauer hatte experimentiert, in Ditmar Jakobs einen neuen Abwehrchef aufgeboten und auch Matthias Herget und Wolfgang Rolff erstmals eine Chance gegeben. Das kostete den Gruppensieg, und nun ging es laut Bild-Zeitung "zur Strafe in die Hölle". Die lag in Monterrey, dem niedrigsten Spielort dieser WM mit der höchsten Luftfeuchtigkeit (80 Prozent). Und der Gegner war Marokko, nur auf dem Papier der leichteste unter den Gruppensiegern. Die Dänen bekamen es nun mit Spanien zu tun und sollten das bitter bedauern. Auch Uruguay rettete sich ins Achtelfinale und heimste beim 0:0 gegen die unglücklichen Schotten einen traurigen WM-Rekord ein: Batista flog schon nach 50 Sekunden wegen Foulspiels vom Platz. Die Schotten fuhren zum vierten Mal in Folge nach der Vorrunde heim, diesmal ohne Tragik. Sie hatten es einfach nicht verdient und erbeuteten nur einen Punkt und ein Tor.

13 Europa-Vertreter

Europa hatte dennoch zehn seiner 13 Vertreter ins Achtelfinale gebracht. Ab jetzt gab es nur noch Sieger und Verlierer, und von dieser Brisanz waren die folgenden Spiele geprägt. Die Rückkehr zum alten Modus bewährte sich: 26 Tore fielen in den acht Begegnungen, und so manche Prognose war das Papier schon nicht mehr wert, auf dem sie geschrieben worden war.

Im fantastischen Spiel - vielleicht sogar dem besten der ganzen WM - warfen die zuvor eher biederen Belgier den Geheimfavoriten UdSSR aus dem Rennen, nach Verlängerung hieß es in Leon 4:3. Hinterher erklärte man sich die Sensation des Achtelfinales damit, dass die Russen während ihrer zehntägigen Spielpause aus dem Rhythmus gekommen seien, während die Belgier nach nur drei Tagen Pause quasi noch gar nicht abgekühlt waren. Sie hatten sogar die Kraft, in der Verlängerung, die nach einem 2:2 nötig geworden war, auf 4:2 davonzuziehen. Igor Belanov war der tragische Held beim Verlierer, seine drei Tore nutzten nichts.

Noch unglaublicher war der Spielverlauf in Queretaro, wo Dänemark auf Spanien traf. Die Dänen waren die Attraktion der Vorrunde und hatten im Ex-Kölner Preben Eljkaer-Larsen einen Mann, der zum WM-Star taugte: Er erzielte vier Tore. Aber gegen Spanien erlebten sie ein Fiasko. Trotz Führung gingen sie 1:5 unter, während auf der anderen Seite ein Stern aufging: Emil Butragueno, genannt "der Geier", machte das Spiel seines Lebens und erzielte vier Tore für die entfesselten Spanier. Piontek nahm es sportlich: "So sind wir Dänen eben. Bei uns muss man mit allem rechnen, wir sind eben nicht tierisch ernst."

Programmgemäß verlief dagegen der Auftritt Brasiliens, das Polen mit 4:0 wegfegte. Die Polen verbuchten zwar vor der Pause zwei Lattentreffer, aber nach dem 1:0 durch Socrates' Elfmeter brachen sie regelrecht ein. Zico kam erst, als alles gelaufen war, holte aber noch einen Elfmeter heraus - und Guadalajara sah eine Party in Blau und Gelb.

Wie viel mühsamer war dagegen Argentiniens Sprung ins Viertelfinale, gegen den alten Rivalen Uruguay sprang nur ein 1:0 heraus. Das Aus der Uruguayer, die für ihr Verhalten (zwei Platzverweise in der Vorrunde) 25.000 Schweizer Franken zahlen mussten, wurde allgemein kaum bedauert.

In Mexiko City wurde derweil der Weltmeister beerdigt. Italien unterlag Frankreich, besser Platini, mit 0:2. Ausgerechnet der in Turin spielende Franzosen-Kapitän erzielte das erste Tor und bot eine grandiose Leistung, Stopyra besiegelte Italiens Aus. Seit 1962 war jeder Titelverteidiger vor dem Finale ausgeschieden, nun wieder. Weltmeister-Trainer Enzo Bearzot quittierte die erste Niederlage gegen Frankreich nach 66 Jahren so: "Ein schwarzer Tag für den italienischen Fußball." Nur fünf Weltmeister von 1982 waren übrig geblieben, Paolo Rossi saß verletzt auf der Tribüne. Experten hatten wenig Mitleid mit der "Altherrenriege" (Bobby Charlton) in Azurblau.

Deutschland rutscht ins Viertelfinale

Die Deutschen waren am 17. Juni auch nicht jünger, gegen Marokko lief erstmals Kapitän Rummenigge von Beginn an auf, und somit standen nun sechs Spieler in der Elf, die den 30. Geburtstag schon hinter sich hatten. In der Hitzeschlacht von Monterrey, einer Stadt, die drei Monate keinen Regentropfen gesehen hatte, rettete den Vize-Weltmeister schließlich ein Jungenstreich: Lothar Matthäus, damals 25, schnappte sich in der 88. Minute den Ball zum Freistoß und schoss aus 30 Metern ins Tor. Die Heimat atmete auf, die Verlängerung blieb den Deutschen erspart. Als der Ball hinter dem armen Zaki Badou einschlug, war es in Deutschland 1.45 Uhr.

Held Matthäus lieferte zwei Versionen von seinem Tor. Vor den Kameras wollte er "eine schmale Lücke gesehen haben", seiner Frau Sylvia aber gestand er: "Eigentlich wollte ich den Ball ja über die Mauer heben, aber ich bin ausgerutscht." So also rutschte Deutschland ins Viertelfinale, und dort wartete der Gastgeber. "Um am Samstag an gleicher Stelle gegen die Mannschaft des Veranstalterlandes Mexiko bestehen zu können, bedarf es allerdings einer ganz anderen Leistung", mahnte der Kicker.

Die Gastgeber hatten Bulgarien, das auch im 16. Versuch daran scheiterte, ein WM-Spiel zu gewinnen, 2:0 geschlagen. Negrete hatte mit einem artistischen Seitfallzieher das – bis dahin – schönste Tor der WM erzielt und die Literaten unter den Journalisten animiert: "Oh, du dicker Vater, Mexiko! Negretes Tor war ein Kunstwerk", schrieb die Zeitung Esto. "Mexiko – ein Land im Delirium" stellte Corriere dello Sport fest, denn nach jedem Erfolg der Elf von Bora Milutinovic wurde ausgelassen gefeiert - und auf den Rängen brandete „La Ola“ auf. Es heißt, die Mexikaner hätten die Welle erfunden, jedenfalls hatten es die Gäste aus aller Welt noch nie gesehen. Der Kicker sprach vom „Markenzeichen mexikanischer Begeisterung“. Begeisterung machte sich allmählich auch bei den Engländern breit, die erneut 3:0 gewannen – diesmal gegen Paraguay –, und Lineker stockte sein Tore-Konto auf fünf auf.

Die Probleme im deutschen Lager waren noch immer nicht ausgestanden. Am 21. Juni musste Beckenbauer den überehrgeizigen Uli Stein nach Hause schicken, dem einige despektierliche Äußerungen über den Teamchef zum Verhängnis geworden waren. Dass er mit drei weiteren Spielern den Zapfenstreich um drei Stunden überzogen hatte, was angeblich auch an einem Taxifahrer lag, machte das Maß voll. Schon gegen Marokko hatte Stein auf der Tribüne gesessen, da er Beckenbauer gesagt hatte: "Ich kann mich mit meiner Rolle als Nummer zwei nicht abfinden, ich bin keine Nummer zwei." Rivale Schumacher bezeichnete Steins Abreise als "Erleichterung".

Noch 20 Spieler ab dem Viertelfinale

Zuvor war bereits der verletzte Olaf Thon abgereist - somit verblieben noch 20 Mann für das Unternehmen Titelgewinn. Und wieder wählte Beckenbauer gegen Mexiko eine neue Aufstellung: Andy Brehme kehrte zurück und verstärkte die Defensive. Da Völler verletzt ausfiel und man Mexiko offensiv erwartete, spielten nur zwei Stürmer. Wieder saß die Nation ab Mitternacht vor dem Fernseher und hoffte auf einen Sieg - zu Recht. Nach 120 Minuten in der Hitze von Monterrey, es wurden 36 Grad gemessen, retteten sich zehn Deutsche nach Bertholds Platzverweis (65. Minute) ins Elfmeterschießen. Hier wurde Schumacher zum Helden der Nation und erfüllte Völlers Prophezeiung ("Du hältst zwei Dinger, sonst fresse ich meine Schuhe"). Die Deutschen verwandelten alle Elfmeter, und Schumachers Zimmerpartner Pierre Littbarski schoss Mexiko aus seinem eigenen Turnier - woraufhin Beckenbauer in der Kabine Champagner servierte.

Ausgerechnet der auf den WM-Titel fixierte Schumacher hatte Mitleid: "Ich konnte mich nicht überschwänglich freuen. Ich wusste, wie wichtig ein mexikanischer Sieg für das Publikum gewesen wäre. Im Kopf hatte ich noch die Bilder von der unvorstellbaren Armut, draußen vor dem Stadion. Fußball gleich Hoffnung. Ein Ersatzerlebnis. Das alles hatten wir den Leuten nun genommen." Gegen die Armut tat der DFB an Ort und Stelle etwas: Egidius Braun gründete in Queretaro die Mexiko-Hilfe zugunsten von Straßenkindern und Waisen, und Rudi Völler zahlte spontan 5000 D-Mark ein. Noch heute hilft die DFB-Stiftung Egidius Braun regelmäßig im mittelamerikanischen Land.

Für ihr Spiel bekamen die Deutschen weniger Beifall. "Nur wenn Beckenbauer neue Wege beschreitet, er sich endlich zu mehr Mut überwindet, kann die Nationalmannschaft zu der Leistungssteigerung finden, die alle herbeisehnen", analysierte der Kicker das nervenaufreibende Geschehen von Monterrey. Immerhin hatte die Mannschaft aber seit über drei Stunden kein Tor mehr kassiert und sich um Jakobs und Förster eine Abwehr gefunden, gegen die den Gegnern wenig einfiel. Bertholds Platzverweis sprengte den Verbund nun, und so war man im Halbfinale wieder zu Änderungen gezwungen. Dort kam es zur Wiederauflage von Sevilla 1982, denn die Franzosen hatten sich in einem tollen Spiel ebenfalls im Elfmeterschießen gegen Brasilien durchgesetzt.

Die FIFA schrieb in ihrem Abschlussbericht: "Dieses Spiel hat wahrlich keinen Verlierer verdient – beide Mannschaften zeigten einen hochklassigen Fußball." Michel Platini hatte an seinem 31. Geburtstag Carecas Führung ausgeglichen, und auch nach 120 Minuten stand es 1:1, weil Zico drei Minuten nach seiner Einwechslung einen Elfmeter verschoss. Das wiederfuhr im grausamen Nachspiel vom Kreidepunkt noch zwei weiteren Brasilianern, so dass Platinis Fehlschuss folgenlos blieb.

12.000 Brasilianer in Guadalajara fielen in Depression, und wieder wurde aus Rio de Janeiro berichtet, dass Menschen auf offener Straße Weinkrämpfe erlitten hätten. Neben Tele Santana trat auch Zico frustriert zurück: "Das war das Ende einer Ära, eine Spielergeneration tritt ab." Eine, die so viel versprochen und doch nichts gewonnen hatte. Die FIFA schrieb in ihrem offiziellen Abschlussbericht: "Die Liebhaber von Dynamik, Spiel und Spaß bedauerten das Ausscheiden." Frankreich aber war über Nacht zum WM-Favoriten geworden, und "France Football“ rief euphorisch die „französische Revolution" nun auch auf dem Fußballplatz aus.

Maradonas Solo-Traumtor

Im anderen Halbfinale traf Argentinien auf Belgien. Auch deren Siege hatten für Gesprächsstoff gesorgt, über ein Tor sprechen die Menschen noch heute. Im brisanten Duell der einstigen Kriegsgegner Argentinien und England schlug der Star dieser WM, Diego Maradona, die Fairness mit Fäusten. Einen Querschläger vor dem englischen Tor boxte er mit der Hand vor Peter Shilton ins Tor, da er mit dem Kopf nicht mehr ran kam. Sein schlitzohriges Geständnis ist heute Legende: "Es war die Hand Gottes und der Kopf Maradonas!".

Doch nur die Engländer konnten ihm an diesem Tag böse sein, den Rest der Welt versöhnte er schon drei Minuten mit einem Sololauf über 40 Meter, der zum Tor des Jahrhunderts gewählt wurde. Die geschockten Engländer kamen durch Gary Lineker nur noch auf 1:2 heran, womit sie immerhin den Torschützenkönig dieser WM stellen sollten.

Der König der WM aber trug ein blaues Trikot. France Football analysierte treffend: "Mit gerade einmal 25 Jahren ist Maradona auf dem Gipfel seines Könnens angekommen und trägt eine argentinische Mannschaft, die weder gut noch schlecht ist." Wieder hatte das Azteken-Stadion ein Spiel gesehen, über das man noch Jahrzehnte sprechen würde.

Das letzte Viertelfinale zwischen Belgien und Spanien konnte da nicht ganz mithalten, aber auch Puebla sah ein Drama, das mit 1:1 in die Verlängerung und dann ins Elfmeterschießen ging. Das entschied der cleverere Torwart: Bayern Münchens Jean Marie Pfaff zog dich dreimal die Stutzen hoch und band sich zweimal die Schuhe, ehe Eloy anlaufen durfte – Pfaff hielt, und Belgien stand kurz danach erstmals in einem WM-Halbfinale.

Traum der "Roten Teufel" endet im Halbfinale

Dort aber war der Traum der "Roten Teufel" zu Ende, auch sie mussten die Überlegenheit Maradonas anerkennen. Argentiniens Superstar erzielte beide Tore des Tages und erwarb sich damit schon vor dem Finale eine Gedenktafel im Aztekenstadion. Dort waren seit 1970 auch die Deutschen für ihr Jahrhundert-Spiel gegen Italien verewigt worden. 1986 hatte man noch kein Spiel für die Ewigkeit von der DFB-Auswahl gesehen, und vor der Revanche mit Frankreich waren sie Außenseiter. "Wir sind besser als 1982, die Deutschen aber sind schwächer als damals. Man braucht sich nur ihre Spiele hier in Mexiko anzusehen, dann weiß man Bescheid", tönte Frankreichs Luis Fernandez, der nicht zu den Sieben gehörte, die schon das Drama von Sevilla erlebt hatten.

Wieder einmal aber sollte es anders kommen. Beckenbauer hatte an diesem 25. Juni nur eine Veränderung vorgenommen: Wolfgang Rolff kam allein mit dem Auftrag, Michel Platini zu neutralisieren, für Rot-Sünder Berthold hinein. Und doch spielte eine ganz andere Mannschaft, 24 Millionen ARD-Zuschauer waren begeistert. Plötzlich kombinierten sie, waren mutig und strahlten in jeder Phase aus, dass sie ins Finale wollten. Erstmals gingen sie bei dieser WM vor der Pause in Führung. Franzosen-Torwart Joel Bats war dabei behilflich gewesen und ließ Brehmes Freistoß in die kurze Ecke durchrutschen. Achtzig Minuten verteidigte die deutsche Elf den Vorsprung, dann schloss Joker Rudi Völler einen Konter zum erlösenden 2:0 ab. Es war der verdiente Lohn für das bisher beste Spiel in Mexiko, und wieder mal hatte die deutsche Elf an der Legende von der Turniermannschaft gestrickt: zäh, unbequem, diszipliniert, steigerungsfähig und bis zum Schluss dabei.

Der kicker lobte: "Endlich Mut und Angriffselan. Endlich kam zum kämpferischen Engagement auch da spielerische Element." Deutschlands Traum war wahr geworden, zum fünften Mal hatten sie das Endspiel erreicht – mit einer Mannschaft, der man noch immer keine Lorbeerkränze wand. "Man kann nicht gerade behaupten, dass Deutschland ein gutes Team hat. Aber wir haben nach dem 0:1 unseren kühlen Kopf verloren", sagte Platini und trat enttäuscht zurück.

Heimat voller Optimismus

Im deutschen Lager fand eine spontane Siegesfete statt. Etliche Spieler maskierten sich mit Sombreros, eine Mariachi-Kapelle spielte auf und Briegel sang ein deutsches Volkslied mit leicht modifiziertem Text: "Aber eins, aber eins, das ist gewiss, auch Argentinien hat vor Deutschland Schiss!" Und die Heimat war voller Optimismus. Bundeskanzler Helmut Kohl gratulierte telegrafisch und bestieg die Regierungsmaschine nach Mexiko City. Vor dem Finale erschien Kohl im Speisesaal und verteilte an die Spieler 20 silberne Brieföffner „für die viele Fan-Post, die Sie in der Heimat erwartet".

Am Tag davor gewannen die Franzosen im Gegensatz zu 1982 das kleine Finale, schlugen Belgien mit 4:2 und machten sich doch ebenso wie ihr Gegner für die Abschaffung des Spiels um Platz drei stark. "Das Spiel ist überflüssig wie ein Kropf, da treffen zwei desillusionierte Mannschaften aufeinander", sagte Belgien-Trainer Guy Thys.

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Wie anders war dagegen die Erwartungshaltung am 29. Juni in Mexiko City, wo 117.000 Zuschauer den neuen Weltmeister sehen wollen. Die Mehrheit war für Argentinien, dessen Fans den weit kürzeren Anreiseweg hatten. Das Duell begann um zwölf Uhr Ortszeit, "high noon" im Azteken-Stadion. Franz Beckenbauer hatte mit Lothar Matthäus seinen "besten Mann" auf Maradona angesetzt, ganz so wie einst Helmut Schön Beckenbauer 1966 auf Bobby Charlton. Damals ohne Erfolg. Und diesmal?

Nun, es lag weniger an Maradona, der weitgehend ausgeschaltet wurde, dass Argentinien zum zweiten Mal Weltmeister wurde. Vor dem Spiel hatte er noch laut in der Kabine nach seiner Mutter gerufen: "Tota, hilf mir, ich habe Angst!" In der 19. Minute nahm das Unheil seinen Lauf, als Toni Schumacher an einem Freistoß vorbeifaustete und Brown zum 1:0 einköpfte. "Es war doch mein Finale, ich wollte endlich mal an den Ball", hat der Torwart später zugegeben, Opfer seines Ehrgeizes geworden zu sein.

Dabei blieb es bis zur Pause ein Finales, das einige Wünsche offen ließ. Nach 56 Minuten schien es entschieden, als Jorge Valdano frei vor Schumacher auf 2:0 erhöhte. Dann kam die 74. Minute, als Andy Brehme die Ecke trat. Der Ball landete über Berthold bei Rummenigge, der endlich sein erstes Tor in Mexiko schoss. Nun kippte das Spiel, das Stadion brodelte und die Deutschen wiederholten ihr Erfolgsrezept: Wieder eine Brehme-Ecke, Eder köpfte in die Mitte zum eingewechselten Rudi Völler – 2:2. Die Stadion-Uhr zeigte 36:29 Minuten an in der zweiten Halbzeit. Noch siebeneinhalb Minuten Zeit bis zur Verlängerung – wie leicht hätten die Deutschen sie erreichen können.

Aber sie wollten die Entscheidung, sofort. Weit rückten sie auf, nur einer nicht: Hans-Peter Briegel. Da zerschmetterte ein Geistesblitz von Diego Maradona alle Hoffnungen. Der Kapitän schickte Burruchaga auf die Reise, Briegel hob das Abseits auf, und zwei Argentinier rannten auf Schumacher zu. "Toni, halt den Ball" rief ZDF-Reporter Rolf Kramer noch flehentlich, aber es war nicht Schumachers Tag – 2:3, das Aus! "Zu lange gejubelt haben wir, in der Euphorie des Ausgleichs keinen kühlen Kopf bewahrt. Wir fühlten uns dem 3:2 näher als die Argentinier, das war der verhängnisvolle Fehler", jammerte Rummenigge.

Aber niemand bezweifelte, dass Argentinien verdienter Weltmeister geworden war in Mexiko, wo der Stern Diego Maradonas heller denn je leuchtete. Er überstrahlte eine WM, die wie 1970 ab dem Achtelfinale einige unvergessliche Spiele erlebte – und dennoch trotz überragender Angreifer (sie erzielten 60 Prozent aller Tore) auch den niedrigsten Torschnitt überhaupt (2,54). Die Stadien waren nicht so voll wie gewünscht (42.600 im Schnitt), aber die FIFA machte einen Riesengewinn von über 71 Millionen Schweizer Franken. Und vor den Fernseh-Geräten saßen insgesamt 13,5 Milliarden Zuschauer – also ein Vielfaches der Weltbevölkerung. In Mexiko wurde der Fußball endgültig zur Weltmacht.

Die deutsche Mannschaft war wieder auf dem Weg dahin. Sie wurde auf dem Frankfurter Römer euphorisch empfangen, und Franz Beckenbauer sagte: "Diesen Vizetitel schätze ich höher ein als den Weltmeistertitel 1974 im eigenen Land." Es sollte noch einer hinzukommen.